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# taz.de -- Parlamentswahl im Irak: Neuwahl mit alten Kräften
> Nach Massenprotesten wird im Irak neu gewählt. Einige hoffen auf einen
> Aufbruch. Doch die alten Akteure dürften sich erneut durchsetzen.
Bild: Trauer in Bagdad: die Familie des erschossenen Ahmad al-Lami
Bagdad/Falludscha taz | Sie hängen überall in der Stadt, die Kontrapunkte
zur einstigen Herrschaft des sogenannten „Islamischen Staats“ (IS):
Wahlplakate mit Frauen, die für einen Sitz im irakischen Parlament
kandidieren. Die irakische Stadt Falludscha, noch vor wenigen Jahren im
Griff der militanten Islamisten, befindet sich im Wahlkampf für den
[1][Urnengang am Sonntag]. Frauen spielen dabei eine wichtige Rolle.
Doa Ibrahim ist eine der jungen Aktivistinnen und Aktivisten in Falludscha.
Sie ist Teil einer Protestbewegung, die vor zwei Jahren auf die Straße
gegangen ist, um gegen Korruption und Misswirtschaft zu protestieren und
ihr Land zu verändern. Sie hätten sich mit ihrer damaligen Forderung nach
einer vorgezogenen Neuwahl durchgesetzt, sagt Doa, während sie auf einer
Bank an der Uferpromenade des Euphrats sitzt, einem der Treffpunkte für
junge Menschen in der Stadt.
Doa trägt ein Kopftuch, aber keine Abaja, den schwarzen Umhang, den die
meisten Frauen in diesem konservativen sunnitischen Teil des Landes tragen,
stattdessen eine weiße Bluse und einen marineblauen Hosenanzug.
Doa setzt ihre Hoffnungen vor allem auf die Kandidatinnen. „Das sind Idole
für uns Frauen in Falludscha. Wir sind eine konservative
Stammesgesellschaft, aber deren Kandidatur zeigt, dass wir uns
weiterentwickeln“, sagt sie. Von den 3.240 Menschen, die sich landesweit
zur Wahl stellen, sind 950 Frauen.
Einige hundert Meter vom Euphrat entfernt trifft sich in einem Haus eine
Gruppe freiwilliger junger Wahlbeobachter, viele von ihnen Aktivisten aus
der Protestbewegung. Sie nehmen an einer Schulung darüber teil, worauf
sie bei der Wahlbeobachtung achten müssen und wie sie Verletzungen des
Wahlrechtes dokumentieren können. Sie gehören zur „Organisation für Frieden
und Freiheit“, die 450 junge Wahlbeobachter organisiert und registriert
hat.
Unter ihnen ist Mai Abdel Fatah. „Ich habe mich gemeldet, weil ich hoffe,
dazu beizutragen, dass diese Wahl anders wird. Ich will sicherstellen, dass
das Recht und die Integrität aller Iraker und Irakerinnen gewahrt wird“,
sagt die Wahlbeobachterin. Mai ist zudem eine von rund einer Million
Erstwählenden, die mit zwanzig Millionen anderen am Sonntag an die Urnen
gerufen sind.
## Tiefe Wunden
Doch während bei Doa und Mai in Falludscha Aufbruchstimmung herrscht, geben
sich andere, die mit der Protestbewegung verbunden sind, skeptisch. Umm
Alaa sitzt im schiitischen Armenviertel Sadr City in der Hauptstadt Bagdad
mit ihren beiden verbliebenen Söhnen vor dem Bild ihres dritten
verstorbenen Sohnes Ahmad al-Lami. [2][Der hatte mit seinem Tuktuk, einer
Motorrikscha, bei den Protesten vor zwei Jahren vom Tahrirplatz in Bagdad
verletzte Demonstranten ins Krankenhaus transportiert, bevor er selbst, wie
damals mindestens 600 andere, von den Sicherheitskräften erschossen wurde.]
„Die Demonstranten wollten nur ihre Rechte. Sie sind auf die Straße
gegangen und wurden zerstört, ohne dass sie irgendetwas verändert haben.
