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# taz.de -- Vor der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt: Die guten Jahre von Kenia
> Die Magdeburger Koalition aus CDU, SPD und Grünen war eine der Notwehr –
> gegen die AfD. Sie war besser als ihr Ruf und könnte erneuert werden.
Bild: Plakate der CDU, der Grünen und der SPD. Wird Kenia sich fortsetzen?
Die Kenia-Koalition, die seit 2016 in Sachsen-Anhalt regiert, war von
Beginn an eine Notlösung. CDU, SPD und Grüne mussten sich zusammentun, denn
alles andere hätte damals eine Mitregierung der AfD eingeschlossen. Oder
der Linken, für die CDU war auch das keine Option. Wenn an diesem Sonntag
wieder gewählt wird in Sachsen-Anhalt, dürfte es ähnlich laufen: Parteien,
die eigentlich wenig gemeinsam haben, schließen sich zusammen, um die AfD
von der Macht fernzuhalten.
Das muss nicht nur schlecht sein, wie ein Blick auf die vergangenen fünf
Jahre Kenia-Koalition zeigt. Medien bescheinigten dem Zweckbündnis anfangs,
es sei hauptsächlich mit Krisenmanagement beschäftigt und mache „einen
miserablen Eindruck“. Doch inzwischen überwiegt bei politischen Beobachtern
die Anerkennung. Schon die Tatsache, dass die Magdeburger Koalition trotz
der enormen Belastungen und Zerreißproben hielt, begründet diesen Respekt.
Und wenn man sich anschaut, was das Bündnis an konkreten Sachfragen
umgesetzt hat, ist das eine ganze Menge.
Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) blickte Anfang Mai sehr zufrieden
auf die zweite Periode seiner nun schon zehnjährigen Amtszeit zurück. Es
reichte sogar zu ungewohnter Ironie, als er in die Kabinettsrunde fragte:
„Gibt es jemanden, der sich nicht wohlgefühlt hat?“ Die Erleichterung über
halbwegs gemeinsam überstandene Jahre war auch den Koalitionspartnern SPD
und Bündnisgrünen anzumerken.
Denn es gab sie ja, die schwierigen Zeiten. Besagtes Zweckbündnis startete
schon unter ungünstigen Vorzeichen: Alle drei Parteien waren 2016
enttäuscht von ihrem Wahlergebnis und schockiert von den 24,3 Prozent für
die AfD. Das führte auch zu einem Profilierungsdrang in der Koalition. Die
Zähmung der Widerspenstigen war selbst für einen wie Haseloff
Schwerstarbeit, der sich in Erinnerung an sein kirchlich-ökologisches
Engagement in der DDR „eigentlich als ein Grüner“ fühlt.
## Unionsfraktion als Unsicherheitsfaktor
Er und Fraktionschef Siegfried Borgwardt hatten nicht nur die Koalition
auszubalancieren, sondern auch noch die eigenen Leute zu disziplinieren.
Denn die unberechenbare Unionsfraktion erwies sich als der größte
Unsicherheitsfaktor, herausgefordert freilich durch die programmatisch so
anderen Grünen. Schon in den ersten Koalitionsmonaten unterstützten Teile
der CDU einen regelrechten „[1][Bauernkrieg]“ gegen die grüne Umwelt- und
Agrarministerin Claudia Dalbert.
Wiederholt fehlten der Koalition mit ihrer knappen Zweisitzemehrheit bei
Personalwahlen und Sachentscheidungen Stimmen aus den eigenen Reihen. In
Verdacht geriet stets die Union, deren Landesverband als der konservativste
in Deutschland gilt.
Die Grünen-Fraktionsvorsitzende Cornelia Lüddemann bekam es als Kandidatin
für die Verfassungsschutz-Kontrollkommission ebenso zu spüren wie Nils
Leopold als designierter Datenschutzbeauftragter. Lüddemann brauchte einen
zweiten Anlauf, und einen gewählten Datenschutzbeauftragten hat das Land
bis heute nicht. Im August 2018 drohte die SPD mit dem Koalitionsbruch,
sollten CDU-Teile weiterhin AfD-Anträgen zustimmen. Unbeeindruckt taten
Christdemokraten dies ein knappes Jahr später erneut, als die AfD einen
Untersuchungsausschuss Linksextremismus einsetzen wollte.
Vor dem Bruch stand die Koalition, als Innenminister Holger Stahlknecht
(CDU) mehr Videoüberwachung und mehr sichere Herkunftsländer für
Flüchtlinge wollte. Es krachte, als der konservative Polizeigewerkschafter
Rainer [2][Wendt] Innenstaatssekretär werden sollte, es krachte zuletzt
bundesweit vernehmlich, als die CDU Ende 2020 den Rundfunkstaatsvertrag
ablehnte. Und als sich Stahlknecht in der Folge für eine von der AfD
tolerierte Minderheitsregierung der CDU aussprach, musste er zurücktreten.
## Mehr Erreichtes als Unerledigtes
Dass die Koalition nicht zerbrach, ist nicht allein ein Verdienst von
Haseloff, der als Koalitionspatriarch die divergierende Truppe
zusammenhielt. Alle drei Partner haben trotz aller Differenzen einen Weg
gefunden, gemeinsam zu regieren – und den Koalitionsvertrag weitgehend
umzusetzen.
