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# taz.de -- Renaissance des Staates: Der neue Charme der Planwirtschaft
> Der Markt ist schön bunt, bietet aber leider für wesentliche Bedürfnisse
> keine Lösungen. Megakonzerne wie Walmart oder Amazon wissen das längst.
Bild: Wenn es genug Daten gibt, klappt es mit dem Plan: Regale im Amazon Logist…
Von US-Präsident Ronald Reagan stammt ein Satz, der das neoliberale Dogma
bestens zusammenfasst: „In der englischen Sprache sind die furchtbarsten
neun Wörter ‚Ich bin von der Regierung und will Ihnen helfen‘.“ Der Markt
gilt als Hort der Freiheit und der Leistung, während der Staat angeblich
nur stört.
Doch diese Sicht ist falsch, [1][wie zuletzt die Coronakrise zeigte.] Als
die Pandemie im März 2020 Europa erreichte, wurden die Börsianer panisch:
Der deutsche Aktienindex DAX brach um 40 Prozent ein – und wäre weiter in
die Tiefe gerauscht, wenn nicht die Bundesregierung eingegriffen und
Milliarden Euro in die Wirtschaft gepumpt hätte. Ohne den Staat hätte es
keinen „Markt“ mehr gegeben.
Auch die Klimakrise ist nur zu überstehen, wenn der Staat plant. Denn der
Ökostrom wird nicht von selbst fließen. Photovoltaik, Windräder, neue
Stromnetze, Ladesäulen, Batteriespeicher, grünen Wasserstoff, weitere
Bahnstrecken, zusätzlichen Nahverkehr, Wärmepumpen und Massen von E-Autos
wird es nur geben, wenn der Staat lenkt, forscht, finanziert und
subventioniert. Der Klimaschutz ist eine Planungsorgie. Also taucht eine
Diskussion wieder auf, die schon entsorgt schien, nachdem der sowjetische
Sozialismus so spektakulär zusammengebrochen war: Wozu braucht man den
„Markt“ überhaupt? Würde es nicht besser laufen, wenn der Staat die
Wirtschaft allein steuert?
## Vorbild Reichspost
Die kanadischen Sozialisten Leigh Phillips und Michal Rozworski haben
nämlich eine Art marxistische Dialektik im Kapitalismus ausgemacht:
[2][Ausgerechnet privatwirtschaftliche Mega-Konzerne wie Walmart] oder
Amazon sind intern knallharte Planwirtschaften. Dieses Wissen könnte sich
der Staat doch zunutze machen.
Nun ist es nicht neu, dass Unternehmen intern planen. Wie sich bei Timo
Daum und Sabine Nuss nachlesen lässt, war schon Lenin begeistert, wie
perfekt die deutsche Reichspost funktionierte, und wollte sie zum Modell
seiner sowjetischen Planwirtschaft erheben. 1917 schrieb er: „Unser
nächstes Ziel ist, die gesamte Volkswirtschaft nach dem Vorbild der Post zu
organisieren.“
Dieses Vorhaben ist bekanntlich gescheitert. Die Sowjetunion war zwar eine
Planwirtschaft – aber nicht effizient. Ein Grund war, dass die nötigen
Daten fehlten. Die Sowjets produzierten 12 Millionen Artikel in etwa 50.000
Fabriken, und ständig kam es zu Stockungen, weil irgendwo Rohstoffe,
Ersatzteile oder Zwischenprodukte fehlten.
Doch dieses Datenproblem sei jetzt behoben, glauben Phillips und Rozworski.
Denn Amazon und Walmart sind nicht nur gigantische interne Planwirtschaften
– sie sind auch komplett digitalisiert. Die Konzerne können in Echtzeit
verfolgen, wo sich jede einzelne Ware befindet. Zudem steuern die
Algorithmen nicht nur die eigene Firma, sondern auch Lieferanten und
Kunden.
So operiert Amazon mit einem Programm namens „Vendor Flex“, das den Absatz
sofort an die Hersteller zurückmeldet. Wird zum Beispiel Verbandspflaster
stark nachgefragt, wird Johnson & Johnson informiert, dass es die
Produktion seiner Wundabdeckungen hochfahren muss. Amazon verkauft also
nicht nur Waren, sondern organisiert gleichzeitig die Lieferketten.
## Stalin des Onlinehandels
Neben dem Angebot wird auch die Nachfrage gesteuert, indem den Kunden
nahegelegt wird, welche Artikel sie noch kaufen könnten, kaum dass sie eine
Ware bestellt haben. Diese personalisierten Empfehlungen funktionieren
bestens, so dass Milliarden von Einzelwünschen kein Chaos mehr sind –
sondern vorhersehbarer Absatz. Big Data macht sozialistische Planwirtschaft
endlich leicht, finden zumindest Phillips und Rozworski und ernennen
Amazon-Gründer Jeff Bezos zum „kahlköpfigen, schnurrbartfreien Stalin des
Onlinehandels“.
