# taz.de -- Staatsanwalt über Kriegsgefangenschaft: „60 Prozent haben nicht … | |
> Auch in Kriegsgefangenenlagern gab es Massentötungen, sagt Thomas Will. | |
> Seit Kurzem ermittelt die Zentralstelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen. | |
Bild: Täter ermitteln, solange sie leben – auch in Sandbostel bei Bremen gab… | |
taz: Herr Will, Sie ermitteln gegen deutsche Wachleute, die in Lagern für | |
sowjetische Kriegsgefangene eingesetzt waren. Warum erst jetzt? | |
Thomas Will: Wir ermitteln das jetzt, nachdem sich in den vergangenen zehn | |
Jahren die Rechtsprechung entsprechend entwickelt hat. Ausgangspunkt war | |
die Verurteilung von John Demjanjuk 2011 in München, der Wachmann im | |
Vernichtungslager Sobibor gewesen ist. Daraufhin erfolgten neue | |
Ermittlungen zu Angehörigen von Wachmannschaften in Konzentrationslagern | |
mit Verurteilungen von drei ehemaligen Wachleuten. Das erste dieser Urteile | |
hat der Bundesgerichtshof mit einer enorm wichtigen Entscheidung bestätigt. | |
Wir meinen, dass die verheerenden Bedingungen in Konzentrationslagern und | |
manchen Gefangenenlagern vergleichbar sind und die Rechtsprechung damit | |
insoweit übertragbar ist. Da wir mit der Überprüfung von Personal in | |
Konzentrationslagern schon fortgeschritten sind, haben wir uns daher nun | |
auch auf die Kriegsgefangenenlager fokussiert. | |
Gibt es schon konkrete Personen, gegen die Sie Anschuldigungen erheben | |
können? | |
Wir haben in unserer Zentralkartei sehr viele Erkenntnisse über | |
Lagerpersonal. Daraus haben wir die Personen für eine Überprüfung | |
aufbereitet, deren Geburtsjahrgänge darauf hindeuten, dass sie noch leben | |
können. Die Überprüfungen begannen im vorletzten Jahr. Derzeit haben wir | |
sechs Personen ermittelt. | |
Die Zentrale Stelle übernimmt nur die Vorermittlungen. Konnten Sie schon | |
Fälle zur weiteren Bearbeitung an Staatsanwälte abgeben? | |
Ja, wir haben einen Fall vor Kurzem an die zuständige Staatsanwaltschaft | |
übergeben. Das Verfahren gegen einen ehemaligen Wachmann eines Stalags im | |
ehemaligen Wehrkreis VI Münster wurde an die Staatsanwaltschaft Osnabrück | |
abgegeben und im weiteren Verlauf durch die Generalstaatsanwaltschaft Celle | |
übernommen. | |
Sie werfen diesen Personen Beihilfe zum Mord vor? | |
Wenn in einem Konzentrationslager Phasen systematischer Tötungen | |
stattgefunden haben, dann ist das vergleichbar mit einem Vernichtungslager | |
und ist somit Beihilfe zum Mord, wenn eine allgemeine Dienstausübung in | |
solch einem Lager in einer Phase mit systematischen Tötungen in Kenntnis | |
der Umstände stattgefunden hat. In der jüngsten Rechtsprechung wird auch | |
die Tötung durch die Lebensumstände – also mittels extremer | |
Mangelernährung und versagter medizinischer Versorgung – als Teil des | |
Konzepts betrachtet, dass niemand aus diesen Lagern überleben sollte. In | |
den Kriegsgefangenenlagern gab es neben der Aussonderung und Tötung | |
bestimmter Personen aufgrund des sogenannten Kommissarbefehls ebenfalls | |
solche grausamen Tötungen durch die Lebensverhältnisse, also Mord. | |
Gefangene wurden durch schwere und schwerste Arbeit bei einer Ernährung von | |
nur wenigen hundert Kalorien am Tag bis zum Tode ausgepresst. Die höchsten | |
Sterbequoten hatten die sowjetischen Soldaten, die als „Untermenschen“ | |
galten. 60 Prozent haben die Kriegsgefangenschaft nicht überlebt. Wir | |
müssen allerdings in jedem Lager und bei jeder einzelnen beschuldigten | |
Person untersuchen, ob es dort tatsächlich solche Phasen gegeben hat. | |
Sie müssen also nachweisen, dass Verdächtige tatsächlich zum Zeitpunkt, als | |
in einem solchen Lager massenhaft gestorben wurde, dort anwesend waren? | |
Wir haben bei der Vorauswahl der Untersuchung noch nicht nach Lagern | |
unterschieden. Zunächst haben wir aus der Gesamtheit aller Lager Personen | |
gesucht, die vermutlich noch am Leben sind. Solche haben wir ermittelt und | |
in jedem Einzelfall Feststellungen zum konkreten Lager, zur Zeit des | |
Einsatzes dort und zum Geschehen in diesem Zeitraum getroffen. Haben sich | |
solche Phasen des systematisch herbeigeführten Massensterbens ereignet? Es | |
kann durchaus passieren, dass wir das in einzelnen Fällen aus tatsächlichen | |
oder aus Beweisgründen nicht nachweisen können. Wichtig ist auch, dass der | |
Betroffene erkennen konnte, was sich im Lager ereignete. Wir haben etwa 200 | |
verschiedene Lager in unserem Bestand dokumentiert und sind deshalb auch | |
auf sachverständige Unterstützung angewiesen, die wir uns verschaffen. | |
Waren die Personen, gegen die Sie jetzt ermitteln, Angehörige der | |
Wehrmacht? | |
Ja. Das waren typischerweise nicht Angehörige von kämpfenden Truppen, | |
sondern oft etwas ältere Soldaten – Männer, die nicht fronttauglich waren. | |
Viele der dort Eingesetzten sind deshalb auch schon lange verstorben. | |
Der Kreis der Beschuldigten ist heute in der Regel über 95 Jahre alt. Ist | |
das nicht ein bisschen spät, jetzt mit den Ermittlungen zu beginnen? | |
Wir erledigen unsere Arbeit, solange es noch Verfolgungsaufgaben gibt. Die | |
Verfolgung von Mord ist gesetzlich zwingend vorgeschrieben. Ich wünschte | |
mir natürlich auch, dass einige dieser Verfahren schon früher geführt | |
worden wären. | |
20 Jun 2021 | |
## AUTOREN | |
Klaus Hillenbrand | |
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