Auch das ist ein Grund, warum die Kenia-Koalition im Land nach anfänglicher
Skepsis inzwischen positiver gesehen wird. Eine Bilanz der fünf Jahre zeigt
weit mehr Erreichtes als Unerledigtes. Das hat das Bündnis auch den
günstigen Steuereinnahmen zu verdanken. Alle drei Partner können jetzt
anteilig die Umsetzung ihrer Vorhaben präsentieren. „Die Kunst besteht
darin, dass es immer drei Gewinner geben muss“, hatte Ministerpräsident
Haseloff das Erfolgsgeheimnis dieser anstrengenden Partnerschaft
beschrieben.
So konnte die CDU beispielsweise den Weiterbau der Autobahn A 14 nach
Norden als Erfolg verbuchen. Ein Kompromiss mit den Grünen und dem BUND
ermöglichte weitgehendes Baurecht. An eine Autobahnerschließung der
strukturschwachen Region nördlich von Magdeburg werden dort schon
quasireligiöse Hoffnungen geknüpft.
Die SPD konnte sich mit der Forderung eines höheren Budgets für die
Hochschulen durchsetzen, in der Kultur wird auf ihr Wirken hin wieder nach
Tarif bezahlt. Die Grünen wiederum verweisen darauf, dass sie die Mittel
für Radwege versechsfacht haben. Das wird sogar in den sonst nicht gerade
grünenfreundlichen nördlichen Landesteilen goutiert. Die Grünen setzten
auch die Unterschutzstellung des „Grünen Bandes“ entlang der ehemaligen
DDR-Grenze nach Niedersachsen durch. Auch die Reform der Landesverfassung
trägt die Handschrift von SPD und Grünen, sie enthält nun eine
antifaschistische Klausel und berücksichtigt den Klima- und den Tierschutz,
der Begriff „Rasse“ wurde gestrichen.
## Kein Laborversuch mehr
Es gab viele Veränderungen, die die drei Parteien gleichermaßen als Erfolg
sahen, etwa die Erhöhung bei den Lehrerstellen oder die Schaffung von 700
neuen Polizeianwärterstellen. Nach einer Parlamentsreform tagen nunmehr die
Ausschüsse öffentlich. Beim Breitbandausbau geht es immerhin voran, auch
wenn Linken-Spitzenkandidatin Eva von Angern dessen Tempo für den
dringenden Anschluss der in Sachsen-Anhalt dominierenden ländlichen Räume
als unzureichend kritisiert. Nicht erreicht wurden ein modernes
Gleichstellungsgesetz, ein Paritätsgesetz für quotierte Wahllisten oder ein
Agrarstrukturgesetz.
Alles in allem hat das Kenia-Bündnis ganz nüchtern betrachtet einiges
erreicht. Kenia ergeht es ähnlich wie der jetzigen GroKo in Berlin:
Gemessen an den Ergebnissen war diese Koalition besser als ihr Ruf.
Landtagspräsidentin Gabriele Brakebusch (CDU) stellt rückblickend nicht
der Sacharbeit, aber dem Klima im Landtag ein schlechtes Zeugnis aus. „Die
Respektlosigkeit hat inzwischen Überhand genommen“, sagte sie und warf dies
nicht nur der AfD vor, die fast alle der 18 Ordnungsrufe kassiert hatte.
Auch die anderen Fraktionen hätten sich „von dieser aufgeheizten Stimmung
mitreißen lassen“.
Und dennoch wird sich im neu zu wählenden Landesparlament wahrscheinlich
die Konstellation „AfD gegen alle“ und umgekehrt wiederholen. Zumindest die
erste Reihe der CDU distanziert sich weiterhin klar von der AfD. Mit der
Rückkehr der einst starken Liberalen nach zehn Jahren könnte eine sechste
Landtagsfraktion hinzukommen – und damit neue Koalitionsoptionen eröffnen.
Die Grünen machen schon einmal ein Klimaschutzgesetz zur Bedingung für die
erwartete Fortsetzung von „Kenia“. Wie hatte ihre Fraktionschefin Cornelia
Lüddemann schon Ende 2016 orakelt? „Wenn Kenia kippt, ist das der Beginn
von Schwarz-Blau!“ Ein Spruch, der weiterhin gelten dürfte.
Kenia war 2016 noch ein Wagnis, von Haseloff als „Weltneuheit“ gepriesen.
Im aktuellen Wahlkampf wirbt er nun mit dem an den ersten Bundeskanzler
Adenauer erinnernden Spruch „Jetzt ist nicht die Zeit für Experimente“.
Vielleicht zeigt genau das, was sich in den vergangenen fünf Jahren in
Sachsen-Anhalt verändert hat: Die Kenia-Koalition ist längst kein
Laborversuch mehr.
5 Jun 2021
## LINKS
[1] /Gruene-in-Sachsen-Anhalt/!5475834
[2] /Rainer-Wendt-doch-kein-Staatssekretaer/!5640534
## AUTOREN
Michael Bartsch
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