Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Wie wir in der Krise denken: Entscheiden tut weh
> Wie rational fällen wir unsere Entscheidungen, vor allem unter Stress?
> Unsere Autorin hinterfragt ihre Denkmuster während der Pandemie.
Meine erste gute Entscheidung in der Coronapandemie war ein Zufall: Am
Morgen des 11. März 2020 gehe ich noch vor neun Uhr einkaufen.
Normalerweise erledige ich das nach der Arbeit, aber daraus wäre an diesem
Tag nichts geworden. Um 11.30 Uhr erfahre ich, dass ein Freund, den ich am
Vortag getroffen habe, womöglich über Ecken an seinem Arbeitsplatz Kontakt
zu einem Corona-Infizierten hatte. Ich begebe mich also ins Homeoffice und
vorerst in die Isolation – mitsamt einer gut gefüllten Tasche mit
Lebensmitteln.
Wir treffen jeden Tag unzählige Entscheidungen, die meisten von ihnen
unbewusst. Doch während das vor Corona eher beiläufig passierte, fühlt es
sich seit der Pandemie plötzlich an, als gehe es bei jeder einzelnen um
Menschenleben. Fahre ich mit der Tram oder doch lieber mit dem Fahrrad?
Treffe ich die Freundin im Park oder in der Wohnung? Und kann ich es
riskieren, zum Frisör zu gehen oder trage ich die nächsten Monate eben
Mütze?
Am 26. März 2020 schreibe ich in mein Tagebuch: „Ich habe das Gefühl, ich
müsste meine Zeit viel solidarischer nutzen: (Meine alleinerziehende
Freundin) U. unterstützen, für Schwächere wie Senior*innen oder Kranke
einkaufen. Harten Journalismus betreiben, von der Front berichten. Ich habe
aber gerade alle Hände voll damit zu tun, mich selbst über Wasser zu
halten. […] Noch nie ist mir meine Arbeit auf diese Art schwergefallen. Ich
halte die Nachrichten gerade kaum aus. Ich halte es kaum aus, immer von
diesem Thema umgeben zu sein, immer zuhause davon umgeben zu sein. In
meinem Safe Space. Eine Pandemie mitten in meiner Komfortzone.“
## 49 neu gemeldete Todesfälle und 4.954 Neuinfektionen
In dieser Zeit schaffe ich es nur bedingt, für andere Menschen da zu sein.
Ich bin mit den einfachsten Entscheidungen völlig überfordert, fühle mich
wie gelähmt. Also ziehe ich mich zurück, als Reaktion auf den Stress. Aus
heutiger Sicht kein Wunder: Wer gestresst ist, hat eingeschränkte
Kapazitäten. Und das kann es schwerer machen, gute und überlegte
Entscheidungen zu treffen.
Zu glauben, dass Entscheidungen ansonsten eher sinnvoll und vernünftig
gefällt werden, ist allerdings ein Trugschluss. Denn wir Menschen machen es
uns gerne leicht – und greifen auf Denkabkürzungen zurück: Wir benutzen für
die Urteils- und Entscheidungsfindung das, was uns spontan in den Kopf
kommt. Das ist aber eben nicht immer die vernünftigste Lösung.
Und diese Denkabkürzungen kommen uns ständig automatisch in den Sinn. Sind
wir nicht gestresst, kann es bloß etwas leichter sein, dies zu erkennen und
mit ausgeruhterem Denken zu unterdrücken. „Sobald Sie mir ein Problem
präsentieren, habe ich eine vorgefertigte Antwort parat. Diese
vorgefertigten Antworten stehen dem klaren Denken im Wege. Und wir können
nicht anders, als sie zu haben.“ Das sagt der israelische Psychologe Daniel
Kahneman in einem 2019 veröffentlichten Podcast.
