| # taz.de -- Todestag von Semra Ertan: Im Feuer | |
| > An ihrem 25. Geburtstag hat sich Lyrikerin Semra Ertan 1982 in Hamburg | |
| > wegen des wachsenden Rassismus selbst verbrannt. Ein Ort des Gedenkens | |
| > fehlt. | |
| Bild: Nur improvisiertes Gedenken ist möglich: Erinnerungen an Semra Ertan in … | |
| HAMBURG taz | Dienstag, 25. Mai 1982. Semra Ertan ruft beim NDR an und | |
| erzählt von ihrem geplanten Fanal. Die Öffentlichkeit soll davon erfahren. | |
| Eine Journalistin des Rundfunks, Marli Wulf, trifft sich mit ihr. Zehn Tage | |
| später berichtet Wulf über das Treffen: | |
| „Nach dem Anruf war ich sofort in die Hamburger Innenstadt gefahren. Semra | |
| Ertan wollte – das hatte sie im NDR angekündigt – mit einem Hungerstreik | |
| auf sich aufmerksam machen. Sie wollte sich dort mit Benzin übergießen und | |
| verbrennen. Sie wollte auf diese schreckliche Weise auf ihre eigene Not und | |
| auf das Elend ihrer türkischen Landsleute aufmerksam machen. Sie wollte die | |
| Öffentlichkeit herausfordern“ (Deutsches Allgemeines Sonntagblatt, 6. Juni | |
| 1982). | |
| Zu dieser Zeit lebt Semra Ertan bereits seit zehn Jahren in der BRD. Sie | |
| war als 15-jähriges Mädchen im Frühjahr 1972 aus Mersin zu ihren Eltern | |
| nach Kiel gekommen, „um einen Beruf zu erlernen“. Sie will Technische | |
| Zeichnerin werden. | |
| Ihr Schulabschluss in der Türkei ist gut. Aber den deutschen Behörden | |
| reicht das nicht.Für die Arbeitnehmer_innen und ihre Kinder aus den | |
| Anwerbeländern sieht der strikt nach ethnisch-rassistischen Kriterien | |
| organisierte Arbeitsmarkt nur eine fremdbestimmt zugewiesene Stelle, nicht | |
| ihre gewünschte berufliche Perspektive vor. | |
| Mit jugendlichem Elan war Semra Ertan in Kiel angekommen. Dort ist sie bald | |
| mit der deutschen Realität konfrontiert. Anstatt in ihrem gewünschten Beruf | |
| beginnt sie eine Lehre als Friseurin, die sie aufgrund gesundheitlicher | |
| Probleme abbrechen muss. Infolge eingeschränkter Handlungsfähigkeiten | |
| aufgrund von ausländerrechtlichen Hürden, die Semras Potenzial blockieren, | |
| wird sie im Laufe der Zeit nervenkrank. | |
| Sie leidet an den Vorurteilen und Misshandlungen vieler Deutscher. Sie | |
| erlebt ihre Situation in dem gegenüber „Fremden“ feindlich gesinnten Umfeld | |
| als hoffnungslos. Sie unternimmt Selbstmordversuche – und erfährt weitere | |
| Erniedrigungen: Von einem Arzt in Kiel, der ihr wiederholt den Magen | |
| auspumpt, hört sie lediglich den Ratschlag, beim nächsten Mal doch von der | |
| Holtenauer Hochbrücke zu springen. | |
| Von ihrem schriftstellerischen Potenzial kann sie nicht leben. Sie bemüht | |
| sich um eine berufliche Perspektive, um ökonomische Unabhängigkeit und | |
| Emanzipation, aber einen Beruf findet sie nicht. | |
| Kurz vor ihrer Selbstverbrennung beginnt Semra Ertan einen Hungerstreik, um | |
| auf die Situation von Türk_innen in der BRD aufmerksam zu machen. Das ist | |
| der Grund, weshalb Marli Wulf sie für die „Umschau am Abend“ interviewt. | |
| Das Gespräch wird am 26. Mai 1982 ausgestrahlt, da liegt sie schon im | |
| Sterben. Eine Mitschrift: | |
| Marli Wulf: Warum bist du nach Hamburg gekommen? | |
