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# taz.de -- Verkehrswende in Deutschland: Reduce, shift, improve
> Der Verkehrssektor braucht einen Systemwechsel. Die Vergesellschaftung
> der Sozial-und Umweltschäden produzierenden Autoindustrie wäre ein
> Anfang.
Bild: Grün, aber trotzdem von gestern: Rennauto auf dem Nürburgring
Im Jahr 2010 veröffentlichte die [1][Internationale
Transportarbeiter*innen-Förderation] (ITF) ein bemerkenswertes Dokument zu
[2][nachhaltiger Mobilität]. Dessen Kernbotschaft lautete reduce, shift,
improve: unnötige Personen- und Gütertransporte vermeiden, Verkehr auf
umweltfreundliche Transportmittel verlagern, alle Möglichkeiten zur
Reduzierung von CO2-Emissionen ausschöpfen.
Bemerkenswert war das Dokument zum einen wegen dieser Botschaft. In einer
Zeit, in der der deutsche Staat den Wachstumsmotor anzuwerfen versuchte,
indem er die Verschrottung von Alt- und den Kauf von Neuwagen mit einer so
genannten Umweltprämie unterstützte, setzte die ITF auf Reduktion des
Verkehrsaufkommens.
Zum anderen war es der Urheber, der das Dokument so bemerkenswert machte.
Die ITF vereinigt nationale Gewerkschaften des Transport- und
Verkehrssektors, darunter ver.di und die EVG aus Deutschland. Es handelt
sich also um eine Lohnabhängigen-Vertretung, von der man annehmen könnte,
dass sie einen wachsenden Transportsektor befürwortet. Stattdessen wartete
die ITF mit einer kritischen Analyse des globalisierten Kapitalismus und
der sozial-ökologischen Probleme des Güter- und Personentransports auf.
Kapitalistische Unternehmen, so das Argument, stehen unter dem Druck, ihre
Kosten zu minimieren. Dieser Druck ist umso höher, je kompetitiver das
Umfeld ist, in dem sie sich bewegen. Die Globalisierung steigert den Druck.
Gleichzeitig verschafft sie den Unternehmen ein Ventil in Gestalt von
Produktionsverlagerungen. Wird dieses genutzt, dann erhöht sich das
Transportaufkommen und die Verkehrsemissionen steigen. Zudem nimmt zwar die
Zahl der Transportbeschäftigten zu, deren Arbeitsbedingungen aber
verschlechtern sich: Die Schiffsbesatzungen, die Lkw-Fahrer*innen oder die
Hafenarbeiter*innen profitieren am wenigsten von den angeblichen
Segnungen des globalen Kapitalismus. Im Gegenteil, der Konkurrenzkampf wird
auf ihrem Rücken ausgetragen.
Die ökologische und die soziale Frage hängen folglich eng miteinander
zusammen. Beide haben ihre Ursache in einer Produktionsweise, die sich
nicht an der Befriedigung von Bedürfnissen, sondern an der Maximierung von
Gewinnen orientiert und systematisch sozial-ökologische Kosten produziert.
Daran ändert auch eine ökologische Modernisierung des Transportsektors
nichts: Mehr Elektroautos (improve) und auch die so wichtige Verlagerung
von Transporten von der Straße auf die [3][Schiene] (shift) reichen solange
nicht aus, wie sie nicht in eine übergreifende Strategie der
Verkehrsreduktion (reduce) eingebettet sind. Ohne letztere würden die
ökologischen Wirkungen ersterer durch ein höheres Verkehrsaufkommen
überkompensiert, und gute Arbeitsbedingungen fielen Konkurrenzzwängen zum
Opfer.
Mit dem der kapitalistischen Ökonomie innewohnenden Wachstumsimperativ ist
eine verkehrspolitische reduce-Strategie gleichwohl kaum vereinbar.
Notwendig ist vielmehr ein Systemwechsel. Allerdings scheitert dieser
bislang sowohl an den gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen als auch an
den Alltagspraktiken, die ein nicht-nachhaltiges Mobilitätsmuster
normalisieren.
Neben dem Flug- und Schiffsverkehr stellt vor allem die Automobilität eine
große Herausforderung dar. Obwohl alles dafür spricht, dass sie als
vorherrschende Form der Fortbewegung keine Zukunft mehr hat, wird genau
daran gearbeitet: sie mittels Elektrifizierung vor dem sicheren Ende zu
bewahren.
Aber die Risse im automobilen Konsens werden tiefer. Vielerorts formieren
sich Initiativen, die für autofreie Innenstädte streiten, sich für die
Rechte von Radfahrer*innen und Fußgänger*innen einsetzen und für
eine bessere Infrastrukturausstattung ländlicher Räume kämpfen.
Beschäftigte der Autoindustrie fragen sich, ob sie ihre Kompetenzen nicht
besser für gesellschaftlich sinnvolle Produkte und Dienstleistungen
verwenden sollten.
Sie alle würden davon profitieren, wenn sich Akteure wie die Gewerkschaften
auf ihre Seite schlügen. Die ITF hat dafür schon vor elf Jahren wichtige
Argumente und Orientierungen geliefert. In Deutschland hat ver.di im
vergangenen Herbst zusammen mit Fridays for Future für bessere
Arbeitsbedingungen und einen Ausbau des ÖPNV gekämpft. Die IG Metall könnte
folgen: vor allem, indem sie ihr gesellschaftspolitisches Engagement
zugunsten einer sozial-ökologischen Mobilitätswende intensiviert.
Dazu bedarf es der Bereitschaft, sich mit mächtigen Interessengruppen
anzulegen. Nicht zuletzt wäre die Eigentumsfrage zu stellen: Wer die
Autokonzerne davon abhalten will, weiterhin Profite auf Kosten von Mensch
und Natur zu machen, der muss sie unter demokratische Kontrolle bringen.
So könnte der Rückbau der Autoindustrie jetzt eingeleitet werden und
planvoll vonstatten gehen, statt sich in Zukunft als sozial kaum mehr
aufzufangender Bruch zu vollziehen. Mit Arbeitszeitverkürzungen, dem
Hochfahren der Produktion für ein nachhaltiges Verkehrssystem und dem
Ausbau entsprechender Infrastrukturen würden die beschäftigungspolitischen
Folgen der automobilen Abrüstung mehr als abgefedert.
In ihrer Satzung bekennt sich die IG Metall zur Vergesellschaftung von
Schlüsselindustrien. Auch das Grundgesetz sieht diese Möglichkeit vor: Es
gibt, so heißt es bei Wolfgang Abendroth, keine verfassungsrechtliche
Garantie der kapitalistischen Wirtschaftsweise. Nachdem diese die
Menschheit an den Rand des Abgrunds geführt hat, wird sich auch an der
Gestaltung des Mobilitätssystems erweisen, ob die Kehrtwende gelingt. Die
Autoindustrie ist dabei nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems.
Was liegt also näher, als mit dem Systemwechsel bei ihr zu beginnen, sie zu
vergesellschaften und eine Mobilitätswende zu forcieren, die ihren Namen
verdient?
28 Jun 2021
## LINKS
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[2] /Massnahmen-fuer-Klimaneutralitaet-2045/!5777025
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## AUTOREN
Markus Wissen
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