| # taz.de -- Streit mit Berufsgenossenschaft: Herr Neumann nervt | |
| > Erich Neumann ist überzeugt, dass sein Herzleiden von einem Arbeitsunfall | |
| > herrührt. Anstelle einer Entschädigung bekommt er eine Freiheitsstrafe. | |
| Bild: Frisch entlassen: Seine Akte hatte Erich Neumann mit ins Gefängnis genom… | |
| Es ist noch mal ein schöner Spätsommertag, als Erich Neumann freikommt. Er | |
| sitzt, eine rote Aktenmappe unter den Arm geklemmt, ein paar Minuten vor | |
| seinem Entlassungstermin auf dem Bänkchen vor der JVA und genießt die | |
| Sonne. „Die brauche ich jetzt“, sagt er, blinzelt und zieht genießerisch | |
| die Luft ein. Seine Zelle in der [1][Justizvollzugsanstalt | |
| Bremen-Oslebshausen] sei finster gewesen. Und dann seien auch die | |
| Haftbedingungen durch die Pandemie beeinträchtigt. „Diesmal“, sagt er, „… | |
| es schlimmer als sonst.“ | |
| Erich Neumann hat niemandem etwas Böses getan. Das steht fest, auch wenn | |
| die [2][Berufsgenossenschaft] Handel und Warenlogistik (BGHW) auf die | |
| Frage, wann und wo Neumann Leib und Leben von Mitarbeitenden beeinträchtigt | |
| habe, auf den Vorfall vom 8. November 2018 verweist. Damals war Neumann, | |
| Jahrgang 1942, mit einer Flüstertüte in die Regionaldirektion Nord der BGHW | |
| marschiert, in der Bremer Falkenstraße, vis-à-vis des Finanzsenators, weil | |
| er sich dort ignoriert sah. Dann hatte er im Foyer die eingebaute Sirene | |
| des 10-Watt-Megafons betätigt, sicher fünf volle Minuten lang. Übersehen | |
| wurde er dann jedenfalls nicht mehr. | |
| „Es liegen keine strafbaren Handlungen vor“, resümiert der Einsatzbericht | |
| der Polizei. Die BGHW findet aber, der wütende Rentner habe „durch eine | |
| andauernde Geräuschemission Gesundheitsschäden der Mitarbeitenden in Kauf“ | |
| genommen. So gefährlich ist Neumann dann eben doch. | |
| In der Logik der BGHW begründet auch diese Aktion, warum sie Neumann daran | |
| hindern muss, Teile seiner Akte online zu dokumentieren. Und zwar nicht | |
| irgendwelche Schnipsel, sondern komplette Schreiben, Widerspruchsbescheide. | |
| Ja sogar, die komplette Akte dem Deutschen Historischen Museum zu | |
| übergeben, hat die BGHW Neumann vorsichtshalber verboten. Und „ebenso“, hat | |
| sie ihm per Einschreiben anwaltlich mitteilen lassen, „ist – weiterhin – | |
| eine Veröffentlichung des Urteils des Landgerichts [Hamburg] (Az. 324 O 128 | |
| /19) untersagt“. | |
| Nun gut. Wir sind ein freies Land. Hier dürfen alle allen alles verbieten | |
| und jede und jeder kann das getrost ignorieren. Aber, das stimmt so nicht: | |
| Wir sind zwar ein freies Land, aber wenn Erich Neumann veröffentlicht, was | |
| die BGHW ihm in seinem Fall mitgeteilt hat und wie sie auf seinen Protest | |
| reagiert, wenigstens in 45 Schriftstücken seiner Akte, dann muss er 250.000 | |
| Euro zahlen, „und die habe ich nicht“, sagt er. Deshalb hat er die | |
| Schriftstücke ja in den roten Ordner geheftet und mit in den Knast | |
| genommen. „Stellen Sie sich vor, bei uns würde eingebrochen und die würden | |
| geklaut“, sagt er, „das ist mir viel zu riskant.“ | |
| In der JVA haben sie sein Spiel mitgespielt, den Ordner, den er fest | |
| umklammert hielt, als wär’s ein Stück von ihm, durfte er mit hineinnehmen, | |
| ungeprüft. Nachts hat er die rote Kladde unters Kopfkissen gelegt, sagt er. | |
| Dafür aber, dass er diese 45 darin abgehefteten Schriftstücke bislang auf | |
| seiner Homepage unfallmann.de eingestellt hatte, hat ihn, jetzt mal ein | |
| bisschen verkürzt gesprochen, das Landgericht Hamburg dazu verdonnert, | |