| Semra Ertan: In Kiel habe ich mit dem Hungerstreik angefangen, weil keiner | |
| auf mich gehört hat. Keiner kommt und will mein Stimme hören lassen. | |
| Marli Wulf: Dir geht es darum, deine Stimme hören zu lassen. Du willst | |
| einen Hungerstreik anfangen. Warum? | |
| Semra Ertan: Ja, damit die deutschen Behörden das hören. Vielleicht können | |
| sie hinterher ein bisschen besser gutmütig sein. Dann können sie vielleicht | |
| sagen: Na ja, dann können wir wenigstens zu anderen nicht so schlecht sein. | |
| Wenigstens sollen wir hier nicht wie Hunde behandelt werden, von den | |
| Deutschen. Ich möchte richtig wie ein Mensch behandelt sein. | |
| Marli Wulf: Und was wolltest du heute eigentlich noch tun? | |
| Semra Ertan: Ja, ich wollte mich umbringen zwischen so vielen Leuten. Dass | |
| sie wenigstens ein bisschen überlegen. 1961 habt ihr gesagt, herzlich | |
| willkommen, Gastarbeiter! Aber nur für unsere Kraft. Wenn wir alle | |
| zurückkehren würden, wer würde die schmutzige Arbeit machen? | |
| ## Die Tat | |
| Mittwochmorgen, 26. Mai 1982, Semra Ertans Geburtstag: 25 Jahre wird sie | |
| alt. Es ist 5.15 Uhr. Semre Ertan übergießt sich an der Kreuzung | |
| Simon-von-Utrecht-Straße/Detlef-Bremer-Straße in Hamburg St. Pauli mit | |
| Benzin, das sie kurz zuvor an einer Tankstelle in einen Kanister gefüllt | |
| hat. | |
| Sie zündet sich an. | |
| Per Zufall entdeckt eine Polizeistreife die brennende Frau, erstickt die | |
| Flammen. Sie kommt ins Hafenkrankenhaus, wird dann in die Klinik Boberg | |
| verlegt, wo sie zwei Tage später ihren Verletzungen erliegt. | |
| In türkischen Medien wird der Fall mit großer Sorge kommentiert. Alle | |
| Tageszeitungen von der linken Cumhuriyet über Hürriyet bis zur rechten | |
| Tercüman berichten. Cumhuriyet-Kolumnist Oktay Akbal schreibt in einem | |
| Beitrag vom 5. Juni 1982, der den Titel „Warum lebe ich?“ trägt: „Semra … | |
| eine sehr aufgeklärte, intelligente und belesene junge Frau, aber sie | |
| konnte ihren Platz nicht finden.“ | |
| Über ihr Fanal schreibt er: „Dies ist eine bewusste Handlung. Nachdem sie | |
| tagelang nachgedacht und der deutschen Öffentlichkeit über das Radio die | |
| Gründe erklärt hatte, unternahm eine aufgeklärte junge Frau eine | |
| schreckliche Tat. | |
| Eine bewusste Handlung – so bewusst, dass sie eine Reporterin des Hamburger | |
| Rundfunks engagierte (NDR), um mit ihr über das Thema | |
| Ausländerfeindlichkeit zu diskutieren.“ Die links-liberale Milliyet titelt | |
| am 3. Juni 1982 mit einem zweisprachigen Aufruf an die deutsche Politik und | |
| Gesellschaft, notwendige Schritte gegen die Ausländerfeindlichkeit zu | |
| unternehmen. | |
| Nicht nur Milliyet berichtet darüber, dass der Tod Semras ein dramatischer | |
| Protest gegen die Erniedrigung der etwa 1,5 Millionen Türken war, die in | |
| der BRD lebten. Im Kontext der angespannten Beziehungen zwischen Bonn und | |
| Ankara werden die rassistischen Zustände in Deutschland zu einem | |
| außenpolitischen Thema. | |
| ## Helmut Schmidts Beitrag | |
| Während die deutschen Politiker über Ausländer als Problem diskutieren, | |
| wird Semra Ertans Beerdigung in Mersin in der Türkei vorbereitet. „Sie wird | |