Der Umsatz von Amazon ist inzwischen drei Mal so groß wie die
Wirtschaftsleistung der einstigen Sowjetunion – und ähnlich gewaltig sind
die Geschäfte von Alibaba, der chinesischen Handelsplattform. Ihr Gründer
Jack Ma ist ebenfalls überzeugt, dass die neue Datentechnik es möglich
macht, „die Planwirtschaft zu verwirklichen“.
Doch so eindrucksvoll Walmart, Amazon und Alibaba sein mögen: Es wäre allzu
eng, den Kapitalismus auf den „Markt“ zu reduzieren. Es ist nur bedingt
interessant, dass die Handelsfirmen bestens über ihre Kunden informiert
sind. Denn der Kern des Kapitalismus ist nicht der Tausch, sondern es sind
die Investitionen und die Entwicklung neuer Produkte. Amazon verkauft vom
Grill bis zum Ehering alles, was das Herz begehrt – aber der Onlinehändler
kümmert sich nicht darum, wie bessere Medikamente oder effiziente E-Autos
entstehen.
Es wäre also nicht viel gewonnen, wenn der Handel mit Babywindeln oder
Fantasyfilmen künftig staatlich abgewickelt würde. Das wäre eine etwas öde
und statische Planwirtschaft. Die eigentliche Frage ist: Kann der Staat
auch Fortschritt?
## Milliardäre wissen Bescheid
Neoliberale glauben hartnäckig, nur der „freie Markt“ würde Innovationen
hervorbringen. Doch das Gegenteil ist richtig: Die wichtigen Erfindungen
stammen fast alle aus staatlichen Laboren oder wurden öffentlich
subventioniert, wie die amerikanisch-italienische Ökonomin Mariana
Mazzucato akribisch nachgewiesen hat. Dies gilt fürs Internet genauso wie
für Solarpaneele. Auch die leistungsstarken Corona-Impfstoffe hätte es
nicht gegeben, wenn die Staaten nicht schon seit Jahren die Biotechnologie
der mRNA-Botenstoffe gefördert hätten.
Die meisten Milliardäre wissen genau, was sie am Staat haben. Bill Gates
gab kürzlich zu: „Das PC-Geschäft – inklusive Microsoft – wäre niemals…
so großer Erfolg geworden, wenn nicht die US-Regierung in die Entwicklung
von kleineren, schnelleren Mikroprozessoren investiert hätte.“ Und
Anleger-Papst Warren Buffet wirbt seit Jahren dafür, dass die Superreichen
mehr Steuern zahlen sollten, denn „ein sehr bedeutsamer Anteil“ seiner
Einkünfte sei der Gesellschaft zu verdanken. Der Staat war schon immer
wichtig. Private Großunternehmen konnten auch früher nur florieren, wenn
sie ihre Regierungen als Kunden hatten.
Die heutige Weltfirma Siemens wäre im 19. Jahrhundert gescheitert, wenn
nicht das russische Zarenreich und das preußische Königreich immer wieder
Telegrafenleitungen bestellt hätten.
Zudem macht der „Markt“ nur einen Teil der Wirtschaft aus. Oft ist es
effizienter, auf private Unternehmen zu verzichten. Ob Schulen, Straßen,
Bahnen, Krankenkassen, Wasserwerke oder Stromnetze: Die Versorgung der
Allgemeinheit funktioniert besser und ist billiger, wenn der Staat
übernimmt.
## Gemischtes System
Der Kapitalismus war also noch nie eine „Marktwirtschaft“, sondern immer
ein gemischtes System: Staatliche Stellen und private Unternehmen wirken
engstens zusammen. Aber was bedeutet das für die Zukunft, wenn auch noch
der Klimawandel zu bewältigen ist?
Der schwedische Sozialist Andreas Malm ist überzeugt, dass es zu einem
„ökologischen Leninismus“ kommen muss – nur ohne Lenin. Denn eine
kommunistische Diktatur will auch Malm nicht. Ganz demokratisch soll der
„Widerstand der herrschenden Klassen“ gebrochen werden, auf dass der Staat
eine klimaneutrale Welt plant.
Aber diese Planungseuphorie wirkt dann doch übertrieben. Nur weil die
Neoliberalen die Rolle der privaten Unternehmen völlig falsch beschrieben
haben, folgt daraus nicht zwangsläufig, dass eigenständige Firmen ganz
unwichtig wären.
Um auf die zentrale Planwirtschaft sowjetischen Typs zurückzukommen: Sie
ist nicht nur daran gescheitert, dass es nicht genug Daten gab. Jeder
wusste, dass im Winter Wintermäntel gebraucht wurden. Sie fehlten trotzdem.
Wie Mazzucato zeigt, funktioniert die Wirtschaft am besten, wenn ein
starker Staat vorgibt, was private Unternehmen zu tun haben. Dieses
„gemischte“ Modell sollte man fortentwickeln.
22 Jun 2021
## LINKS
[1] /Planwirtschaft-in-der-Pandemie/!5765701
[2] https://monde-diplomatique.de/artikel/!5668090
## AUTOREN
Ulrike Herrmann
## TAGS
Ökonomie
Amazon
Sozialismus
Marktwirtschaft
Schwerpunkt Klimawandel
Kolumne Materie
Taxi
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