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# taz.de -- Türkische Offensive gegen PKK: Tod aus der Luft
> Im Nordirak führt die Türkei einen Drohnenkrieg gegen die PKK. Immer
> öfter werden dabei auch Zivilist:innen zu Opfern.
Bild: Eine Drohnenattacke hat im Juni 2020 das Geschäft von Kuna Masi zerstört
Der Donner hallt wider von den Felswänden der Kandil-Berge, als Mina
Abdullah die Beweisstücke aus dem Kofferraum seines Geländewagens holt.
Zwei Stück rostiges Metall. „Das sind die Reste der Rakete, die die Türkei
abgeschossen hat“, sagt der 57-Jährige. „Es ist ein Wunder, dass niemand
getötet wurde.“
Es ist Anfang April, als Mina Abdullah von dem Angriff erzählt, der das
Dorf für immer verändert hat. Am 15. Februar 2021 feuerte eine türkische
Kampfdrohne sieben Raketen auf Abdullahs Heimatdorf Shenie am Fuße der
Kandil-Berge, wenige Kilometer entfernt von der iranischen Grenze, und
verletzte dabei eine zivile Person schwer. Zwei Drittel der
Bewohner:innen hätten seitdem das Dorf verlassen, er selbst habe seine
zwölf Kühe verkauft, weil es inzwischen zu gefährlich sei, die Tiere hinauf
in die Berge zu treiben, sagt Abdullah. „Fast jeden Tag fliegen die Drohnen
über dem Dorf, und immer, wenn es donnert, zucken die Kinder zusammen und
rufen: Bombardieren sie uns wieder?“
Wir stehen auf einer Anhöhe wenige Kilometer entfernt von Shenie, mit dem
Finger wischt Mina Abdullah auf seinem Smartphone über die Fotos von
eingestürzten Hauswänden. Eigentlich hatte er uns in sein Dorf eingeladen,
doch die Soldaten am irakischen Checkpoint haben uns aufgrund von
Sicherheitsbedenken die Durchreise verweigert. „Sie wollen nicht, dass
jemand darüber spricht, was hier passiert“, glaubt Abdullah.
Was derzeit in der kurdischen Autonomieregion im Nordirak passiert, ist
eine weitere Etappe eines Kriegs, der seit mehr als zwei Jahrzehnten
weitgehend fernab der Aufmerksamkeit internationaler Medien ausgetragen
wird. Eines Kriegs, den die Türkei gegen die Milizen der Kurdischen
Arbeiterpartei (PKK) führt, die von der Türkei und ihren Nato-Partnern
Deutschland, EU und USA als Terrororganisation eingestuft wird – und dem
immer mehr Zivilist:innen zum Opfer fallen. Es ist ein Krieg, der seit
Ende April erneut eskaliert.
Am 23. April hatte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan eine neue
Offensive unter dem Namen „Operation Klauenblitz“ gegen die PKK im Nordirak
gestartet und die Regionen Metîna, Avaşîn und Zap aus der Luft angreifen
lassen. „Mehrere Terroristen wurden neutralisiert“, erklärte Erdoğan kurz
darauf in einer Videobotschaft. Ziel der Offensive sei es, die
„Terrorbedrohung“ entlang der türkischen Südgrenze „vollständig zu
beenden“. Die PKK erklärte kurz darauf, der Widerstand gegen die Invasion
der türkischen Armee sei ein Kampf von „historischer Bedeutung“, der
verhindern solle, dass die Türkei an der Grenze eine Pufferzone einrichte
und mit der Besatzung die Kontrolle über die kurdischen Gebiete im Irak
erlange.
1978 hatte der kurdische Politiker Abdullah Öcalan gemeinsam mit anderen
Aktivisten die marxistische kurdische Partei PKK gegründet. Infolge der
verstärkten Repression gegen Kurd:innen nach dem Putsch im Jahr 1980
begann die PKK 1984 den bewaffneten Kampf gegen den türkischen Staat, in
dem bis heute etwa 40.000 Menschen gestorben sein sollen. Schon Anfang der
90er hatte die PKK ihr Hauptquartier in die Kandil-Berge verlegt. Im Jahr
1992 hatte der irakische Diktator Saddam Hussein der Türkei erlaubt, die
PKK auf irakischem Territorium zu bekämpfen.