| heute nach Hause gebracht.“ – heißt es in einem Bericht von Ulya Üçer vom | |
| 3. Juli 1982. Semra Ertan wird am 4. Juli in Mersin beigesetzt. | |
| Vor der Beerdigung gibt Semras Vater Gani Bilir eine Erklärung fürs | |
| Fernsehen ab, die auch in den Zeitungen ausführlich zitiert wird, so auch | |
| in der Cumhuriyet-Ausgabe vom 6. Juni: „Für diesen Todesfall gibt es viele | |
| Gründe. Nachdem Bundeskanzler Schmidt etwa 10 bis 15 Tage vor ihrem Tod | |
| erklärte, dass sich Ausländer entweder einbürgern oder aber in ihr Land | |
| zurückkehren sollten, fühlten sich deutsche Jugendliche ermutigt, | |
| [Ausländer] anzugreifen. Die Nachrichten über diese Angriffe machten meine | |
| Tochter sehr traurig. Am 25. Mai verschwand sie; am 26. hatte sie | |
| Geburtstag. Ihre Mutter hatte den Tisch gedeckt. Wir haben nach Semra | |
| gesucht und konnten sie nicht finden. Später kam die Polizei und sagte, | |
| dass meine Tochter in Hamburg verbrannt [vorgefunden] wurde. Als wir in | |
| Hamburg ankamen, war meine Tochter tot.“ | |
| Semras Schwester wird ebenfalls zitiert: „Semra ist ein typisches Beispiel | |
| für die ‚zweite Generation‘, die in Deutschland häufig erwähnt wird. Sie | |
| kann weder in der deutschen noch in der türkischen Gesellschaft einen Platz | |
| finden.“ Cana Bilir-Meier, eine Nichte von Semra Ertan, hat 2013 in dem | |
| Film „Notizen zu Semra Ertan“ die bewegenden Bilder gezeigt: Semra Ertans | |
| Sarg und die trauernden Menschen. | |
| Über Semra Ertan hörte ich das erste Mal im Oktober 1985 von Günter | |
| Wallraff, als er sein Buch „Ganz Unten“ in Darmstadt vorstellte. Als wir | |
| aus der zweiten Generation seiner Lesung lauschten, wusste ich nicht, dass | |
| Semra Ertans Gedichte veröffentlicht worden waren. Als Angehörige der | |
| zweiten Generation fand Semra Ertan keinen Anschluss an die Gesellschaft. | |
| Dass sie durch die Dominanzgesellschaft nicht als ein Subjekt mit ihrer | |
| menschlichen Würde anerkannt, sondern zu einem eingeschränkten und | |
| defizitären Objekt herabgewürdigt wurde, konnte sie nicht ertragen. | |
| Dass die Einwanderer, als billige Arbeitskräfte und als Konjunkturpuffer | |
| für die deutsche Wirtschaft genutzt, zu „Eindringlingen“ degradiert wurden, | |
| machte sie traurig und wütend. Als politisch denkende Frau und Künstlerin | |
| erlebte sie Deutschland als ein feindliches Hinterland. Sie gehört einer | |
| Generation von Migrant_innen aus der Türkei an, die sich oft fühlen, als | |
| wären sie als „unbrauchbare Menschen nach Deutschland verkauft“, nur | |
| Devisenbringer für „das Vaterland“. | |
| In einer der Ton-Kassetten, die wir damals um die Mitte der 1980er-Jahre | |
| als zurückgelassene Kinder anstelle von Briefen aus Deutschland bekamen, | |
| schildert meine Mutter, Yeter Yıldırım, die Situation in Deutschland | |
| ähnlich: „Wir leben hier wie die Stiefkinder, weit weg von (der) Heimat.“ | |
| In ihrem Gedicht „Benim Adım Yabancı“, „Mein Name ist Ausländer“, sp… | |
| Semra Ertan das Leben Hunderttausender ihrer Generation. | |
| Sie war ihren Zeitgenoss_innen um einiges voraus, fand in den kollektiven | |
| Politikformen und künstlerischen Aktivitäten der Migrant_innen aus der | |
