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# taz.de -- Morde an Aktivisten im Irak: Töten mit System
> Der Irak steht vor einer Parlamentswahl, seit Monaten erschüttern Morde
> das Land. Die Opfer sind Kritiker der mächtigen Milizen.
Bild: Demonstranten mit einem Foto des getöteten Milizen-Kritikers Ihab al-Was…
Kairo taz | Irgendeine Überwachungskamera zeichnet die Morde fast immer
auf. Meist wird jemand am helllichten Tag auf offener Straße vor seinem
Haus oder im Auto von einem Exekutionskommando vom Motorrad aus
niedergeschossen. Es sind die Bilder, die dann im Fernsehen laufen oder in
sozialen Medien verbreitet werden.
Wie die Szenen der politischen Morde im Irak, so ähneln sich auch die
Profile der Opfer: Aktivisten oder Journalisten, die öffentlich die
Allmacht religiöser Parteien und schiitischer Milizen anprangern, entweder
in der Hauptstadt Bagdad oder im Süden des Landes.
Seit [1][2019, als eine Protestwelle gegen Korruption, Misswirtschaft und
Machtmissbrauch durch Milizen und die Regierung das Land erschütterte],
wurden [2][bis zu achtzig Aktivisten ermordet]. Viele Reformer haben sich
inzwischen in die als sicher geltenden kurdischen Gebiete im Norden des
Landes oder ins Ausland geflüchtet.
Die irakische Feministin und politische Reformaktivistin Israa Abed ist
eine von ihnen. Sie spricht über Internettelefon von ihrem Versteck in den
kurdischen Gebieten aus, wo der Arm der vom Iran gesteuerten Milizen
wahrscheinlich nicht hinreicht: „Ich habe Drohbotschaften erhalten. Sie
kennen meine Nummer, denn sie leben unter uns, geben sich zum Teil sogar
selbst als Aktivisten aus“, erzählt sie im Gespräch mit der taz.
## Premier zeigte Verständnis für Protest
Mehrere Dutzend Aktivisten würden sich aktuell zwischen den kurdischen
Gebieten und Bagdad hin und her bewegen. Für viele sei das Leben in den
kurdischen Gebieten zu teuer und das in Bagdad zu gefährlich, sagt Abed.
Auf beiden Seiten könnten sie sich nicht allzu lange aufhalten.
Noch Ende 2019 waren viele vor allem junge Aktivisten gegen die
grassierende Korruption auf die Straße gegangen. Ihr Ärger richtete sich
nicht nur gegen die Zentralregierung in Bagdad, sondern auch gegen die
religiösen Parteien und schiitischen Milizen, die für viele zum Inbegriff
der Selbstbereicherung und des Postenschacherns geworden sind.
„Durch unsere Proteste haben wir ihnen die religiösen Masken vom Gesicht
gerissen“, beschreibt Israa Abed die damalige Zeit des gefühlten Aufbruchs.
„Hinter ihrem heiligen Vorhang kam ihr wahres Gesicht zum Vorschein, ihre
Korruption, ihre krummen Geschäfte, ihr Stehlen im Namen der Religion.“
Immerhin haben sie erreicht, [3][dass der damalige Ministerpräsident Adel
Abdul Mahdi zurücktrat]. Wenige Monate später wurde die [4][Protestbewegung
von der Coronapandemie ausgebremst]. Auch der bis heute regierende Premier
Mustafa al-Kadhimi, der bei Amtsantritt seine Sympathie für die
Protestbewegung ausdrückte, hat wenig an dem verrotteten politischen System
verändert.
## Milizen schalten Kritiker aus
Mehr oder wenig machtlos sieht al-Kadhimi zu, wie die Milizen ihre Kritiker
ausschalten. Erst letzten Monat wurde [5][Ihab al-Wasni, einer der
Organisatoren der Proteste, in der schiitischen Stadt Kerbala erschossen.]
Weniger als 24 Stunden später fiel der Journalist Ahmad Hassan in der
ebenfalls mehrheitlich schiitischen Stadt Diwanija einem Mordanschlag zum
Opfer.
In einer nach dem Mord an al-Wasni veröffentlichten Telefonaufzeichnung
zwischen al-Wasni und Fahem al-Taie, einem weiteren Kritiker der Milizen,
hatten beide die Befürchtung ausgesprochen, dass sie demnächst selbst an
der Reihe sein könnten. „Einer der Miliz-Kommandanten, Qassem Musleh, wird
kommen, um unsere Knochen zu brechen“, sagten sie. Kurze Zeit nach dem
Gespräch waren beide tot, auf offener Straße erschossen. Die Aufzeichnung
verbreitete sich in sozialen Medien im Irak wie ein Lauffeuer.
„Er ist ein Mörder, Musleh ist ein Teil der iranischen Killermaschine, die
im Irak ihr Unwesen treibt“, sagt Israa Abed. Musleh, einer der
Kommandanten der schiitischen Volksmobilisierungseinheiten, einer
Schirmorganisation schiitischer Milizen, die 2014 gegründet worden war, um
den Islamischen Staat (IS) zu bekämpfen, wurde inzwischen festgenommen –
ein Politikum, denn seine Miliz ist eng mit dem irakischen
Sicherheitsapparat verwoben.
Musleh wird vorgeworfen, gegen die irakischen Antiterrorgesetze verstoßen
zu haben. Jedoch glauben nur wenige Iraker, dass er tatsächlich auch zur
Rechenschaft gezogen wird. Zu mächtig seien seine Beschützer im Regierungs-
und Sicherheitsapparat.
## Wahl im Oktober
Musleh ist kein Einzelfall: Laut einem vor wenigen Tagen veröffentlichten
[6][Bericht] der UN-Mission in Bagdad wurden im Zusammenhang mit den
Aktivistenmorde zwar zahlreiche Untersuchungen angeleiert. Sie liefen aber
allesamt ins Leere. Kein einziger der Morde hat bislang zu einem
Gerichtsprozess geführt oder gar zu einer Verurteilung.
Wie sich das alles auf die für Oktober angesetzte Parlamentswahl auswirken
wird, ist unklar. Unter Aktivisten im Irak wird kontrovers diskutiert, ob
es klug ist, die Abstimmung zu boykottieren. „Wir haben nicht nur ein
Problem mit den Mördern, sondern mit dem gesamten politischen System“, sagt
Abed.
Auf Dauer aber werde die Politik der Einschüchterung durch politische Morde
nicht aufgehen. „Wir bleiben wie ein Messer in ihrem Fleisch. Wir werden
nicht still bleiben. Wir ordnen nur unsere Karten neu, schließen unsere
Ränge und warten auf unsere Chance“, sagt Abed oder hofft sie, während sie
sich irgendwo im kurdischen Nordirak vor ihren potenziellen Mördern
versteckt.
8 Jun 2021
## LINKS
[1] /Protestbewegung-im-Irak/!5656703
[2] https://www.nytimes.com/2021/05/25/world/middleeast/iraq-protest-murder-ira…
[3] /Proteste-im-Irak/!5632399
[4] /Arabische-Proteste-machen-Corona-Pause/!5674391
[5] /Politische-Morde-im-Irak/!5766230
[6] https://www.thenationalnews.com/mena/un-iraq-s-militias-are-killing-activis…
## AUTOREN
Karim El-Gawhary
## TAGS
Irak
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Irak
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