Lange vorher, im Jahr 2002, hatte Kahneman für seine Forschung zum
sogenannten Judgment and Decision Making (deutsch: Urteils- und
Entscheidungsfindung) den Wirtschaftsnobelpreis erhalten. Gemeinsam mit
seinem 1996 verstorbenen Freund und Kollegen Amos Tversky hatte Kahneman
eine Theorie entwickelt, wie Menschen wirtschaftliche Entscheidungen
treffen und damit als Psychologe auch die Wirtschaftswissenschaft geprägt.
Diese war an vielen Stellen davon ausgegangen, dass Menschen sich rational
verhalten.
Kahneman gehört seither zu einer Gruppe von Wissenschaftler*innen, die
maßgeblichen Einfluss darauf haben, wie menschliches Verhalten auch über
die Psychologie hinaus betrachtet wird: nämlich nicht perfekt rational und
vernünftig, sondern fehlerbehaftet und durch äußere Umstände beeinflusst –
eben menschlich. Sein 2011 erschienenes Buch „Schnelles Denken, langsames
Denken“ wurde zu einem Bestseller.
Kahneman beschreibt darin den sogenannten Ankereffekt: Tversky und Kahneman
ließen Studierende an einem manipulierten Glücksrad drehen. Bei einer
Gruppe stoppte das Glücksrad bei 10, bei einer anderen bei 65. Mitglieder
beider Gruppen mussten die jeweilige Zahl aufschreiben. Später sollten die
Studierenden zwei Fragen beantworten: 1. Ist der Prozentsatz afrikanischer
Nationen unter UN-Mitgliedern größer oder kleiner als die Zahl, die Sie
gerade aufgeschrieben haben? 2. Wie hoch schätzen Sie den Prozentsatz
afrikanischer Nationen bei den UN ein?
Eine Zahl aus einem Glücksrad ist der Inbegriff des Zufalls. Es gibt
keinerlei Zusammenhang zwischen der Zahl in einem Glücksrad und dem Anteil
afrikanischer Nationen bei den UN. Und dennoch: Bei der Gruppe, bei der das
Glücksrad bei 10 gehalten hatte, war der Durchschnitt der Antworten auf die
zweite Frage 25 Prozent. Bei der Gruppe, die die Zahl 65 beim Glücksrad
gesehen hatte, lag die durchschnittliche Antwort bei 45 Prozent. Die
Studierenden hatten sich offenbar an den zufälligen Zahlen orientiert.
Dieser sogenannte Ankereffekt trat in verschiedenen Experimenten auf: Wenn
eine Zahl bei einer Frage vorgegeben ist, orientieren wir uns daran, auch
wenn sie nichts mit der Antwort zu tun hat.
Mir kann niemand erzählen, dass das logisch ist. Deswegen fasziniert mich
die Forschung von Kahneman und anderen Verhaltenspsycholog*innen. Sie flößt
Bescheidenheit ein; sie propagiert Zweifel und genaues Hinterfragen der
eigenen Urteile. Sie zeigt: Ich bin fehlbar. Alle sind fehlbar. Ein
Bewusstsein über diese sogenannten kognitiven Verzerrungen kann helfen,
bessere Entscheidungen zu treffen – oder zumindest das Werkzeug an die Hand
geben, eigene Denkprozesse besser zu reflektieren.
Das Experiment mit dem Glücksrad hat mich zum Nachdenken gebracht: Wie oft
habe ich in der Pandemie Entscheidungen getroffen, die von für mich nicht
oder nur wenig relevanten Fakten beeinflusst waren? Zum Beispiel, wenn ich
Todeszahlen aus New York gesehen habe oder Infiziertenzahlen aus einem weit
entfernten Dorf in Deutschland?
3. April 2020: „Harter Tag mal wieder. Die werden gerade häufiger. Es fällt
mir immer schwerer, mich aufzuraffen.“
## 145 neu gemeldete Todesfälle und 6.174 Neuinfektionen
Zu einem späteren Zeitpunkt in der Pandemie schreibe ich außerdem in mein
Tagebuch, dass ich bereits so banale Tätigkeiten wie einkaufen gehen sehr
anstrengend finde. Weil es sich auf einmal gefährlich anfühlt. Weil ich
Dinge bedenken muss, die vor zwei Jahren noch apokalyptisch geklungen
hätten: anderen Menschen nicht zu nahekommen. Darauf achten, dass meine
Maske richtig sitzt. Mich beeilen und bloß nicht bummeln.