| Türkei, die sich im Wesentlichen auf „Exilpolitik“ beschränkten, kaum | |
| Platz. | |
| Sie gehörte zu den Marginalisierten unter den Marginalisierten. Dazu | |
| schreibt sie bereits im Februar 1977: „Erst später werden sie es schätzen / | |
| Deren Wert. / Dann werde ich /Allen unbekannt / In weiter Ferne sein.“ | |
| ## Ein Platz für unsere Blumen | |
| Als die ‚Initiative zu Gedenken an Ramazan Avcı‘ im Jahre 2010 gegründet | |
| wurde, wurde bei den jährlichen Gedenkkundgebungen auf dem | |
| Ramazan-Avcı-Platz auch an Semra erinnert. Mit der Gründung der „Initiative | |
| in Gedenken an Semra Ertan“ wurde sie in Hamburg präsent. | |
| Die Initiative wurde zusammen mit ihrer Schwester Zühal Bilir Meier und | |
| ihrer Nichte Cana-Bilir-Meier vor drei Jahren gegründet. Die Forderung: | |
| einen Platz oder eine Straße in St. Pauli in Semra-Ertan-Straße/Platz | |
| umzubenennen, bleibt bislang unerhört. | |
| Mit den Erinnerungs- und Gedenkinitiativen, die den Blick auf die | |
| zahlreichen rassistischen Nazimorde richten, entsteht ein Bewusstsein | |
| dafür, wie wichtig es ist, nicht nur an die Mordopfer zu erinnern, sondern | |
| auch daran, dass durch rassistische Hetze Menschen in den Tod getrieben | |
| werden. | |
| Wir brauchen einen Ort, wo wir unsere Blumen hinlegen können. | |
| Hinweis: Wenn Sie Suizidgedanken haben, suchen Sie Hilfe! Rund um die Uhr | |
| ist die Telefonseelsorge unter ☎ 08 00-111 01 11 oder ☎ 0800-111 02 22 zu | |
| erreichen | |
| 26 May 2021 | |
| ## AUTOREN | |
| Gürsel Yıldırım | |
| ## TAGS | |
| Einwanderung | |
| Türkisch | |
| Schwerpunkt Rassismus | |
| Hamburg | |
| 80er Jahre | |
| IG | |
| Lyrik | |
| Schwerpunkt Rassismus | |
| Schwerpunkt Rassismus | |
| Schwerpunkt Rassismus | |
| taz.gazete | |
| taz.gazete | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Kein Semra-Ertan-Platz in Hamburg: Rückschlag für Gedenk-Initiative | |
| Sie war Dichterin, Aktivistin – und beging aus Protest gegen Rassismus | |
| Suizid: In Hamburg verhindern CDU, SPD und FDP einen Platz für Semra Ertan. | |
| Aktivist über die Dichterin Semra Ertan: „Von Fremdenfeindlichkeit erzählt�… | |
| Am Samstag wird in Kiel ein Platz nach der Poetin und Aktivistin Semra | |
| Ertan benannt, die sich wegen des wachsenden Rassismus 1982 verbrannt hat. | |
| Abituraufgabe zu rassistischem Text: Schlechte Wortwahl | |
| In einer Prüfungsaufgabe des Deutsch-Fachabiturs wurde rassistische Sprache | |
| verwendet. Eine Schwarze Schülerin kritisiert das, die Schule blockt ab. | |
| Gedichtband von Semra Ertan: „Später werden sie es schätzen“ | |
| Fast 40 Jahre nach ihrem Suizid präsentiert ein Band die Gedichte von Semra | |
| Ertan. Viele Themen sind aktuell: Rassismus, Kapitalismus und Widerstand. | |
| Gedenken zum 8. Mai: Hanau ist auch in Hamburg | |
| Die Morde von Hanau haben die Hinterbliebenen rassistischer Terrorakte seit | |
| den 80er Jahren zusammengebracht. In Hamburg und andernorts treten sie für | |
| ein umfassendes Gedenken am 8. Mai ein. | |
| Sürgündeki Mölln Konuşması: 1992'den beri kurumayan gözyaşları | |
| Stand-up sanatçısı İdil Baydar, 27 yıl önce Mölln'de neonaziler tarafın… | |
| öldürülen üç kişinin anıldığı etkinlikte konuşma yapacağı için ö… | |
| aldı. |