# taz.de -- Abschiebungen an den Hindukusch: Sie sind in Gefahr | |
> Einer Studie zufolge droht abgeschobenen Afghanen Gewalt. Doch das | |
> Innenministerium plant den nächsten Abschiebeflug nach Kabul. | |
Bild: Bittere Regelmäßigkeit: Eine Sammel-Abschiebung von Berlin nach Afghani… | |
Ungeachtet der eskalierenden Sicherheitslage in Afghanistan schiebt die | |
Bundesregierung weiter Menschen in dieses Land ab. [1][Am 8. Juni sei | |
erneut ein Abschiebeflug vom Flughafen Halle-Leipzig nach Kabul geplant, | |
teilten mehrere Flüchtlingsräte sowie Pro Asyl mit.] Am Samstag | |
protestierten Menschen in Leipzig sowie in mehreren anderen Städten in | |
Deutschland bei Mahnwachen und Fahrraddemos gegen die Abschiebepraxis der | |
Bundesregierung und der beteiligten Länder. Der „Aktionstag gegen | |
Abschiebungen nach Afghanistan“ richtet sich auch an die | |
Innenministerkonferenz, die am 16. Juni beginnt. | |
Wegen des Abzugs der Nato-Truppen aus Afghanistan fordern die am Protest | |
beteiligten Gruppen einen sofortigen Abschiebestopp und eine Neubewertung | |
der Sicherheitslage. Laut Vereinten Nationen hat die sich in diesem Jahr | |
noch einmal verschärft. „Auch diese bevorstehende Abschiebung nach | |
Afghanistan ist Ausdruck des Bedürfnisses der Bundesregierung und der | |
Länder, Handlungsfähigkeit und Konsequenz beim Thema Abschiebung zu | |
beweisen“, kritisierte Conny Funke vom Leipziger Aktionsnetzwerk Protest | |
LEJ. Ob solche Abschiebungen rechtlich und moralisch vertretbar seien, | |
spiele dabei für sie keine Rolle. | |
Bislang rechtfertigt die Bundesregierung die Abschiebungen damit, dass die | |
Sicherheit der Abgeschobenen nicht überall im Land gefährdet sei. [2][Dass | |
diese Einschätzung nicht der Realität vor Ort entspricht, legt eine | |
aktuelle Studie nahe, die am vergangenen Freitag veröffentlicht wurde.] | |
Demnach drohe abgeschobenen Afghanen und deren Familien Gewalt, | |
Diskriminierung und Stigmatisierung. | |
Die gescheiterte Flucht nach Deutschland mache die Menschen in den Augen | |
von Extremisten zu Verrätern, so Studienleiterin Friederike Stahlmann von | |
der Universität Bern: „Das besondere Problem der Abgeschobenen ist, dass | |
sie Verfolgung, Gewalt und Diskriminierung von verschiedenen Seiten | |
erfahren. Also von den Taliban aus politischen Gründen, aber auch aus dem | |
sozialen Umfeld und aus der Öffentlichkeit.“ Den Rückkehrern fehle zudem | |
das soziale Netzwerk, um in einem Land in der Krise überleben zu können. | |
## Das Bundesinnenministerium zeigt sich uneinsichtig | |
Für die Studie im Auftrag von Diakonie und Brot für die Welt hat Stahlmann | |
die Erfahrungen von 113 der 1.035 seit Dezember 2016 aus Deutschland | |
abgeschobenen Afghanen dokumentiert. Das Ergebnis: Die Mehrzahl verlässt | |
Afghanistan wenig später erneut. 27 Prozent der untersuchten Fälle seien | |
heute wieder zurück in Europa, 41 Prozent in umliegenden Ländern wie Iran, | |
Pakistan oder der Türkei. Nur ein Befragter gab an, in Afghanistan bleiben | |
zu wollen. | |
Die Präsidentin von Brot für die Welt, Dagmar Pruin, forderte das | |
Auswärtige Amt auf, die Situation vor Ort endlich realistisch zu bewerten. | |
In dessen Lagebericht von Juli 2020 heißt es: Dem Auswärtigen Amt seien | |
„keine Fälle bekannt, in denen Rückkehrer nachweislich aufgrund ihres | |
Aufenthalts in Europa Opfer von Gewalttaten wurden“. | |
Das Bundesinnenministerium (BMI) machte am Freitag klar, dass es aus seiner | |
Sicht keiner Neubewertung der Lage bedürfe. [3][Gegenüber tagesschau.de | |
teilte das BMI mit, dass im Rahmen des Asylverfahrens in jedem Einzelfall | |
die individuelle Bedrohung unter Berücksichtigung regionaler und lokaler | |
Gegebenheiten geprüft werde.] Pauschale Aussagen zur Gefährdung Einzelner | |
in Afghanistan ließen sich deshalb nicht treffen. Ähnlich äußerten sich | |
auch der innenpolitische Sprecher der Unions-Bundestagsfraktion, Mathias | |
Middelberg, und Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius (SPD). | |
Die Reaktion des Bundesinnenministeriums auf die aktuellen Entwicklungen | |
sei unglaublich, kritisiert dagegen der Geschäftsführer von Pro Asyl, | |
Günter Burkhardt, in einer Mitteilung: „Anstatt realistisch die Situation | |
in Afghanistan zu reflektieren, herrscht stoische Gleichgültigkeit | |
gegenüber dem Schicksal der Abgeschobenen.“ | |
6 Jun 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://www.proasyl.de/pressemitteilung/bundesweiter-aktionstag-gegen-absch… | |
[2] https://www.diakonie.de/fileadmin/user_upload/Diakonie/PDFs/Journal_PDF/AFG… | |
[3] https://www.tagesschau.de/investigativ/ndr/studie-abschiebung-afghanistan-1… | |
## AUTOREN | |
Ralf Pauli | |
## TAGS | |
Abschiebung | |
Schwerpunkt Afghanistan | |
Bundesinnenministerium | |
Kabul | |
Abschiebung | |
Asylpolitik | |
Asyl | |
Schwerpunkt Flucht | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Sammelabschiebung aus Hannover: Im Flieger nach Afghanistan | |
Von Hannover ging diese Woche ein Flug mit 27 Männern, die nach Kabul | |
abgeschoben werden sollten. Vor dem Flughafen protestierten rund 100 | |
Menschen. | |
Abschiebung in ein fremdes Land: „Mama in Handschellen abgeführt“ | |
Die Eltern von Shuki Haziri wurden nach 30 Jahren in ein Land abgeschoben, | |
das nicht ihre Heimat ist. Über deutsche Bürokratie, die krank macht. | |
Abschiebung nach Afghanistan: Vom Allgäu an den Hindukusch | |
2015 floh der Afghane Hasib Azami nach Deutschland. Vergangenen Februar | |
wurde er nach Kabul abgeschoben. Die taz hat ihn dort getroffen. | |
Abschiebung nach Afghanistan: Niemand muss Abschieben helfen | |
Brandenburg organisiert einen Abschiebeflug ins Kriegsgebiet. Laut Grünen | |
ist der Bund verantwortlich. Doch sie könnten selbst einiges dagegen tun. | |
Abschiebungen nach Afghanistan: Die Zyniker im Innenministerium | |
26 Menschen werden aus dem coronageplagten Deutschland abgeschoben. In | |
Afghanistan erwarten sie unsichere Zustände und eine marode | |
Krankenversorgung. |