Einer von ihnen war mein Sohn. Er ist auf die Straße gegangen und kam tot
zurück“, blickt Umm Alaa zurück. Zur Wahl am Sonntag werde sie nicht
gehen. „Die wird nichts bringen. Unsere Politiker sind alle aus dem
gleichen Stoff.“
Auch Alaa, ihr ältester Sohn, erwartet nichts: „Dieselben Parteien
zerstören die Menschen. Sie halten die Jugend auf, sie sind der Grund,
warum mein Bruder tot ist.“ Alaa hat das gesamte politische System satt, in
dessen Zentrum die Religionszugehörigkeit steht, das seiner Meinung nach
aber verlogen ist. „Den Parteien ist es egal, ob Menschen überleben oder
sterben. Sie können damit Wähler mobilisieren, aber in Wirklichkeit ist
ihnen egal, ob jemand Sunnit, Schiit oder Christ ist oder eine andere
Religion hat. Sie kümmern sich nur um sich selbst.“
Nach dem Gespräch bringt uns Alaa zu einem Parkplatz um die Ecke ihres
Hauses. Dort steht noch das ausgebrannte Wrack des Tuktuks seines Bruders.
Nachdem die Sicherheitskräfte ihn erschossen hatten, zündeten sie die
Motorrikscha an, die der Familie den Lebensunterhalt sicherte. Alaa steht
schweigend davor; die Neuwahl kann diese alte Wunde nicht heilen.
## Hoffnung auf eine Kurskorrektur
Der irakische Journalist und Kolumnist Ibrahim Taha al-Obaidi versucht
gegenüber der taz das Dilemma der jungen Protestbewegung zu erklären: „Die
Protestbewegung hat vor zwei Jahren eine vorgezogene Neuwahl gefordert, in
der Hoffnung, damit neue politische Kräfte ins Parlament und dann in die
Regierung zu bekommen.“ Das Problem sei aber, dass sich die Bewegung nicht
ausreichend organisiert habe. „Sie sind gespalten in jene, die das System
von innen heraus reformieren wollen, und jene, die das gesamte System
stürzen wollen“, sagt al-Obaidi.
Er erwartet, dass die Bewegung am Ende vielleicht ein paar Dutzend
Kandidaten im Parlament stellen wird und kleinere Reformblöcke entstehen
werden, für die die Protestbewegung der Geburtshelfer ist. „Sie werden der
Jugend näher stehen, moderner sein und neuen Wind hineinbringen und anders
sein als die schiitischen Parteienblöcke, die traditionell die irakische
Politik dominieren. Im Vorfeld der Abstimmung wurde das Wahlrecht
reformiert, um kleineren Parteien und Unabhängigen größere Chancen zu
geben. Der Kolumnist al-Obaidi spricht vom „Beginn einer Korrektur des
politischen Systems“.
Aber er hat auch keinen Zweifel daran, [3][dass am Ende doch wieder die
traditionellen konfessionellen Parteien ihre Anhänger mobilisieren und
damit auch die Politik bestimmen werden]. Die alten großen Player in der
irakischen Politik werden voraussichtlich auch die neuen sein – allen voran
der schiitische Politiker Muktada al-Sadr, eine Reihe von schiitischen
Milizpolitikern, die dem Iran nahestehen, ein paar bekannte korrupte
sunnitische Stammesvertreter und die üblichen kurdischen Verdächtigen.
Vielleicht fasst Ajad al-Iraki, einer der Aktivsten der Protestbewegung,
das Ganze bei einem Treffen in einem Bagdader Café am besten zusammen: „Im
Irak etwas zu verändern“, sagt er, „ist wie der Versuch, eine Papiertüte
mit einem Loch aufzublasen.“
10 Oct 2021
## LINKS
[1] /Boykottaufrufe-vor-Parlamentswahlen/!5806639
[2] /Protest-im-Irak/!5643962
[3] /Boykottaufrufe-vor-Parlamentswahlen/!5806639
## AUTOREN
Karim El-Gawhary
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