Sechs Jahre später verpflichteten sich die beiden größten kurdischen
Parteien im Nordirak im von den USA mediierten Washington-Agreement, der
Türkei im Kampf gegen die PKK zu helfen. Das türkische Militär bekam die
Erlaubnis, Operationen bis 40 Kilometer ins Landesinnere durchzuführen.
„Der Kampf gegen die PKK sichert die Raison d’Être der Autonomieregion
Kurdistan“, sagt die Politikwissenschaftlerin Dastan Jasim, die am
[1][GIGA Institut für Nahost-Studien] in Hamburg forscht.
Im Zuge der Friedensgespräche zwischen der Türkei und der PKK hatte sich
die Guerilla 2013 bereit erklärt, sich komplett aus der Türkei in die
Kandil-Berge zurückzuziehen. Doch der Abbruch der Gespräche hat den Kampf
2015 neu entfacht. Es ist ein Krieg, den die Türkei ohne Bodentruppen und
vorwiegend mit Drohnen führt.
„Eigentlich sollten Drohnen dazu führen, zivile Schäden zu begrenzen“, sa…
Chris Woods von der britischen Nichtregierungsorganisation [2][Airwars],
die Daten zu Luftkriegen auswertet. „Trotzdem sehen wir im vergangen Jahr
einen Anstieg um 31 Prozent von Vorfällen, bei denen Zivilist:innen
betroffen sind.“ Zwischen 27 und 33 Menschen seien dabei getötet worden.
Die Menschenrechtsorganisation Christian Peacemaker Team (CPT) zählt seit
2015, dem Ende der Waffenruhe, 99 zivile Todesopfer und 109 Verletzte in
der kurdischen Autonomieregion im Nordirak.
Es ist ein Freitag Ende März. Bakr Baiz Ali, ein kleiner Mann in Anzug und
Adiletten, steht unter der Eiche auf seiner Veranda in der Kleinstadt Qalat
Dizah, als er uns begrüßt. „Diese Angriffe sind das Resultat eines
innenpolitischen Konflikts in der Türkei, und doch sind wir es, die den
Preis dafür zahlen müssen“, sagt der 56-Jährige. Er ist Bürgermeister der
Region Peshdar im Nordosten des Irak, wo knapp 150.000 Menschen leben. Auch
das Dorf Shenie gehört zu seinem Regierungsbezirk.
Elf Mal sei die Region im vergangenen Jahr angegriffen worden, 3.399
Menschen seien vertrieben worden, 48 Dörfer hätten evakuiert werden müssen.
Auch die Stadt Qalat Dizah mit ihren 80.000 Bewohner:innen ist 2019
Ziel eines Angriffs geworden, als die Türkei auf dem Universitätsgelände
einen PKK-Kämpfer bombardiert hat.
Für Bakr Baiz Ali ist die Schuldfrage schnell beantwortet: „Wir sind Opfer
einer türkischen Staatsmentalität, die nach Expansion strebt, weil sie
davon ausgeht, dass wir noch immer in Zeiten des Osmanischen Reichs leben.
Die PKK wird als Vorwand genommen, um die Expansion weiterzuführen.“ Dabei
sei die PKK lediglich die Reaktion auf eine autoritäre Staatsführung
innerhalb der Türkei. „Jeder, der sich auflehnt, wird als Terrorist
diffamiert.“
Das Schlimmste sei die Instabilität, die nach dem Sieg über den sogenannten
Islamischen Staat im Jahr 2017 in der Region durch die türkischen Drohnen
geschaffen werde. „Wir wissen nicht, ob wir unsere Kinder heute zur Schule
schicken oder ob wir morgen unsere Felder bestellen können. All das hängt
von der Stimmung der türkischen Remote-Piloten ab“, sagt Bakr Baiz. Er
fühle sich hilflos, weil er – obgleich Bürgermeister – die Betroffenen
nicht einmal entschädigen könne. Zwar schicke er nach jedem Drohnenangriff
einen Bericht in die Hauptstadt der Autonomieregion, nach Erbil, doch die
Regierung ignoriere seine Bitten um Hilfsgelder meist.
Dies hat auch damit zu tun, dass die regierende Partei in Erbil, die
Demokratische Partei Kurdistans (PDK) der Barzani-Familie, eng mit der
Türkei zusammenarbeitet. „Es gibt lange geheimdienstliche, militärische und
auch wirtschaftliche Verstrickungen zwischen der Türkei und den kurdischen
Parteien im Nordirak“, sagt die Politikwissenschaftlerin Dastan Jasim.
