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# taz.de -- Thriller auf der Berlinale: Schrecken im Antlitz der Sonne
> Zum Berlinale-Abschluss laufen Filme zu #MeToo und Verschwörungstheorien.
> „Der Betatest“ ist eine Premiere, „The Scary of Sixty-First“ mag es
> blutig.
Bild: Kann Angst machen: „The Scary of Sixty-First“
Diese Berlinale hat seltsame Nebeneffekte. [1][Im März, als sie lediglich
eine Onlineveranstaltung für die Branche inklusive Presse war], gab es
unter den einsamen Streamern zu Hause eine stille Vorfreude auf den Sommer,
wenn die Filme endlich auf der Leinwand laufen würden. Es kam dann ein
bisschen anders, da die Kinosäle doch nicht so schnell öffnen konnten wie
gehofft. Das Freiluftprogramm mit noch einmal etwas kleinerer Filmauswahl,
das es jetzt notgedrungen geworden ist, fühlt sich dabei aus eigener Sicht
etwas irreal an. Es ist ein Publikumsfestival pur, Presse eher in
Ausnahmefällen vorgesehen. Die Berlinale läuft so in ihrer zweiten Hälfte
ein bisschen an einem vorbei.
Mit einer Ausnahme. Denn es gibt bei dieser Berlinale nicht bloß den Fall,
dass einzelne Filme, die im März online zu sehen waren, jetzt gar nicht auf
der Leinwand gezeigt werden, wie der brutal-elegante Schwarzweißthriller
„Limbo“ aus Hongkong von Soi Cheang, sondern umgekehrt auch eine „richtig…
Leinwandpremiere, die vorher nicht auf anderem Weg angeboten wurde. „Der
Betatest“, der in der Reihe „Encounters“ an diesem Wochenende seine
Berlinale-Premiere feiert, ist ebenso ein Thriller, bei dem die
US-Amerikaner Jim Cummings und PJ McCabe gemeinsam Regie führten. Cummings
spielt darin auch die Hauptrolle eines erfolgreichen Talentagenten in
Hollywood. Laut Ankündigung gerät dieser, als er eine anonyme Einladung zu
einem Rendezvous erhält und sie annimmt, in einen Strudel aus Betrug und
Verschwörung.
Vom Thema Verschwörung zu den derzeit kaum zu vermeidenden
Verschwörungstheorien ist es da ein kleiner Schritt. „The Scary of
Sixty-First“, das Regiedebüt der US-amerikanischen Schauspielerin Dasha
Nekrasova und ein weiterer Beitrag in „Encounters“, nimmt die
[2][ungeklärten Todesumstände des Investmentbankers und verurteilten
Sexualstraftäters Jeffrey Epstein] zum Anlass, um die Bewohnerinnen einer
luxuriösen New Yorker WG durch die Hölle zu schicken. Addie (Betsey Brown)
und Noelle (Madeline Quinn) heißen die zwei Freundinnen, die in finanziell
heikler Lage ein für ihre Verhältnisse eindeutig zu gehoben eingerichtetes
Appartement beziehen, komplett mit Designermöbeln und Flügel. Eine kurze
Bemerkung des Maklers, es habe lange niemand mehr dort gewohnt, deutet an,
dass an diesem Ort Ungemach droht.
Das beginnt schon in der ersten Nacht, untermalt vom insistierend-zerrenden
elektronischen Soundtrack des Komponisten und Schlagzeugers Eli Keszler. Im
Bad findet Noelle eine Tarotkarte mit Sonnensymbol, Addie hat Albträume. Am
nächsten Tag entdeckt Noelle auf ihrer Matratze einen riesigen
eingetrockneten Blutfleck, als eine junge Frau, im Film bloß „Das Mädchen�…
von Nekrasova selbst gespielt, an der Tür klingelt. Sie gibt sich als
Maklerin aus, will aber bloß in die Wohnung, um einem Verdacht nachzugehen.
Wie sie Noelle eröffnet, haben ihre Onlinerecherchen zu Epstein ergeben,
dass dieser dort Orgien gefeiert hat.
Es folgt eine wild geschnittene Sequenz, in der das Mädchen, am Laptop
hockend, Noelle an ihrer Epstein-Obsession teilhaben lässt, befeuert von
Drogencocktails, um „wach zu bleiben“. Ausgiebig sind Youtube-Videos mit
Luftaufnahmen von Epsteins karibischer Privatinsel Little Saint James zu
sehen, die Gebäude, darunter ein exponiertes tempelartiges Häuschen, dessen
Tür von außen mit einem großen Riegel abgesperrt werden kann. Auf dieser
Insel soll Epstein jahrelang Mädchen gefangen gehalten und und vergewaltigt
haben. Des Weiteren im Video: eine riesige Sonnenuhr am Strand, mit
demselben archaischen Sonnensymbol wie auf der Tarotkarte, die Noelle im
Bad entdeckt hat: eine Sonne mit Gesicht, umrandet von geraden und welligen
Strahlen.
Nekrasova, die als Kind mit ihren Eltern aus Belarus in die USA
eingewandert ist, spielt sich, was das obsessive Interesse an Epstein
angeht, anscheinend ein bisschen selbst. Denn sie betreibt, zusammen mit
der in Russland geborenen Autorin Anna Khachiyan, den kontroversen Podcast
„Red Scare“ mit politisch inkorrekten Provokationen, dem eigenen
Verständnis nach von links. Ihre Form von krassem linken Populismus nennt
sich in den USA „dirtbag left“. Epsteins Tod ist eines ihrer
wiederkehrenden Themen.
Wenig überraschend, dass Nekrasova auch in ihrem Film wenig zimperlich
vorgeht. Mit dem eingetrockneten Blut von der Matratze will sich ihre
Geschichte, deren auf 16-mm-Material gefilmte Bilder sie oft in rotes Licht
taucht, nicht zufriedengeben. So verfällt Addie in eine Manie rund um den
britischen Prinz Andrew – dem langjährigen Freund Epsteins wird ebenso
sexueller Missbrauch von Minderjährigen vorgeworfen –, macht ihn zum Objekt
ihrer Begierde, befriedigt sich mit Teetassen, bis sie blutet. Sie wird
nicht die Einzige bleiben.
18 Jun 2021
## LINKS
[1] /Sofaberlinale--Kinofestival-digital/!5749437
[2] /Neue-Vorwuerfe-gegen-Jeffrey-Epstein/!5654181
## AUTOREN
Tim Caspar Boehme
## TAGS
Schwerpunkt Berlinale
Jeffrey Epstein
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Schwerpunkt #metoo
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