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# taz.de -- Ausländische Erntehelfer: Schlupfloch für Lohndumping
> Viele Erntehelfer aus Osteuropa sind nicht sozialversichert. Juristen
> sehen darin einen Rechtsbruch. Dennoch lässt es die Deutsche
> Rentenversicherung zu.
Bild: Auf dem Spargelfeld sind nicht alle gleich: Erntehelferin im hessischen W…
Viele ErntehelferInnen aus Osteuropa etwa auf Spargelhöfen sind
illegalerweise nicht sozialversichert. Doch die deutschen
Sozialversicherungsträger tolerieren diesen Gesetzesverstoß. Dazu schlossen
die gesetzlichen Rentenversicherer, die Krankenkassen und die Bundesagentur
für Arbeit bereits 1998 eine bisher in der Öffentlichkeit kaum bekannte
Vereinbarung. Mit ihr entbanden sie sich von der Pflicht, beispielsweise
bei als Hausfrauen registrierten Saisonkräften zu überprüfen, ob die
Tätigkeit in Deutschland nur nebenbei oder doch berufsmäßig ausgeübt wird.
In letzterem Fall müssten die Beschäftigten laut Sozialgesetzbuch
versichert werden.
Frauke Brosius-Gersdorf, Professorin für Sozialrecht an der Universität
Hannover, sagte dazu der taz: „Es muss in jedem Einzelfall geprüft werden,
ob nicht doch eine berufsmäßige und damit sozialversicherungspflichtige
Beschäftigung vorliegt. Das wird in der Praxis oft nicht gemacht. Das ist
ein Rechtsbruch.“ Harald Schaum, Vizechef der Industriegewerkschaft
Bauen-Agrar-Umwelt (IG BAU), spricht von „Betrug und Missbrauch, der dazu
führt, dass etwa bei einer Corona-Erkrankung die Arbeitnehmer mitunter die
Behandlung selbst bezahlen müssen“.
Die ArbeitnehmerInnen erwerben auch keine Rentenansprüche. Dabei bekommen
sie meist nur den gesetzlichen Mindestlohn von 9,50 Euro die Stunde – oft
minus Abzüge für Unterkunft und Verpflegung. Zudem gehen der deutschen
Sozialversicherung Beiträge verloren. [1][60 Prozent] der Ende Juni 2020
registrierten rund 97.000 ausländischen Aushilfskräfte in der
Landwirtschaft hatten laut Bundesagentur für Arbeit ein „kurzfristiges
Beschäftigungsverhältnis“ ohne Sozialversicherung – so viel wie in keiner
anderen Branche.
Das Verbot berufsmäßiger Kurzfristjobs soll laut Rentenversicherung dafür
sorgen, dass die Arbeitnehmer „[2][anderweitig in der Sozialversicherung]
abgesichert sind“ – also etwa über eine Hauptbeschäftigung oder eine Rent…
„Berufsmäßig“ sind für das Bundessozialgericht Tätigkeiten, auf die der
Arbeitnehmer „zu einem erheblichen Teil“ angewiesen ist, wie die Deutsche
Rentenversicherung der taz schreibt.
Doch viele ausländische Saisonkräfte hängen stark von dem Einkommen aus dem
nicht versicherten Job in Deutschland ab und sind in ihrer Heimat kaum oder
gar nicht abgesichert. „So gut wie alle, die wir auf den Feldern treffen,
sagen, dass sie zu Hause kaum etwas verdienen“, berichtet Schaum. „Aus
Polen kommen viele Hausfrauen und -männer“, sagt Maria Aniol, die
osteuropäischen ArbeitnehmerInnen für die Beratungsstelle Faire Mobilität
des Deutschen Gewerkschaftsbunds hilft. „Auch die meisten Rumänen haben zu
Hause keine reguläre Beschäftigung. Sie leben monatelang von dem, was sie
hier verdient haben.“ Viele kommen laut dem Bauernverband jedes Jahr zur
Arbeit nach Deutschland.
Das Lohngefälle zwischen den Herkunftsstaaten und Deutschland ist gewaltig:
In Rumänien beträgt der gesetzliche Mindestlohn umgerechnet nur [3][2,84
Euro]. In der Bundesrepublik ist mehr als das Dreifache vorgeschrieben.
Wenn ein Rumäne, wie laut Aniol typisch, 3 Monate lang 8 oder mehr Stunden
täglich und 6 bis 7 Tage die Woche auf einem deutschen Bauernhof arbeitet,
verdient er demnach zum Beispiel rund 6.900 Euro. In seiner Heimat müsste
er dafür über ein Jahr arbeiten, wenn er, wie bei Niedrigqualifizierten
üblich, lediglich den Mindestlohn erhält (bei einer [4][durchschnittlichen
Vollzeitbeschäftigung in Rumänien] von etwa 170 Stunden pro Monat).
Zwar zahlen viele deutsche Bauern den Erntehelfern weniger aus, zum
Beispiel weil sie für die Unterkunft Beträge vom Lohn abziehen. Aber selbst
für beispielsweise 3.000 Euro müssen Mindestlöhner in Rumänien mehr als ein
halbes Jahr arbeiten.
## Keine Einzelfallkontrolle
Doch die Betriebsprüfer der zuständigen Rentenversicherer kontrollieren oft
noch nicht einmal, wie viel die Betroffenen in ihrer Heimat verdienen. Denn
die Sozialversicherungsträger entschieden in ihrer Vereinbarung pauschal:
„Keine Berufsmäßigkeit liegt insbesondere bei Beschäftigungen von Schüler…
Studenten, Hausfrauen, Selbstständigen oder während eines bezahlten
Erholungsurlaubs vor. Dies gilt unabhängig von den wirtschaftlichen
Verhältnissen im jeweiligen Heimatland“.
