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# taz.de -- Denkschleifen in Zeiten der Isolation: Nullen und Einsen, Emojis un…
> Jeden Morgen das gleiche Dilemma: Offene Tabs und Schlagzeilen lenken vom
> Denken ab. Wo ist nochmal der Aus-Knopf? Ein Essay aus der neuen
> Normalität.
Bild: In der autofiktionalen Denkschleife vor dem Morgenkaffee
Ich schreibe, um herauszufinden, was ich denke. Daher muss ich morgens
aufpassen, was ich denke, bevor ich schreibe. [1][In Zeiten von social
Distancing] ist das fast unmöglich: Da die Öffentlichkeit, an der ich mein
Schaffen stets ausgerichtet habe, zusammengeschrumpft ist, verfange ich
mich jeden Morgen im gleichen Dilemma. Anstatt mir mithilfe von
Alltagsbeobachtungen, Konzerten oder Gesprächen die Welt vom Leib zu
halten, um klar denken zu können, lasse ich sie ungefiltert auf mich
einprasseln – und [2][all die offenen Tabs], Bücher und Zeitungen, von
denen ich mir Erkenntnisse über das große Ganze erhoffe, machen alles nur
komplizierter.
Sie geben mir das Gefühl, alles wurde schon gedacht, gesagt und
geschrieben, egal, wie sehr ich mich anstrenge, aus dem Wirklichkeitsteig
den nächsten hot take für einen Text oder das nächste Konzept für ein
Musikprojekt zu kneten. Doch war das, was ich denke, nicht immer schon das,
was andere denken? Liegt die Macht politisch forcierter „Normalität“ nicht
darin, eine Gesellschaft aus Einzel-Ichs in ein Durchschnitts-Ich zu
verwandeln, um sie regierbar zu machen?
Als Kind wurde mir ständig eingebläut, ich solle ich selbst sein. Ich hatte
Angst davor, weil ich nie wusste, wie das geht. Zumal mir Menschen mit
großem Selbstbewusstsein bis heute unangenehm sind. Inzwischen glaube ich,
ich selbst zu sein heißt eher, ein Ich aus den existierenden Ich-Schablonen
zusammenzubasteln – und dass es gesund ist, sich selbst ein bisschen fremd
zu sein, um nicht der Illusion anheim zu fallen, man sei ein völlig
autonomes Wesen und nicht stets von anderen und anderem abhängig.
So steckte ich noch vor meinem Morgenkaffee in dieser autofiktionalen
Denkschleife fest und wartete darauf, dass meine Gedanken an einer
interessanten Stelle einrasten. Ach ja, heute wollte ich ja zur
Buchhandlung – eine rare Chance, ein bisschen mehr Welt als nur die Auswahl
von Schokoriegeln im Supermarkt zu spüren. Oder das, was von ihr in
kondensierter Form der totalen Gegenwart übrig ist. Eine Gegenwart, deren
Drehbuch niemand kennt, aber alle fühlen.
Allen geht es „ganz okay“
Fast alle Freund*innen, mit denen ich chatte oder telefoniere, sagen mir,
ihnen gehe es „ganz okay“. Ich glaube, sie sagen nie die ganze Wahrheit,
und ich frage mich, woher diese Schicksalsergebenheit kommt, warum das
Private derart privatisiert ist und wie es sich wieder politisch machen
ließe. Vielleicht, indem wir uns klarmachen, dass der Schmerz nicht
individuell, sondern systemisch produziert ist – und sich innerhalb eines
sorgsam abgesteckten Möglichkeitsraumes entfaltet, [3][der aus Nullen und
Einsen], Emojis und Likes besteht, die mich schon morgens vom Denken
ablenken. Gut, dass ich noch weiß, wo der Aus-Knopf ist – und der Ausgang
aus meiner Wohnung.
Draußen scheint mir die Neuköllner Sonne ins Gesicht wie Suchscheinwerfer
dem/der Dieb*in auf dem nächtlichen Hinterhof. „Eine zweifelhafte
Metapher“, schreibt Ann Cotten, „verlagert Poesie und Geschmack in den
Leser hinein.“ Mit storchartigen Schritten schreite ich los in Richtung
Buchladen und den Menschen, die zu nahe kommen, aus dem Weg.
Aldi Süd hat letztes Jahr mehr Umsatz gemacht als die gesamte deutsche
Verlagsbranche. Kein Wunder, Tomaten und Schokoriegel sind systemrelevanter
als Buchstaben.
Ich rufe meinen Vater an. Er sagt, bei ihm zu Hause sei alles „ganz
normal“. Ich lache und bin beruhigt. Gut, dass er nicht auf Twitter ist, wo
alle so sehr „sie selbst“, also keinesfalls durchschnittlich sind, dass
eine solche Unterstellung einer konsensualen Realität, auf deren Basis
regelmäßig unser Müll weggebracht und die Erde für rund erklärt wird,
diskursive Beben auslöst. Na ja, zumindest weiß ich jetzt, was ich denke.
20 Apr 2021
## LINKS
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## AUTOREN
Philipp Rhensius
## TAGS
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