Es ist mir mehrfach passiert: Ich war einkaufen und danach erst mal total
platt. Konzentrieren konnte ich mich nicht mehr gut. Wie müssen sich erst
Kassierer*innen oder medizinisches Personal fühlen, die den ganzen Tag
vielen anderen Menschen ausgesetzt sind?
Auch rund um dieses Gefühl gibt es spannende Forschung – schön
zusammengefasst in dem Buch „Knappheit“ von Eldar Shafir und Sendhil
Mullainathan. Die grundlegende Hypothese des Verhaltenspsychologen Shafir
und des Ökonomen Mullainathan ist, dass jegliche Knappheit das Denken
vereinnahmt. Wenn eine Sache mein Denken bestimmt, ist weniger Kapazität
für andere Dinge da.
Shafir und Mullainathan erläutern, dass sich dies auf zahlreiche
Lebensbereiche erstrecken kann: Wer wenig Geld hat, muss sich viel mit Geld
beschäftigen – und hat dadurch weniger Kapazitäten für anderes. Das Gleiche
gilt für Menschen, die sich wegen einer Diät viel mit Essen beschäftigen.
Meine These: Wer dauernd über eine Pandemie nachdenkt und jegliche
Entscheidungen daran ausrichten muss, ist in anderen Lebensbereichen
angestrengter und weniger leistungsfähig. Einfachste Entscheidungen wie die
rund ums Einkaufen werden anstrengender.
„Wir können mit unserer Aufmerksamkeit nur hin und her wechseln zwischen
verschiedenen Themen, die uns beschäftigen.“ So fasst es die Psychologin
Maria Douneva zusammen, als wir uns zu einem Vdeogespräch zusammenschalten.
Die 31-Jährige hat im Gebiet der Urteils- und Entscheidungsfindung ihre
Doktorarbeit geschrieben, seit Mai arbeitet sie in Berlin bei einem
Unternehmen, das Organisationen Entscheidungsprozesse erklären und
erleichtern will. „Wenn jetzt etwas so Großes und so Einnehmendes wie die
Coronapandemie passiert ist, sind einfach weniger Ressourcen da, um über
andere Dinge nachzudenken“, sagt Douneva.
Im letzten Jahr so viel über Corona nachzudenken, hat ausgelaugt und die
Weise geändert, wie ich auf Alltagsentscheidungen blicke. Zum Beispiel auf
die Entscheidung, wie oft pro Woche mein Freund und ich in den Supermarkt
gehen, ob wir überhaupt gemeinsam gehen wollen oder ob dies das Risiko
einer Infektion zu sehr erhöht, ob wir dafür noch FFP2-Masken haben oder ob
die OP-Maske oder gar die Stoffmaske ausreicht.
27. März 2020: „Wunderschön und herzerwärmend, U. und (ihre Tochter) R. mal
wieder zu sehen – wenn auch nur über Skype. Es hat gleichzeitig mein Herz
gebrochen zu sehen, wie sehr R. sich über mich gefreut hat und mit mir ein
Buch lesen wollte. Aber das ging nicht.“
## 55 neu gemeldete Todesfälle und 5.780 Neuinfektionen
Das schreibe ich über das digitale Wiedersehen mit meiner besten Freundin
und ihrer damals anderthalbjährigen Tochter. Weil Vorlesen bei
Anderthalbjährigen stark mit dem gemeinsamen Anschauen eines Buches
verknüpft ist, geht es leider nicht gut über Skype.
