# taz.de -- Planwirtschaft à la Walmart | |
von Leigh Phillips und Michal Rozworski | |
Steht die US-Supermarktkette Walmart im Mittelpunkt einer sozialistischen | |
Verschwörung? Diese provokante Frage stellte sich vor einigen Jahren der | |
marxistische Literaturwissenschaftler Fredric Jameson.[1]Im Falle einer | |
Revolution müsste man dieses Unternehmen nicht als Relikt der alten Welt, | |
sondern vielmehr als richtungsweisend betrachten, meinte Jameson, der mit | |
seinen 85 Jahren immer noch an der Duke University (North Carolina) lehrt. | |
Natürlich ist Jameson bewusst, dass Walmarts Geschäftsmodell auf | |
Lohndumping basiert und der Konzern für die zunehmenden „Working Poor“ in | |
den USA mitverantwortlich ist. Aber Jameson will auf etwas anderes hinaus: | |
Es geht ihm um die planwirtschaftlich organisierte Logistik des Konzerns | |
und im weiteren Sinne um nichts weniger als die Wiederbelebung einer alten | |
Debatte. Was funktioniert besser: der sich selbst regulierende freie Markt | |
oder die Planwirtschaft? | |
Der österreichische Wirtschaftswissenschaftler Ludwig von Mises (1881–1973) | |
fragte sich schon 1920 in seinem Aufsatz „Die Wirtschaftsrechnung im | |
sozialistischen Gemeinwesen“, ob die Instrumente der sozialistischen | |
Planwirtschaft dazu geeignet sind, in einer über die Kernfamilie | |
hinausgehenden Gemeinschaft zu bestimmen, was wann in welcher Menge | |
produziert werden soll. Seine Antwort lautete: Nein. Dieser Weg führe | |
zwangsläufig zu dramatischen sozialen und ökonomischen Verwerfungen, zu | |
Warenknappheit, Hunger, Verzweiflung und Chaos. | |
Von Mises zufolge sind alle für die Produktion notwendigen Informationen | |
immer schon verfügbar, und zwar durch einen ganz einfachen Mechanismus: den | |
Marktpreis. Dieser bilde nicht nur das Verhältnis von Angebot und Nachfrage | |
ab, sondern auch die Kosten der Produktionsmittel, die volatilen Vorlieben | |
der Kunden und vieles mehr. „Sozialismus funktioniert in der Theorie, aber | |
nicht im wirklichen Leben“, wiederholen Konservative auch heute gern. Laut | |
von Mises sei eine Planwirtschaft sogar als geistiges Konstrukt | |
dysfunktional. | |
Eine Theorie, die der praktischen Umsetzung nicht standhält, gilt | |
normalerweise als nicht valide. Was ist jedoch von einem System zu halten, | |
das der Theorie nach scheitern müsste, aber in der Praxis bestens | |
funktioniert? Walmart bietet den erstaunlichen Beleg dafür, dass eine | |
Wirtschaftsplanung, die von Mises für schlechterdings unmöglich hielt, | |
bemerkenswert effektiv sein kann. | |
Am 2. Juli 1962 eröffnete Samuel Walton in Rogers, Arkansas, seinen ersten | |
Laden namens Wal-Mart Discount City.[2]Heute ist Walmart der weltweit | |
größte Handelskonzern. Seit seiner Gründung verzeichnet Walmart eine | |
Wachstumsrate von durchschnittlich 8 Prozent pro Jahr. Walmart ist auch der | |
weltweit größte private Arbeitgeber, mit Umsätzen so groß wie das | |
Bruttoinlandsprodukt (BIP) von Ländern wie Schweden oder der Schweiz. | |
Bei Walmart stehen die einzelnen Abteilungen, Läden und Lieferanten nicht | |
in Konkurrenz zueinander. Vielmehr wird alles koordiniert. Das Unternehmen | |
stellt damit ein Modell der Planwirtschaft dar, dessen Umfang dem der UdSSR | |
inmitten des Kalten Kriegs durchaus das Wasser reichen kann. So erreichte | |
das sowjetische BIP im Jahr 1970 in heutige Preise umgerechnet rund 800 | |
Milliarden US-Dollar – 2017 erwirtschaftete Walmart 485 Milliarden | |
US-Dollar. Hätten von Mises’ und dessen Anhänger recht, würde der | |
Megakonzern gar nicht existieren. | |