Inzwischen hat die Türkei im Einverständnis mit der Regierung der
kurdischen Autonomieregion in Erbil insgesamt 37 Militärbasen auf
irakischem Territorium errichtet. Laut Recherchen der
Menschenrechtsorganisation [3][CPT] auch jene, von denen aus die
Bayraktar-TB2-Drohnen gesteuert werden, die einen Großteil der Angriffe im
Nordirak fliegen. Wahrscheinlich auch jenen Angriff, der sich am 27. Juni
2019 in Bakr Baiz’ Regierungsbezirk ereignete. Auf der Zickzackstraße, die
in die Kandil-Berge führt.
Eine Gänsefamilie watschelt über den islamischen Friedhof in Chwarqurna, am
Himmel hängen schwere, dunkle Wolken. Mamost Mohammed Abdallah Ally trägt
eine Sonnenbrille und stützt sich mit dem linken Arm auf seinen Krückstock,
mit dem rechten auf den Grabstein. Nebeneinander sind hier sein Vater, sein
Bruder Haryed und seine Schwester Kurdistan begraben, gestorben mit 43, mit
18 und mit 29 Jahren. In den Beton, in den die Gräber eingelassen sind, hat
jemand geritzt: „Hier ruhen die Märtyrer der Zickzackstraße“.
## Kekse für eine türkische Firma
„Das Tragischste an der ganzen Sache ist“, sagt der 33-Jährige, als er
später die Bilder von der Unglücksstelle zeigt, „dass ich mit diesem
Lastwagen Kekse für eine türkische Firma ausgeliefert habe und uns dann
ausgerechnet eine türkische Rakete zerbombt hat.“ Bei dem Angriff am 27.
Juni 2019 wurden laut Angaben der PKK drei Guerillas getötet – und drei von
Allys Familienangehörigen. Sein Bein wird zerfetzt, er verliert einen Teil
seines Gehörs.
An jenem Tag hätten sie das Dorf seines Vaters in den Bergen besucht.
Ally, die Eltern, seine Frau, die zwei Kinder und zwei seiner Geschwister.
Als sie sich am Nachmittag auf den Heimweg ins Tal machten, sei ein Wagen
dicht hinter ihnen gefahren. „Wir waren uns sicher, dass das ein
PKK-Pick-up war, und wollten ihn an uns vorbeiwinken“, sagt Ally. Doch das
Auto habe sie weiterhin verfolgt, bis es plötzlich in einer Kurve versucht
habe, sie zu überholen. In diesem Moment habe es den ersten Einschlag
gegeben, dann den zweiten, er sei aus dem Auto geschleudert worden. Erst
habe er die Mutter aus dem Auto gehievt, dann seine Frau und die Kinder.
Für die anderen habe er nichts mehr tun können. Seine Schwester sei von der
Rakete in den Bauch getroffen worden. „Es sah aus, als hätte sie jemand am
Sitz festgenagelt.“ Ihre Körper verbrannten. Die Überreste liegen jetzt auf
dem Friedhof in Chwarqurna.
Ally ist wütend. Er habe der Regierung in Erbil geschrieben, erzählt er,
doch bis heute habe er keine Entschädigungszahlung erhalten. Doch die
Schuld für den Tod seiner Verwandten gibt Ally allein der PKK. „Die sollen
uns einfach in Ruhe lassen und den Krieg in ihrem Land austragen“, sagt er.
„Es ist doch klar: Die Türkei ist wie ein Bienenstock, wenn du da
hineinstichst, dann wehrt sie sich. Ohne die PKK wären meine
Familienangehörigen heute noch am Leben.“
Allys Geschichte ist eine, wie sie den Verantwortlichen in Ankara gefallen
dürfte. Immer wieder betonte Erdoğan in der Vergangenheit, es gebe keinen
Raum für die „separatistische Terrororganisation“ in der Zukunft der
Türkei, des Iraks oder Syriens. Gerade hat mit der „Operation Klauenblitz“
die 13. türkische Militäroperation seit 1984 im Nordirak begonnen. Wie
viele zivile Opfer es seitdem gegeben hat, will das türkische
Verteidigungsministerium auf Anfrage der taz „aufgrund von
Sicherheitsmaßnahmen“ nicht sagen. Die Regierung veröffentlicht lieber
Videos, die zeigen, wie vermeintliche Terroristen aus der Luft getötet
werden. Insgesamt sollen seit 2015 laut Aussagen der PKK etwa 2.500
Guerillakämpfer im Nordirak getötet worden sein.