Zu der Zeit legte ich mir vor allem im Privaten als Entscheidungsregel
fest: Ich will immer auf so wenige Menschen wie möglich treffen. Beim
Einkaufen hat das zu der privilegierten Entscheidung geführt, dass wir
inzwischen auf Onlinebestellungen umgestiegen sind. Das hat mehrere
Einzelentscheidungen überflüssig gemacht – mehr Kapazität für anderes.
Fahrradfahren statt in die Bahn steigen. Treffen auf unbestimmte Zeit
verschieben anstatt sich drinnen zu sehen. Das war zwar nicht immer
angenehm, hat mir aber wieder mehr Raum für andere Themen gegeben. Mit der
Zeit ist es mir leichter gefallen, für Freund*innen da zu sein. Seit
einigen Monaten ist auch Zeit und Kapazität dafür da, einem Ehrenamt beim
Roten Kreuz nachzugehen.
Meine selbst auferlegte Regel hat geholfen, mir im Privatleben
Entscheidungen abzunehmen und nicht jedes Mal individuell das Risiko
abzuwägen. Auch wenn es mich genervt hat, musste ich so nicht jedes Mal,
wenn ich irgendeinen Termin hatte, darüber nachdenken, ob ich jetzt
wirklich aufs Fahrrad steige. Und mal eben schnell aus reiner Lust auf
etwas Süßes zum Bäcker gehen, war eben einfach nicht drin.
Irritierenderweise war ich auch immer wieder sehr erleichtert, wenn mir
Entscheidungen von politischer Seite abgenommen wurden. Ich war froh, dass
ich mich nicht mehr gegen etwas größere Treffen in Kneipen entscheiden
musste, weil diese verboten waren. Ich war froh, dass ich nicht mehr
entscheiden musste, ob ich Geburtstagsgeschenke digital oder doch im Laden
kaufen soll, weil die Läden zu waren. „Diese Anstrengung ist auch ein
Faktor, warum viele Leute sagen: Ja, ich möchte jetzt mal klare Regeln und
nicht so einen Ermessensspielraum“, bestätigt die Psychologin Maria
Douneva.
Ich weiß, dass das eine kontroverse Position ist. Das heißt auch nicht,
dass ich die Maßnahmen nicht kritisch begleite und hinterfrage: Ich
verstehe nicht, warum für Kinder eine Testpflicht herrscht, während in
Büros höchstens ein „Angebot“ gemacht wird. Ich sehe, dass viele Menschen
unter den Maßnahmen leiden; dass gesellschaftliche Gruppen wie
beispielsweise Familien viel zu wenig bedacht wurden.
Ich möchte die Coronapolitik der Bundesregierung gar nicht verteidigen.
Entscheidungsfindung in derart komplexen Apparaten steht auf einem ganz
anderen Blatt als individuelle Alltagsentscheidungen. Und trotzdem: Wenn es
um so gewichtige Entscheidungen wie die in einer Pandemie geht, bin ich
tatsächlich froh, wenn Expert*innen und Politik mir bei der
Entscheidungsfindung aushelfen.
Besonders zu Beginn der Pandemie war die Datenlage dazu, was wie gefährlich
ist, noch sehr dünn. Die Psychologen Kahneman und Tversky schließen aus
ihrer Forschung, dass wir Menschen nicht immer gute intuitive
Statistiker*innen sind – das liegt unter anderem am sogenannten
Availability Bias, auf Deutsch in etwa Verfügbarkeitsfehler. Das englische
Wort Bias beschreibt jegliche systematische Denkfehler.
Der Psychologe Paul Slovic hat mit Kolleg*innen bereits in den 1970er
Jahren eine Studie durchgeführt, die das Konzept eindrücklich illustriert:
Sie baten Studienteilnehmende, das Risiko bestimmter Todesursachen in den
USA einzuschätzen. 80 Prozent gaben an, Unfälle seien häufigere
Todesursachen als Schlaganfälle; dabei waren Schlaganfälle zu der Zeit
doppelt so oft vertreten wie sämtliche Unfälle zusammengenommen. Auch
schätzten die Teilnehmenden Tornados als häufigere Todesursache ein als
Asthma, obwohl Asthma mehr als 20 mal so häufig Menschen tötet.
