# taz.de -- Künstlerische Antwort auf Fukushima: Im Land der 72 Jahreszeiten | |
> Natur, Technik und Kultur Japans:„Tree and Soil“ von Antoinette de Jong | |
> und Robert Knoth im Museum Kulturspeicher Würzburg. | |
Bild: Eine Seite aus „Tree and Soil“ von Antoinette de Jong und Robert Knoth | |
Die vielschichtige Beziehung zwischen Natur, Technologie und Kultur, darum | |
geht es bei „Tree and Soil“, einer Video-Installation und einem Buch; es | |
ist die jüngste Kreation des international bekannten und vielfach | |
ausgezeichneten Künstlerduos Antoinette de Jong (*1964) und Robert Knoth | |
(*1963). | |
Auslöser des Langzeitprojekts war die Natur- und [1][Atomreaktorkatastrophe | |
in Fukushima, Japan.] Am 11. März 2011 triggerte ein schweres Seebeben | |
einen Tsunami. Gigantische Wellen überspülten den Atomreaktorkomplex | |
Fukushima Daiichi, in den Reaktorblöcken kam es zur Kernschmelze. Das | |
Gebiet um Ökuma in Japans Norden ist seither radioaktiv verstrahlt. Eine | |
No-go-Zone. | |
Die beiden Niederländer fotografierten und filmten über fünf Jahre in | |
Fukushima. In dieser Zeit unternahmen sie sechs Reisen in das kontaminierte | |
Gebiet, jeweils zu einer anderen Jahreszeit. „Wir wollten verstreichende | |
Zeit visualisieren“, sagt Knoth am Telefon. „Japan kennt 72 | |
Mikrojahreszeiten, nicht nur 4 wie wir. Leben im Rhythmus der Natur ist | |
sehr bedeutsam in der japanischen Kultur.“ | |
## In der Jahreszeit Shosho blüht die Baumwolle | |
Die Jahreszeit Seimei beispielsweise kennzeichnen die Begriffe „klar“ und | |
„hell“. Schwalben kehren zurück. Wildgänse fliegen nach Norden, die ersten | |
Regenbögen sind zu sehen. In der Jahreszeit Shosho blüht die Baumwolle, | |
nimmt die Hitze ab, reift der Reis. | |
Unterwegs in Japan suchten de Jong und Knoth einige der Menschen auf und | |
interviewten sie, die damals ihre Heimat verlassen mussten. Insgesamt waren | |
es 160.000. Sie streiften mit Geigerzählern durch die radioaktive | |
Landschaft, vor allem Wälder, denn 70 Prozent des heute noch belasteten | |
Gebiets besteht aus Wald. | |
Der Ort Ökuma, seine Häuser, seine Straßen und die umgebende Landschaft – | |
menschenleer. Im Buch findet sich die Fotografie einer Tankstelle, noch | |
immer brennt Licht im Trinkflaschendepot. Eine asphaltierte Straße ist | |
vollkommen überwuchert. Die verstrahlte Natur greift Raum, drängt die einst | |
so sorgsam gepflegte japanische Kulturlandschaft zurück. | |
## Die Sammlung des Würzburger Arztes von Siebold | |
„Tree and Soil“ hat eine zweite Zeit- und Erzählebene: De Jong und Knoth | |
verknüpften ihre eigene visuelle Arbeit in faszinierender Weise mit der | |
Sammlung des Würzburger Arztes Philipp Franz Balthasar von Siebold | |
(1796–1866). Sie befindet sich im Besitz des Museums Naturalis im | |
niederländischen Leiden. | |
Zum historischen Kontext: Neben Schiffen aus China und Korea war es nur | |
Holländern über den Handelsposten auf Dejima, einer kleinen Insel vor | |
Nagasaki, erlaubt, Handel zu treiben mit dem abgeschotteten Japan. Von | |
Siebold, mit dem Auftrag angereist, eine naturkundliche Sammlung anzulegen, | |
hielt in Nagasaki Sprechstunden als Arzt ab und lehrte bald auch westliche | |
Medizin. | |
Während eines Besuchs in Leiden fand das Duo den Link. „Von Siebold zeigte | |
sehr schön den Reichtum und den Wert der Natur und seine Liebe für Japan, | |
für die japanische Landschaft. Er lebte zu Beginn des industriellen | |
Zeitalters, die Wissenschaft entwickelte sich stark“, sagt Robert Knoth, | |
wobei am Ende ein alles umwälzender Fortschritt auch zu so etwas wie der | |
Katastrophe im Atomkraftwerk geführt habe. | |
## Poetisches Kunstwerk und Entdeckungreise | |
Das Buch ist ein poetisches Kunstwerk und aufgrund des Designs außerdem | |
eine kleine Entdeckungsreise: In „Tree and Soil“ finden sich Zeichnungen | |
von Waldgeistern, Malereien zur Kultur Japans, Holzschnitte, Abbildungen | |
von Flora und Fauna. Samen, Blumen, präparierte Insekten, Vögel, Kleintiere | |
aus Siebolds Kollektion werden mit den Bildern des Fotografenpaars zu | |
Fukushima verbunden. | |
Da sprudelt ein Bach, und Gärten verwildern im menschenlosen Raum. In einem | |
kritischen Essay reflektiert Erik A. de Jong von der Universität Amsterdam | |
schließlich über die technologische Entwicklung und unseren Umgang mit der | |
Erde. Forschung, Einordnung, Erfindergeist, Wissenschaft, Machbarkeit – das | |
war das Vorspiel zum Anthropozän, in dem unser Planet durch menschliches | |
Handeln massiv gefährdet ist. | |
In den langen, ruhigen, überblendeten Einstellungen der Video-Installation | |
finden sich Impressionen vom Wald. Es ist das Rauschen der Blätter im Wind | |
zu hören, ein Klangteppich aus Vogel- und Kleintierstimmen, Schneeflocken | |
wirbeln – man steht auf radioaktivem Boden, es ist eine kontemplative | |
Erfahrung, ein Eintauchen in die Natur Japans. Ein Innehalten. Wunderschön. | |
Unbequem. | |
In kurzen Texten wird eine tiefe Verbundenheit mit der Erde deutlich: Neben | |
einem Shinto-Priester kommen in „Tree and Soil“ das Ehepaar Sadami & | |
Hanayodes Kobayashi zu Wort. Sie wollten im selbstgebauten Haus alt werden. | |
Am 11. März pflanzten sie einen Kirschbaum, um die Geburt ihres Enkels zu | |
ehren. Sie freuten sich darauf, den Baum zugleich mit dem Kind wachsen zu | |
sehen. In Japan symbolisiert der Kirschbaum Hoffnung. | |
29 Apr 2021 | |
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[1] /Atomenergie-und-Klimakatastrophe/!5757392 | |
## AUTOREN | |
Gunda Schwantje | |
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