| 1.750 Euro Ordnungsgeld zu zahlen. „Das sehe ich gar nicht ein, das zu | |
| zahlen“, sagt Neumann. „Ich habe nichts Unrechtes getan.“ Also ist er ins | |
| Gefängnis gegangen, zum vierten Mal, um die „ersatzweise festgesetzte | |
| Ordnungshaft von 7 Tagen“ abzusitzen. Beim Mal davor waren es weniger | |
| gewesen. | |
| Neumanns Konflikt mit den Berufsgenossenschaften schwelt seit 53 Jahren. | |
| Die ganze Akte füllt mehrere Regalmeter. Die konkrete öffentliche | |
| Auseinandersetzung begann bereits im Dezember 2001. Sie ist damit älter als | |
| die BGHW selbst, die erst 2008 aus der Fusion der Einzel- und der | |
| Großhandels-BG entstanden war. | |
| Die Berufsgenossenschaften sind staatliche Einrichtungen. Sie tragen die | |
| gesetzliche Unfallversicherung, die Bismarck etabliert hatte, um die | |
| Sozialdemokratie auszubremsen: Im Industriebetrieb Verunglückte können | |
| seither auf Entschädigungen hoffen. In der Weimarer Republik wurden | |
| Berufskrankheiten in den Leistungskatalog aufgenommen. 1942 kam eine | |
| weitere Ausweitung, damit die Kriegswirtschaft nicht von Unzufriedenen | |
| blockiert würde. Seit 1951 sind die Berufsgenossenschaften paritätisch | |
| selbstverwaltet. | |
| Lange schon hat der Fall Neumann eine romanhafte Dimension angenommen, in | |
| der die Fragen nach Gut und Böse im Unentscheidbaren kollabieren. Der | |
| drahtige Mann mit dem schlohweißem, etwas schütteren Haar spricht über | |
| seinen Fall immer in einem hohen, leicht nasalen Tenor, als erzähle er | |
| gerade den besten Witz der Welt: „Da haben die doch tatsächlich“, sagt er, | |
| „und jetzt kommt’s“, sagt er, „ist das nicht ein dolles Ding, Herr | |
| Schirrmeister?!“, immer mit so einem Beben in der Stimme, das auf | |
| Anerkennung lauert, Zustimmung. Gottchen, ja: Er ist anstrengend. Und | |
| selbstredend hat er sich total verrannt, wie ein irrer Hamster, der den | |
| Ausgang aus seinem Rad nicht mehr findet. | |
| Ganz kurz zusammengefasst: Herr Neumann hatte 2001 einen Stromunfall. Und | |
| er ist damit zu spät zum Arzt gegangen. Dass sein Vorhofflimmern, eine | |
| Herzrhythmusstörung, von dem Arbeitsunfall herrührt, steht für ihn | |
| felsenfest. Die Gutachter der BG hatten diesen kausalen Zusammenhang | |
| zumindest als „sehr wahrscheinlich“ eingestuft. [3][Sehr wahrscheinlich | |
| reicht nicht, ist die Auffassung der BG]. Reicht nicht, hat auch das | |
| Sozialgericht befunden, das Landessozialgericht und am Ende auch das | |
| Bundessozialgericht. Danach hat ihn die Rechtsschutzversicherung | |
| rausgeschmissen. | |
| Aber das heißt in Deutschland nicht, dass die Sache beendet wäre. Man darf | |
| im Sozialrecht immer wieder von vorn anfangen. Man darf. Und Neumann muss, | |
| aus einem inneren Drang heraus. | |
| ## Wollte die BGHW ein Exempel statuieren? | |
| Denn Neumann hat nachgeforscht, in seiner Akte. Akribisch, wie er nun mal | |
| ist. Er hat Unregelmäßigkeiten bemerkt. Unregelmäßigkeiten zu seinen | |
| Ungunsten. Auch schon in einem älteren Fall, einem Laster-Crash von 1968. | |
| Da hatte man ihm jahrzehntelang zu wenig Unfallrente zugestanden, stellte | |
| 2014 auch das Sozialgericht fest. Und als rechtswidrig kassiert worden ist | |
| auch das Hausverbot, das die Regionaldirektion Nord gegen ihn verhängt | |
| hatte. Das waren Neumanns größte Erfolge. Bislang. Seine Frau, die gekommen | |
| ist, ihn abzuholen in Oslebshausen, verdreht die Augen. Sie kann es nicht | |
| mehr hören. | |
| Bei der BGHW scheint man den Fall Neumann persönlich zu nehmen. Das ist ja | |
| auch verständlich. Vor allem über seine Website ärgert man sich. Und | |