1970 eröffnete Walmart sein erstes Vertriebszentrum. Fünf Jahre später | |
mietete das Unternehmen einen IBM 370/135-Computer für die Lagerverwaltung | |
und wurde so zum ersten Handelsunternehmen, das seine Bestände elektronisch | |
erfasste und vernetzte. Vor dieser Neuerung waren die Einzel- und | |
Großhändler selbst für die Verwaltung ihrer Warenbestände zuständig, nicht | |
das Vertriebszentrum. Dies führte aber regelmäßig zu immer größeren | |
Schwankungen in den Lagerbeständen. | |
Dieser erstmals 1961 beschriebene sogenannte Bullwhip-Effekt | |
(Peitscheneffekt) bezeichnet die Diskrepanz zwischen Beständen und | |
Nachfrage, die immer größer wird, je weiter man in der Lieferkette eines | |
Produkts zurückgeht. Am Anfang des Phänomens steht dabei eine oft nur | |
minimale Differenz zwischen dem, was ein Laden zur Verfügung hat, und dem, | |
was seine Kunden verlangen, also ein zu großes oder zu kleines Angebot. | |
## Das erste Unternehmenmit Barcodes | |
Stellen wir uns eine Situation vor, in der sich die Regale langsam leeren. | |
Der Händler erhöht dementsprechend seine Bestellungen, wobei er in der | |
Regel ein Sicherheitspolster einplant, um auch eine plötzlich steigende | |
Nachfrage abdecken zu können. Der Lieferant muss nun dasselbe gegenüber dem | |
Großhändler tun, und dieser Prozess setzt sich bis zu den Herstellern fort. | |
An jedem Glied der Kette wird die Schwankungsbreite bei der Bestellmenge | |
etwas größer und das Sicherheitspolster bläht sich auf. Schätzungen zufolge | |
führt eine Nachfrageschwankung von 5 Prozent in den Läden zu einem | |
Ausschlag um 40 Prozent am oberen Ende der Lieferkette. | |
Bei Walmart sind alle Teilnehmer der Lieferkette zum Einsatz von | |
IT-Systemen verpflichtet, die einen Datenaustausch in Echtzeit ermöglichen. | |
Jeder kann dadurch in kürzester Zeit die notwendigen Anpassungen vornehmen. | |
Man hört viel über den Druck, den Walmart auf seine Lieferanten ausübt, | |
damit diese zu den vorgegebenen niedrigen Preisen liefern. Diesen Druck | |
gibt es durchaus, denn die Produzenten setzen alles daran, dass ihre Waren | |
im Sortiment des Mammutkonzerns gelistet werden. Sobald die Hersteller im | |
Walmart-Klub aufgenommen sind, genießen sie nämlich auch erhebliche | |
Vorteile. | |
Der Konzern baut mit den meisten seiner Lieferanten langfristige | |
Partnerschaften auf, bei denen es um die Abnahme großer Mengen geht. Dank | |
der daraus resultierenden Transparenz und Planbarkeit profitieren alle | |
Akteure von niedrigeren Kosten für Marketing, Lagerhaltung, Logistik und | |
Transport. Auch wenn zwischen den einzelnen Unternehmensteilen teilweise | |
finanzielle Transaktionen stattfinden, betrachten manche Beobachter dieses | |
riesige Netzwerk aus Herstellern, Lagern und Supermärkten als eine einzige | |
große Wirtschaftseinheit. | |
Walmart war auch das erste Unternehmen, das Barcodes eingeführt hat. | |
Inzwischen stellt seine gigantische Vertriebsdatenbank namens Retail Link | |
den Lieferanten Nachfrageprognosen zur Verfügung und bietet allen | |
Beteiligten in Echtzeit Informationen über die Verkäufe, die an den | |
Supermarktkassen erfasst werden. All dies deutet darauf hin, dass bei | |
Walmart eine Wirtschaftsplanung in großem Maßstab dank des technischen | |
Fortschritts bestens funktioniert. | |
Im Gegensatz dazu endete bei einem von Walmarts größten Konkurrenten, der | |
vor über 130 Jahren gegründeten Handelskette Sears, Roebuck and Company | |
eine vollkommen konträre Strategie im Konkurs. Sears verzeichnete 2016 | |
Verluste in Höhe von etwa 2 Milliarden US-Dollar; insgesamt beliefen sie | |