Der Präsident des Bundessozialgerichts, Rainer Schlegel, hat dem vor Kurzem
in der Neuen Zeitschrift für Sozialrecht widersprochen: Die Frage nach der
Berufsmäßigkeit, schrieb der Richter dort, lasse sich nur beantworten,
indem man den Einzelfall und die „gesamten wirtschaftlichen Verhältnisse
dieser Person“ beurteile. Die Rentenversicherung räumte auf Nachfrage der
taz ein, dass die Sozialversicherer die Regel zu den Hausfrauen ohne ein
konkretes Gesetz oder Urteil festgelegt hätten.
Die Vereinbarung erwähnt ausdrücklich, der Deutsche Bauernverband habe sich
dafür eingesetzt, dass die Betriebsprüfer in der Regel einfach der Angabe
„Hausfrau“ oder „Hausmann“ auf den Fragebögen glauben, die die Arbeite…
den Höfen ausfüllen müssen. Das Formular verlangt noch nicht einmal einen
Nachweis dafür, dass diese Behauptung stimmt. Die Betroffenen werden
automatisch als Erntehelfer ohne Versicherungspflicht eingestuft.
Die Rentenversicherung antwortete auf den Vorwurf des Rechtsbruchs, bei
Hausmännern beispielsweise könne sehr wohl unterstellt werden, „dass andere
Haushaltsmitglieder überwiegend für den gemeinsamen Lebensunterhalt
sorgen“.
Belege, dass diese Vermutung auch bei den großen Einkommensunterschieden
zwischen Deutschland und den Herkunftsstaaten zutrifft, blieb die
Rentenversicherung bis jetzt schuldig.
Trotz dieser Probleme hat der Bundestag am 22. April mit den Stimmen von
CDU/CSU, SPD und AfD beschlossen, dass Saisonkräfte in diesem Jahr [5][102
statt wie normalerweise 70 Tage] oder 4 statt 3 Monate ohne
Sozialversicherung arbeiten dürfen. Agrarministerin Julia Klöckner (CDU)
zufolge soll die Entscheidung dazu führen, dass das Personal in den
Betrieben weniger wechselt, sodass das Risiko von Corona-Infektionen sinke.
Kritiker warfen ihr vor, es gehe nur darum, den Landwirten Sozialabgaben zu
ersparen.
## Verstoß gegen Grundgesetz
„Die Regelung kollidiert mit dem Gleichbehandlungsgebot des Grundgesetzes,
weil einzelne Beschäftigungsverhältnisse generell von der
Sozialversicherungspflicht ausgenommen sind und andere nicht“, kritisierte
Juristin Brosius-Gersdorf. Die Professorin sieht darin auch einen Verstoß
gegen europäisches Recht. „Denn hier werden ausländische Erntehelfer
diskriminiert gegenüber inländischen.“
Beispielsweise Studierende und Hausfrauen aus dem Inland hätten regelmäßig
eine Familienmitversicherung – die ausländischen Erntehelfer aber nicht.
„Jetzt steht also auf den Feldern in Deutschland ein ausländischer
Erntehelfer, der keine Krankenversicherung hat, neben einem inländischen,
der selbstverständlich eine Krankenversicherung hat, und das in Zeiten von
Corona.“
Susanne Ferschl, die Vizevorsitzende der Linksfraktion im Bundestag,
fordert deshalb: „Diese Lohndumpingpolitik gehört besser heute als morgen
verboten.“ Dieses „Schlupfloch“ begünstige Missbrauch und sei nur schwer…
kontrollieren. „Es ist problemlos möglich, Saisonkräfte für die komplette
Zeit der Ernte in Deutschland regulär sozialversicherungspflichtig zu
beschäftigen“, so Ferschl zur taz.
Doch CDU, CSU, FDP und AfD halten an der „kurzfristigen Beschäftigung“
fest. „Wenn wir dieses Instrument nicht mehr haben, wird es immer
schwieriger, Leute zum Beispiel zum Spargelstechen oder zum Erdbeerpflücken
zu bekommen, weil die Deutschen in der Regel nur wenig Lust auf diese
Beschäftigungen haben“, sagte Albert Stegemann, agrarpolitischer Sprecher
der Unionsfraktion, der taz. Die Mitarbeiter hätten brutto für netto, und
nur dann lohne sich der Job für sie besonders.
Saisonkräfte müssten höhere Bruttolöhne bekommen, damit sie Sozialabgaben
zahlen könnten, verlangt dagegen die IG BAU. Wenn ein Erntehelfer stündlich
etwa 10 Kilogramm Spargel sticht und den Betrieb 3 Euro je Stunde mehr
kostet, würde das den Preis nur um 30 Cent pro Kilo verteuern, rechnet
Gewerkschafter Schaum vor. Deshalb würde Deutschland kaum mehr Spargel
importieren.
28 May 2021
## LINKS
[1] /Arbeitsbedingungen-im-Agrarwesen/!5769049
[2] https://www.informationsportal.de/steckbrief/?pid=47019
[3] https://www.wsi.de/de/faust-detail.htm?sync_id=HBS-007963
[4] http://legislatie.just.ro/Public/DetaliiDocument/236118
[5] https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2021/kw16-de-seefischereigese…
## AUTOREN
Jost Maurin
## TAGS
Landwirtschaft
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