# taz.de -- Ambient Sounds aus Japan: Draußen entsteht neue Magie | |
> Die coronabedingte Entschleunigung hat zu einer Renaissance von Ambient | |
> Sounds geführt. Besonders beliebt: Environmental Music aus Japan. | |
Bild: Masayoshi Fujita vor einer gelben Wand | |
Corona gibt was auf die Ohren: Die vergangenen 16 Monate in der Pandemie | |
haben nicht zuletzt auch Hörgewohnheiten verändert. Einerseits erweist sich | |
Musik gerade seit 2020 als emotionaler Rettungsanker. Zugleich lernte man | |
dabei, sie eher zweckorientiert zu nutzen: Die passenden BeatsPerMinute für | |
den Outdoor-Sport, Gamelan aus Fernost, wenn das Fernweh allzu wehmütig | |
stimmt, und schließlich etwas Entspannendes zum Runterkommen nach zu viel | |
Zeit vor dem Bildschirm. | |
Dass Musik zunehmend als Bauelement für die Alltagsgestaltung konsumiert | |
wird, war allerdings auch schon vor Corona ein bislang wenig beachteter | |
Nebeneffekt unserer Streaming-Gegenwart – und des Zugriffs auf | |
Klangwelten aus aller Welt, der damit einhergeht. Der sorgte in den letzten | |
Jahren unter anderem auch für ein Revival von Ambient Sound, genauer gesagt | |
den [1][minimalistisch-sphärischen Klangwelten], die in den 1980er Jahren | |
in Japan entstanden sind. | |
An diesem Hype hatte offensichtlich ein Youtube-Algorithmus beträchtlichen | |
Anteil, über den im Netz viel spekuliert wurde – und der Hörer*innen | |
entspannter oder auch experimenteller Musik früher oder später zu obskurem | |
Ambient führte; auf Japanisch heißt dieses Genre kankyō ongaku, was | |
Environmental Music bedeutet. | |
Über dieses eigentümliche Revival eines Sounds, den bis vor kurzem im Rest | |
der Welt kaum jemand kannte, fanden etwa der Pionier [2][Hiroshi Yoshimura] | |
(1940–2003) und seine Zeitgenossen – die, bevor sie sich der Environmental | |
Music zuwendeten, teils in anderen Genres gearbeitet hatten – erstmals | |
international Beachtung. | |
## Ökonomischer Boom | |
Die Künstler*innen hatten Einflüsse von Eric Satie bis Brian Eno | |
aufgesogen, kombinierten sanfte elektronische Melodien mit dem leichten | |
Ploppen von Wassertropfen, dem Rauschen der Bäume und dergleichen. | |
Beruhigende, auch einlullende Klangflächen waren nicht zuletzt die | |
Gegenreaktion auf das rapide Wirtschaftswachstum in Japan und eine nie | |
dagewesene Beschleunigung des Alltags; ironischerweise wurde die Arbeit der | |
Musiker durch den ökonomischen Boom mitfinanziert – nämlich von großen | |
Unternehmen, die häufig wie Mäzene auftraten. Einen Überblick über diese | |
Phase vermittelt die Compilaton „Kankyō Ongaku: Japanese Ambient, | |
Environmental & New Age Music 1980-1990“ (Light in the Attic Records, | |
2019). | |
Ein Sound, den man zumindest hierzulande eher in Yogastudios und Läden für | |
Esoterikbedarf vermutet, wurde in den letzten Jahren so jenseits von | |
New-Age-Zirkeln anschlussfähig – etwa durch das US-Online-Musikmagazin | |
Pitchfork, das gefühlt jede einzelne dieser Wiederveröffentlichungen hypte. | |
Mit Masayoshi Fujitas „Bird Ambience“ und „Flowering Tree, Distant Moon“ | |
von Masahiro Takahashi sind nun zwei Alben erschienen, die diese Tradition | |
auf unterschiedliche Weise weiterführen – und die zudem bestens in den | |
Corona-Alltag passen. Die meist sanften, bei Fujita gelegentlich subtil | |
dissonanten Klänge sind allerdings nicht nur geeignet zum Runterkommen, | |
ihre kompositorische Raffinesse ist reizvoll. | |
„Flowering Tree, Distant Moon“, veröffentlicht beim kalifornischen | |
DIY-Label Not Not Fun, steht eindeutiger in der Tradition von Environmental | |
Music. Allerdings gibt Takahashi seinen elektronischen Klangwelten einen | |
melodiösen Twist, er klingt zugleich unaufdringlich und verspielt. | |
## Melodien sind wichtig | |
Eher ungewöhnlich für sein Genre, betont er: „Das wichtigste Element meiner | |
Kompositionen ist die Melodie“. Und obwohl er sagt, dass er an jeden Song | |
methodisch anders herangeht, klingt das Ergebnis wie aus einem Guss. | |
Takahashi war Teil einer Electronica-Szene in Tokio, die aus der | |
Renaissance von Ambient Sounds der 1980er heraus entstanden war. | |
Bezeichnenderweise hatte er sein auf Kassette veröffentlichtes Debütalbum | |
„Music Of Inside The Snail's Shell“ (2017) für eine Kunstausstellung in | |
Tokio komponiert – also ganz konkret auf ein Environment bezogen. | |
Kurz vor Ausbruch der Pandemie zog er ins kanadische Toronto – eine | |
surreale Erfahrung, wie er im Email-Interview erzählt. Schließlich wurde | |
die fremde Welt, die es kennenzulernen galt, erst einmal heruntergefahren. | |