Als Grund nehmen die Autor*innen unter anderem Berichterstattung an –
wie oft wird schon über Asthmatote berichtet? Spektakuläre Unfälle landen
dagegen immer wieder in den Medien, eben weil sie so selten sind. Der
Availability Bias ist das dazu passende Phänomen, dass Menschen Dinge für
häufiger auftauchend oder wahrscheinlicher halten, wenn sie präsenter sind.
„Menschen sind beeinflusst von dem, was ihre Aufmerksamkeit einnimmt“,
erläutert Maria Douneva. „Das Grundprinzip ist: Wir lassen uns von Dingen
beeinflussen, die gerade sehr zugänglich sind. Wir können eben nicht
unendlich viel parallel machen und reagieren daher auf das, was gerade am
präsentesten ist.“
Ich glaube, dieser Denkfehler lässt sich auch in der Pandemie beobachten:
Im vergangenen Jahr habe ich besonders in den ersten Monaten der Pandemie
so schreckliche Bilder aus New York und Bergamo gesehen, dass ich das Haus
am liebsten gar nicht mehr verlassen hätte. Ich habe das Risiko unter
anderem deswegen so wahnsinnig hoch eingeschätzt, mich mit dem Virus
anzustecken, weil diese Bilder um die Welt gingen.
20. März 2020: „Spazieren! Das erste Mal seit neun Tagen draußen! Es war
gespenstisch, Berlin-Mitte so leer zu sehen. Aber es tat auch sehr, sehr
gut. Zu atmen, mich zu bewegen.“
## 11 neu gemeldete Todesfälle und 2.958 Neuinfektionen
Ich erinnere mich an die Stille vorm Brandenburger Tor, an eine völlig
leere Friedrichstraße. Ganz offensichtlich hatten jede Menge anderer Leute
das Risiko damals ebenfalls sehr hoch eingeschätzt. Am 20. März 2020
meldete das Robert Koch-Institut elf neue Todesfälle im Zusammenhang mit
Covid-19. Zum Vergleich: Am 20. März 2021 waren es 207.
Meine Risikoeinschätzung hat sich im Laufe der Pandemie geändert. Zumindest
haben sich meine Entscheidungen stark verändert, auch wenn die gemeldeten
Neuinfektionen und Todesfälle zwischenzeitlich immer wieder stark
variierten. Auch, wenn ich mich gerne als vernunftgesteuerte Person sehe,
mache ich meine Entscheidungen offensichtlich nicht nur von der Schwere der
Pandemie abhängig.
Meine Freundin U. und ihre Tochter R. treffe ich zum Beispiel inzwischen
etwa einmal die Woche, auch in geschlossenen Räumen. „Das ist eine
Situation, bei der Menschen eher nicht statistisch denken und auch nicht
statistisch denken wollen. Da spielen so viele Faktoren eine Rolle, die
eher mit eigenen Überzeugungen zu tun haben“, sagt die Psychologin Maria
Douneva. „Da wird sich niemand hinsetzen und erst mal die Zahlen checken,
sondern letztendlich hat man eine Tendenz und sucht sich die Informationen,
die dazu passen und trifft die Entscheidung, die man sowieso getroffen
hätte.“
Erwischt. Sie spricht eine der wohl bekanntesten kognitiven Verzerrungen
an: Den Confirmation Bias oder auf Deutsch Bestätigungsfehler. Wenn ich
eine Meinung oder Vorliebe habe, neige ich dazu, Informationen
wahrzunehmen, die dazu passen. Ich suche mir zum Beispiel Inzidenzen für
den Berliner Bezirk raus, in dem meine Freundin und ihre Tochter leben, und
sehe: Ach, bei mir im Bezirk ist die Inzidenz noch höher, dann kann ich
auch dorthin fahren. Oder ich sage mir: Am Anfang habe ich die beiden gar
nicht unterstützt, und die gemeinsame Zeit tut uns ja allen gut. Und:
Wenigstens sitze ich nicht im Büro mit vielen Kontakten, dann ist das
Treffen mit den beiden ja nicht so schlimm.