Auch anderswo hat die türkische Drohnenflotte Konflikte jüngst entscheidend
beeinflusst: In Libyen hat sie Haftars Truppen beim Vormarsch auf Tripoli
gestoppt. Bei einem Angriff im syrischen Idlib im März 2020 sollen laut
türkischer Regierung über 100 Panzer zerstört und über 2.000 syrische
Kämpfer getötet worden sein. In Bergkarabach hat die türkische Armee mit
Drohnen armenische Stellungen zerstört und den Krieg zugunsten
Aserbaidschans entschieden. „Türkische Drohnen sind zum Game-Changer in
internationalen Konflikten geworden“, sagt Chris Woods von der NGO
Airwars.
In der Türkei werden die Drohnen auf Paraden gefeiert wie Helden, besonders
die Bayraktar-TB2-Drohne, die im Nordirak eingesetzt wird. Entwickelt wurde
sie von der Rüstungsfirma Baykar Makina, die von Selçuk Bayraktar geführt
wird – dem Schwiegersohn des türkischen Präsidenten Erdoğan. Doch den
Erfolg verdanken die Drohnen auch den Präzisionsraketen des
quasistaatlichen Herstellers Roketsan. Zwar betont das türkische
Verteidigungsministerium immer wieder, dass diese in der Türkei produziert
werden, doch das ARD-Magazin „Monitor“ hat im vergangenen Jahr aufgedeckt,
dass deutsche Firmen mit ihrem Know-how zur Entwicklung der Raketen
beitrugen. Die bayerische Firma TDW soll „Bauteile, Gefechtsköpfe und
Technologie“ für die „Panzerabwehrlenkwaffen“ geliefert haben, die in der
Türkei später womöglich weiterentwickelt wurden.
Ob die Türkei in den Bergen des Nordiraks so viel Erfolg haben wird wie in
Bergkarabach oder Libyen, ist zu bezweifeln. „Die PKK ist seit fast 40
Jahren in Südkurdistan [Nordirak] und hat die Bevölkerung schon gegen den
IS verteidigt“, sagt Zagros Hîwa, der Sprecher der PKK im Nordirak. „Das
ist kein Krieg zwischen zwei Ländern, das ist der Freiheitskampf unseres
Volkes gegen eine Kolonialmacht, die eine Reihe von Massakern gegen unser
Volk verübt und ihren faschistischen Staat auf unserem Land errichtet hat.“
Die Fragen der taz beantwortet er mit Sprachnachrichten. „Dieser Feind
kennt keine Gnade mit den Kurden, ganz egal ob Freiheitskämpfer oder nicht.
Für die Türkei zählt: Nur ein toter Kurde ist ein guter Kurde.“
Es ist einer der Gründe, warum Mina Abdullah sein Dorf Shenie trotz des
Angriffs im Februar, der vermutlich PKK-Kämpfern galt, die sich in der Nähe
des Dorfes aufhielten, nicht verlassen will. „Wenn wir jetzt aufgeben, dann
wird die Türkei dieses Gebiet besetzen“, sagt er. „Wir sind es gewohnt,
Widerstand zu leisten, wir haben keine andere Wahl.“
In den 80ern habe der irakische Diktator Saddam Hussein sie angreifen
lassen, in den 90ern die Türkei, 2011 seien sie vom Iran beschossen worden.
Er selbst hat ab 2014 als Peschmerga gegen den sogenannten Islamischen
Staat gekämpft, Seite an Seite mit der PKK, wie er erzählt. Zweimal sei er
dabei verwundet worden. Stolz zeigt er den Ausweis, den ihm die Soldaten
der Anti-IS-Koalition ausgestellt haben. Wie viele Menschen im Nordirak ist
er vom Westen enttäuscht und fühlt sich benutzt. Sie seien gut genug
gewesen, um gegen den IS zu kämpfen – aber vor den türkischen Drohnen
beschütze sie niemand.
Dass es bald Frieden geben wird im Nordirak, daran glaubt derzeit niemand.
Erdoğan hat mit Blick auf die PKK angekündigt, die Türkei werde „kämpfen,
bis wir diese Mörderbanden beseitigt haben“.