sich seit 2011, dem letzten Jahr mit einem positiven Ergebnis, auf 10,4 | |
Milliarden Dollar. Schuld daran war die Entscheidung des Konzernchefs | |
Edward Lampert, die verschiedenen Geschäftsbereiche des Unternehmens | |
aufzuspalten und gegeneinander in Wettbewerb treten zu lassen. Anders | |
gesagt, er wollte eine Art internen Markt schaffen. Aus kapitalistischer | |
Sicht schien die Operation sinnvoll zu sein. Schließlich predigen die | |
Konzernchefs doch immer, der Markt sei die Quelle des Wohlstands in der | |
modernen Gesellschaft. | |
Lampert jedenfalls strukturierte sein Geschäft gemäß dieser Logik um und | |
teilte das Unternehmen erst in 30 und später in 40 Einheiten auf, die | |
miteinander konkurrieren sollten. Statt zu kooperieren, mussten die | |
Abteilungen etwa für Bekleidung, Werkzeuge, Elektrogeräte, für Personal, IT | |
oder Marketing plötzlich unabhängig voneinander agieren, mit jeweils | |
eigenem Geschäftsführer und Vorstand und eigener Gewinn- und | |
Verlustrechnung. Wenn nun beispielsweise die Textilsparte | |
IT-Dienstleistungen oder die Personalabteilung in Anspruch nehmen wollte, | |
musste sie einen Vertrag mit dem entsprechenden Unternehmensteil | |
abschließen. Dabei konnte es durchaus günstiger sein, externe Dienstleister | |
oder Zulieferer zu beauftragen. Die Bemühungen eines Unternehmensteils, | |
bessere Ergebnisse zu erzielen, führten mitunter zu einem Umsatzminus für | |
das Unternehmen als Ganzes. | |
Die Konkurrenz ging so weit, dass Manager vor Besprechungen einen | |
Sichtschutz an ihren Bildschirmen anbrachten, damit die Kollegen ja nicht | |
erkennen konnten, was sie vorhatten. Als die Gewinne einbrachen, | |
verschärfte sich der Wettbewerb innerhalb des Konzerns weiter, da jeder | |
versuchte, den anderen die wenigen noch verfügbaren Mittel wegzuschnappen. | |
Gleichzeitig verringerte sich die Rentabilität durch die Verdoppelung | |
zahlreicher Managementfunktionen, denn die organisationsbedingten | |
Kosten wurden ja nicht geteilt. | |
In jedem Unternehmensteil wurden zudem notwendige Infrastrukturausgaben | |
zur Instandhaltung der Läden nur als zu vermeidende Kosten behandelt, mit | |
der Folge, dass die Investitionsausgaben des Konzerns auf unter 1 Prozent | |
des Umsatzes fielen, weit weniger als bei der Konkurrenz. | |
Am Ende suchten die einzelnen Unternehmensteile nur noch das Weite, da sie | |
keinen Vorteil mehr in der Einbindung in den Konzern erkennen konnten. | |
Einige verließen das sinkende Schiff, andere meldeten Insolvenz an. All | |
dies legt nur einen Schluss nahe, nämlich dass Lamperts Strategie, alles | |
auf den freien Wettbewerb zu setzen, jegliche Art der Zusammenarbeit lähmte | |
und damit letztlich gescheitert ist. | |
Was bleibt, ist die Frage, ob dies nicht über die Unternehmenswelt hinaus | |
auch eine wichtige Lehre für die gesamte Gesellschaft ist. | |
1↑ Fredric Jameson, „Archaeologies of the Future: The Desire Called Utopia | |
and Other Science Fictions“, London, New York (Verso) 2005. Auf Deutsch | |
erschien von Jameson u. a. „Mythen der Moderne“, Berlin (Kadmos) 2004. | |
2↑ Siehe Serge Halimi, „Wal-Mart: Im Anfang waren Wassermelonen“, | |
LMd,Januar 2006. | |
Aus dem Französischen von Nicola Liebert | |
Leigh Phillips und Michal Rozworski schrieben gemeinsam das Buch „The | |
People’s Republic of Walmart. How the World’s Biggest Corporations are | |
Laying the Foundation for Socialism“, London/New York (Verso) 2019, auf dem | |
der vorliegende Text basiert. | |
12 Mar 2020 | |
## AUTOREN | |
Leigh Phillips | |
Michal Rozworski | |
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