Trotzdem, so erzählt Takahashi, führte die Erfahrung, in einer | |
multikulturellen Großstadt zu leben, dazu, „meine Herkunft stärker zu | |
reflektieren “. Er habe in den neuen Tracks seine Erinnerungen an und | |
Assoziationen mit Japan untergebracht. | |
Seine Brötchen verdient der 40-Jährige mit Übersetzungen und als | |
Japanischlehrer. Fasziniert sei er, aufgrund des dadurch angefachten | |
Interesses an Sprachen, etwa von den Ideen der in Berlin lebenden | |
Schriftstellerin [3][Yoko Tawada]. Sie schreibt auf Deutsch und Japanisch | |
und beschäftigt sich mit den seltsamen Zwischenräumen zwischen den | |
Sprachen. Ideen, wie Tawada sie dadurch zum Ausdruck bringt, wolle er in | |
Musik fassen, so Takahashi. | |
## Aufs Dach, den Mond angucken | |
Auch wenn der Albumtitel „Flowering Tree, Distant Moon“ Naturassoziationen | |
weckt, sagt er über sich: „Ich lebe vor allem in meinem Kopf – was nicht | |
immer gesund ist. Wenn ich genug davon habe, steige ich aufs Dach und gucke | |
den Mond an.“ Fasziniert hat ihn zudem, wie sich die Natur einfach | |
weiterdreht, auch als das öffentliche Leben zum Stillstand kam. So schaffte | |
es der blühende Baum in den Titel. „Während der Arbeit an dem Album | |
sprossen erst weiße Blüten aus dem nackten Baum, dann wurde er grün. Es | |
schien, als sei die Zeit stehen geblieben; nur die Jahreszeiten | |
wechselten.“ | |
Die Musik klingt bisweilen etwas unentschieden, in ihren stärkeren Momenten | |
aber durchaus wie der Versuch, in fremden Sphären heimisch zu sein. | |
Masayoshi Fujita dagegen bezeichnet die Natur eindeutig als seine | |
Hauptinspiration. Vor 14 Jahren war der heute 42-Jährige nach Berlin | |
gekommen und dort zunächst bei [4][der elektronischen Musik] gelandet. Man | |
kennt ihn auch durch seine langjährige Zusammenarbeit mit dem Produzenten | |
Jan Jelinek. Er ist ebenfalls kurz vor Ausbruch der Pandemie aus Berlin | |
fortgezogen – zurück nach Japan. Nun lebt er in einer ländlichen Gegend auf | |
der westjapanischen Insel Honshū. „Ich habe mir meinem Lebenstraum erfüllt; | |
schon immer wollte ich in der Natur leben und Musik machen“, erzählt er im | |
Skype-Interview. | |
## Das Studio in den Bergen | |
In einem ehemaligen Kindergarten in den Bergen hat er sich ein Studio | |
eingerichtet, jeden Tag fahrt er eine halbe Stunde dorthin; mit seiner | |
Familie lebt er in der Nähe am Meer: „Aber lieber mag ich Seen, den Wald | |
und die Berge.“ Bis zu „Bird Ambience“ hatte er immer auf seinem Vibraphon | |
(und einer wachsenden Zahl anderer Instrumente) komponiert, zuletzt mit der | |
akustischen Trilogie „Stories“ (2013), „Apologues“ (2015) und „Book of | |
Life“ (2018). | |
Damit schuf er sanft-schwelgerischen Ambient, der durch metallischen Klang | |
des Schlaginstruments immer auch etwas leicht Kühles ausstrahlte. Das | |
Vibraphon hatte sich der Autodidakt, der zu Schulzeiten Schlagzeug in | |
Hardrockbands spielte, erschlossen, indem er darauf Stücke des | |
Jazzpianisten Bill Evans nachspielte. | |
Auf „Bird Ambience“ tritt das Vibraphon nun zugunsten der Marimba in den | |
Hintergrund; durch die Holzklangstäbe erreicht Fujita eine wärmere | |
Klangfarbe. Der bisweilen nah am Kitsch entlang schrammende Wohlklang | |
findet sein Gegengewicht in subtilen Störgeräuschen und Broken Beats. In | |
seinen Jahren in Berlin habe er sein Herz für Noise entdeckt, erzählt er. | |
Dass das neue Album wärmer klingt als frühere Werke, ist allerdings nicht | |
der neu gefundenen Nähe zur Natur geschuldet. | |
Die Musik ist noch größtenteils in Berlin entstanden; damals musste er | |
Freunde besuchen, um ein bisschen auf der Marimba zu experimentieren. | |
Mittlerweile hat er in seinem Studio genug Platz für das ausladende | |
Instrument – und viel Raum für Improvisation. | |
Der etwas andere Sound ist dem Umstand geschuldet, dass Fujita neuerdings | |
unter eigenem Namen all das vereint, was er früher in verschiedenen | |
Konstellationen ausgelebt hat: Mit dem elektronischen Dubalias El Fog etwa | |
und in der Kollaboration mit Jelinek. Nun verlässt er sich mehr als früher | |
auf die Improvisation: „Ich suche nach freigeistigen Ausdrucksweisen. Dabei | |
entsteht Musik, die im Ergebnis nicht immer perfekt klingt. Aber dafür | |
steckt mehr Magie drin.“ | |
11 Jun 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Werkschau-Haruomi-Hosono/!5552035 | |
[2] https://www.youtube.com/watch?v=j6n4FpHbqZs | |
[3] /Yoko-Tawada-ueber-ihren-neuen-Roman/!5624970 | |
[4] /Japanische-Popmusik-aus-den-1980ern/!5775750 | |
## AUTOREN | |
Stephanie Grimm | |
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