Bakr Baiz, der Bürgermeister des Peshdar-Distrikts, fürchtet die neue
Offensive. „Nur die Türkei kann diesen Konflikt beenden. Sie haben den
PKK-Gründer Abdullah Öcalan eingesperrt, sie haben den Oppositionsführer
Selahattin Demirtaş von der HDP eingesperrt, und sie haben kein Problem
gelöst. 40 Jahre Krieg haben kein Problem gelöst – vielleicht sollten sie
es einmal mit Demokratie versuchen.“
Die Politikwissenschaftlerin Dastan Jasim sagt: „Das ist kein Konflikt, den
die Türkei führt, um jemanden zu besiegen.“ Genau wie die Frage der
Anerkennung des Genozids an den Armenier:innen sei der Konflikt ein
mächtiges innenpolitisches Instrument, „das immer dann aktiviert wird, wenn
es gerade nicht gut läuft für die Regierung“.
Mit der wirtschaftlichen und innenpolitischen Krise der Türkei steigt jetzt
wieder die Versuchung, den Konflikt zu eskalieren. Inzwischen hat auch das
irakische Außenministerium reagiert, es hat am 3. Mai den türkischen
Botschafter in Bagdad einbestellt und die Angriffe sowie die „fortlaufenden
Verstöße gegen die irakische Souveränität […] durch die türkischen
Streitkräfte“ verurteilt.
## Was vom alten Leben übrig blieb
Payman Talib, 31, sitzt auf dem Sofa in ihrem Wohnzimmer in der kleinen
Ortschaft Kuna Masi. Neben ihr steht ein Glas mit süßem Schwarztee, an der
Wand daneben lehnt ihre Beinprothese. Einmal die Woche fährt sie eineinhalb
Stunden mit ihrem Mann aus der Großstadt Sulaimaniyya hierher, um zu
reparieren, was von ihrem alten Leben übrig geblieben ist. Aus dem Fenster
kann sie den Dorfladen sehen, aus dessen brüchigen Wänden noch Metallbänder
ragen. Dort unten stand sie am Nachmittag des 15. Juni 2020 und hat
Getränke an die Ausflügler aus der Großstadt verkauft.
„Ich hatte ein wunderbares Leben, ich war eine gesunde Frau mit glücklichen
Kindern“, sagt Talib. „In nur einer Sekunde hat sich das alles geändert.
Meine Arme sind verbrannt, ich habe ein Bein verloren, und meine Kinder
haben noch immer Schrapnelle unter der Haut, die wahrscheinlich nie
entfernt werden können.“ Payman Talib erinnert sich an jedes Detail des
Angriffs. „Es war ein sonniger Tag. Viele Touristen waren im Dorf. Mein
Mann war Eier holen, ich war mit den Kindern allein im Laden. Zehn,
fünfzehn Minuten waren wir dort. Dann gab es plötzlich eine Explosion. Erst
dachte ich, eine Gaskartusche sei explodiert. Dann bemerkte ich, dass ich
den unteren Teil meines Körpers nicht mehr spüre. Ich wurde ins Auto
verfrachtet und ins Krankenhaus nach Sulaimaniyya gefahren.“
Später wird Human Rights Watch rekonstruieren, dass es eine türkische
Drohne war, die an diesem Nachmittag eine Präzisionsrakete auf Kuna Masi
abfeuerte; dass der Angriff einem Kämpfer der Iranian Kurdish Party for
Free Life of Kurdistan (PJAK) galt, einer Schwesterpartei der PKK, der
dabei getötet wurde. „Ich wusste das alles nicht, bevor ich die Nachrichten
gesehen haben“, sagt Payman Talib, und es sei ihr egal, warum die Rakete
abgefeuert wurde. „Mein Leben ist zerstört.“ Ihretwegen lebt die Familie
inzwischen nicht mehr im Dorf, sondern in der Stadt Sulaimaniyya. Mehrmals
pro Woche muss sie ins Krankenhaus, um sich dort behandeln zu lassen.
Entschädigung habe ihr bis heute niemand gezahlt. Weder die PKK noch die
Regierung in Erbil, noch die Türkei.
25 May 2021
## LINKS
[1] https://www.giga-hamburg.de/de/institute/giga-institut-f%C3%BCr-nahost-stud…
[2] https://airwars.org/
[3] https://www.coe.int/en/web/cpt/about-the-cpt
## AUTOREN
Bartholomäus von Laffert
Daniela Sala
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