# taz.de -- Marianne Faithfulls Spoken-Word-Album: Minimalistische Schönheit | |
> Oden an Nachtigallen und Amseln: Marianne Faithfulls neues Album „She | |
> Walks in Beauty“ dreht sich um Gedichte aus der Romantik. | |
Bild: Marianne Faithfull | |
„Ich sehe nicht, was blüht zu meinen Füßen, / Welch süßer Balsam rings an | |
Zweigen hängt; / Doch auch im Dunkel ahn ich, was an süßen / Duftwellen | |
atmend in die Mainacht drängt“. So wie in diesen vier Zeilen redet heute ja | |
kein Mensch mehr und die Frage, ob es je eine/r im Alltag tat, macht sie | |
umso schöner. | |
Zur „Ode an eine Nachtigall“ gehören sie, wie die Schriftstellerin Gisela | |
Etzel ein Gedicht des englischen Romantikers John Keats übersetzt hat: „Ode | |
to a Nightingale“, geschrieben im Londoner Frühling des Jahres 1819. Den | |
Chroniken zufolge war er zeitig. | |
Im spät einsetzenden Frühjahr 2021 gibt es jetzt Keats’ Gedicht im | |
englischen Original zu hören: „I cannot see what flowers are at my feet, / | |
Nor what soft incense hangs upon the boughs, / But, in embalmed darkness, | |
guess each sweet / Wherewith the seasonable month endows“, spröde und | |
entschlossen redet Marianne Faithfull die Amsel und den Wald an, wandert | |
dabei über einen Teppich aus sakralen und geisterhaften Synthesizersounds | |
und Loops. | |
Von der [1][britischen Musikerin und Schauspielerin Faithfull] – hat da wer | |
Sixties-Ikone gesagt? – liegt nämlich seit kurzem ein Spoken-Word-Album mit | |
behutsamer musikalischer Umrahmung vor. „She Walks in Beauty“ heißt es, | |
nach dem Gedicht eines anderen Engländers: Lord Byron, ein Popstar, als es | |
diesen Begriff noch gar nicht gab, einer, der mit Keats und Percy Bysshe | |
Shelley so etwas wie das romantische Dreigestirn per se bildete. | |
## Von Verklärung keine Spur | |
Faithfull spannt auf „She Walks in Beauty“ aber noch einen weiteren Bogen, | |
insgesamt präsentiert sie elf Texte von sechs Lyrikern. Mit William | |
Wordsworth hat sie den Mitinitiator der romantischen Schule an Bord, mit | |
Lord Alfred Tennyson einen von ihr geprägten späteren Dichter. Thomas Hoods | |
„The Bridge of Sighs“, „Die Seufzerbrücke“, hat es der Vormärz-Dichter | |
Ferdinand Freiligrath übersetzt, weist in seiner Sozialkritik über die | |
Romantik hinaus. Von Verklärung ist da keine Spur. | |
Für die Musik hat sich Marianne Faithfull mit einem vertrauten Mitstreiter | |
zusammengetan: dem australischen Künstler Warren Ellis, | |
Multiinstrumentalist des schmerzlich vermissten Instrumental Rocktrios | |
Dirty Three; er steuert ätherische Sounds bei, ähnlich denen auf den | |
letzten drei Alben von Nick Caves Band The Bad Seeds, dort fungiert Ellis | |
mittlerweile als maßgeblicher Komponist. Auch Cave ist mit von der Partie, | |
er spielt Klavier, an anderen Stellen des Albums sogar Vibraphon. | |
Der Cellist Vincent Ségal hat Marianne Faithfull bereits in den nuller | |
Jahren auf einer Tour mit Shakespeare-Sonetten begleitet. Dann sind da | |
noch Ambient-Pionier Brian Eno als Klarinettist und Effektmacher und | |
Augustin Viard, der klassisch ausgebildete Musiker bedient mit den Ondes | |
Martenot ein frühes elektronisches Musikinstrument. | |
Alle tragen zu dem kammermusikalischen Gesamtbild von „She Walks in Beauty“ | |
bei. Seine Musik gewinnt umso mehr, wo sie minimalistisch klingt. „She | |
Walks in Beauty“ darf auch in Marianne Faithfulls abwechslungsreicher | |
Diskografie noch einmal als Überraschung gelten, völlig ohne Vorläufer ist | |
die Idee allerdings nicht. | |
## Zugleich anspruchsvoll und erfolgreich | |
Bereits 1965 interpretierte Faithfull auf „Come My Way“, einer ihrer | |
frühesten Veröffentlichungen, mit „Down by the Salley Gardens“ ein Gedich… | |
das der irische Schriftsteller William Butler Yeats nach einem Folksong | |
geschrieben hatte. | |
An dieser Stelle sei erwähnt, dass Faithfulls Solokarriere um einige | |
Jahrzehnte länger ist als jenes Kapitel, das sie mit den Rolling Stones | |
teilt. Als Marianne Faithfull 1979 nach einer Drogensucht, die für sie | |
alles andere als romantisch war, mit dem von New Wave geprägtem Album | |
„Broken English“ ihr Comeback feierte, war darauf auch „Why D’Ya Do It?… | |
das Lied einer betrogenen Liebe. Der explizite Text geht auf Heathcote | |
Williams zurück, einem britischen Dichter, dem das Kunststück gelang, | |
zugleich anspruchsvoll und erfolgreich zu sein. | |
1986 beteiligte sich Faithfull an „Lost in the Stars“, einem großartigen | |
Gedenkalbum für Kurt Weill. Sie singt darauf den antifaschistischen Song | |
„Ballad of the Soldier’s Wife“, den Weill mit Bertolt Brecht als Texter | |
geschrieben hatte. Produziert hat „Lost in the Stars“ Hal Willner, ein | |
Jazz-, Rock- und Avantgarde-Fan, der als Musikkurator bezeichnet werden | |
könnte und 1987 auch für Faithfulls Album „Strange Weather“ an den Reglern | |
saß. | |
„She Walks in Beauty“ ist ihm gewidmet: Der US-Amerikaner Hal Willner ist | |
im April 2020 an Covid-19 gestorben, während Marianne Faithfull selber mit | |
der Krankheit kämpfte, aber ihre schwere Erkrankung überstanden hat. Zum | |
Glück. Beinahe wäre ihr neues Album Fragment geblieben. „Verlassen! Ach, | |
dies Wort ist wie das Klingen / Trostloser Glocken, das zu mir mich | |
mahnt!“, heißt es bei John Keats. | |
18 May 2021 | |
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## AUTOREN | |
Robert Mießner | |
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