| darüber, dass er eine Art Schrotflinten-Strategie fährt, mit zig Verfahren | |
| gegen alle möglichen Bescheide, irgendwann muss ein Treffer dabei sein. | |
| Doch, doch, Neumann nervt. Es gibt interne Schreiben der BGHW, die darauf | |
| hindeuten, man habe ein Exempel statuieren wollen, indem man ihn mit | |
| Strafanzeigen überzieht, wegen diverser Aussagen auf der Homepage. „Üble | |
| Nachrede und Verleumdung gegen Personen des politischen Lebens“ lautete der | |
| Vorwurf, 2014 war das gewesen, der Justiziar der BGHW war in Mannheim zur | |
| Polizei gegangen, um Anzeige zu erstatten. Und „im Rahmen seiner | |
| Darstellungen stellt N. wiederholt und umfangreich unwahre | |
| Tatsachenbehauptungen über das Handeln der BGHW im Allgemeinen und | |
| einzelner Mitarbeitenden im Besonderen auf“, behauptet BGHW-Pressesprecher | |
| Karl-Josef Thielen noch immer – sechseinhalb Jahre nachdem die | |
| Staatsanwaltschaft Bremen die entsprechenden Ermittlungen eingestellt hat. | |
| Obwohl Neumann seine Attacken in der Vernehmung noch einmal bekräftigt | |
| hatte. | |
| „Ich mache nur von meiner Meinungsfreiheit Gebrauch“, sagt der 79-Jährige. | |
| Und seine Überzeugung, dass sich die BGHW in seinem Fall wie eine | |
| kriminelle Vereinigung verhalte, versucht er, das ist ja guter Brauch, auch | |
| zu belegen. Durch die Veröffentlichung seiner Akten. Rechtsstaatliches | |
| Handeln zeichnet sich durch Transparenz aus. Dadurch wird es für die | |
| Bürger*innen voraussehbar und berechenbar. Auch das Ziel, die durch die | |
| Grundrechte gewährten individuellen Rechtspositionen zu verwirklichen, | |
| verlangt danach. Ausführlich hat das der Staatsrechtslehrer Jürgen Bröhmer | |
| erörtert, „Transparenz als Verfassungsprinzip“, heißt sein Standardwerk. | |
| „[E]s ist nicht im Interesse der BGHW, dass Akten und | |
| Verwaltungsentscheidungen der BGHW kopiert und der Öffentlichkeit | |
| zugänglich gemacht werden“, hat hingegen der Staat in Gestalt der BGHW | |
| Neumann im März 2021 mitgeteilt. Dabei weiß man natürlich, interne | |
| Schreiben belegen das, dass es sein gutes Recht ist, das zu tun. | |
| ## Wer kein Geld für den Anwalt hat, verliert | |
| Aber wer in Deutschland Sachen aus Welt und Web kriegen will, zieht vors | |
| Landgericht Hamburg. Der Ruf, den sich die Pressekammer dort erworben hat, | |
| ist einschlägig. Im Fall Neumann hat sie ein Urteil gesprochen, das ihm | |
| gerecht wird, ohne auch nur irgendetwas zum Inhalt der Sache zu sagen. | |
| Am Landgericht herrscht, anders als am Sozialgericht, Anwaltszwang. Einen | |
| Anwalt ohne Rechtsschutzversicherung, „das kann ich mir nicht leisten“, | |
| sagt Neumann. Wer sich einen Anwalt nicht leisten kann, ist selbst schuld: | |
| Es ergeht dann ein Versäumnisurteil. Das entspricht dem, was die andere | |
| Seite beantragt hat 1: 1. Es kommt ganz ohne Darstellung des Tatbestands | |
| aus, und es verzichtet auch auf alle Begründungen. | |
| Und so hat denn das Hamburger Landgericht am 13. August 2019 Erich Neumann | |
| auf einen Streich 124 Äußerungen darüber verboten, wie er glaubt, von der | |
| BGHW verschaukelt worden zu sein. Und es hat ihm verboten, 45 Schreiben, | |
| Bescheide und Vermerke weiter zu publizieren, die seine Sicht belegen | |
| sollen (Az.: 324 O 128/19): von seinem eigenen Fall, aus seiner eigenen | |
| Akte, und die ist längst: nein, nicht nur ein kleines Stück von seinem | |
| eigenen Leben. Das hat das Landgericht ihm aus der Hand geschlagen. | |
| 24 Oct 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Benno Schirrmeister | |
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