Das mag alles stimmen. Genauso gut könnte ich aber auch dagegen
argumentieren. Das Kind meiner Freundin wird abwechselnd von verschiedenen
Menschen in ihrem Umfeld betreut, somit hat es deutlich mehr Kontakte als
ich. Meine Freundin gehört außerdem aus gesundheitlichen Gründen zur
Risikogruppe. Sowohl für die Entscheidung, die beiden regelmäßig zu
treffen, als auch dagegen gibt es genug Gründe. Ich suche mir aber
diejenigen raus, die zu meinem Wunsch passen.
14. November 2020: „Ich musste heute Pause machen. Ich bin durch. Grey’s
Anatomy gerade war nochmal besonders intensiv. Ich hab sehr viel geweint.
[…] Es geht um Corona. Abermals mit den ganzen Opfern konfrontiert zu
werden, hat so wehgetan. Es schmerzt mich so sehr, wie viele Menschen
leiden und sterben. Täglich. Weltweit. In einer Pandemie leben tut weh.“
## 178 neu gemeldete Todesfälle und 22.461 Neuinfektionen
Grey’s Anatomy war die erste und für mich bislang einzige Konfrontation in
der Popkultur mit der Pandemie: Die neueste Staffel der Serie steigt im
April 2020 ein und behandelt sowohl den Druck des medizinischen Personals
beim Kampf gegen die Pandemie als auch das Leid der Infizierten und
Angehörigen.
Ich habe 2020 vor allem als Journalistin für eine Nachrichtenagentur
gearbeitet: Dabei habe ich viele Pressekonferenzen zur Pandemie verfolgt,
Pressemitteilungen gelesen, mit Pressesprecher*innen geredet. Ich habe
mich aber wenig mit Opfern unterhalten oder mit Menschen, die als
Pflegekräfte oder Kassierer*innen „an der Front“ dabei waren – sie
waren in meinem Kopf daher wahrscheinlich nicht so „available“, also
verfügbar. Natürlich habe ich viele Artikel gelesen und Berichte aus
Krankenhäusern gesehen, aber einen persönlichen Bezug habe ich zu ihnen
nicht gehabt. Anders als zu meiner Lieblingsserie, deren Charaktere mich
schon etwa 15 Jahre begleiten.
Ähnlich, wenn auch nicht ganz so stark, habe ich jedes Mal reagiert, wenn
die Krankheit auch nur ansatzweise näher gerückt ist: Ein Kollege.
Entfernte Bekannte meiner Familie. Ein geschilderter Fall auf Twitter.
„Wenn ich jemanden im Umfeld habe, dann werde ich sehr wahrscheinlich
stärker reagieren, als wenn es ganz viele sind, die aber mit mir eher wenig
zu tun haben“, erklärt Maria Douneva das Phänomen.
Dieser sogenannte „Identifiable Victim Bias“ (auf Deutsch etwa:
Identifizierbares-Opfer-Denkfehler) ist auch aus der Spendenbranche
bekannt: Hilfsorganisationen werben oft mit einzelnen, traurig
dreinblickenden Kindern. Denn große Zahlen notleidender Menschen können
lähmend wirken und sorgen nicht unbedingt für eine hohe
Spendenbereitschaft.
Diesen Denkfehler nennt Douneva gleichzeitig sinnvoll und nachvollziehbar.
„Sonst könnten wir ja gar nicht funktionieren, wenn wir immer die ganze
Welt und ihre Einzelschicksale im Kopf hätten. Aber: In der jetzigen
Situation kann das von Nachteil sein, weil man womöglich unvorsichtiger
wird, solange man sich selbst als geschützt wahrnimmt.“
Schließlich sehen wir auch viel eher die negativen Auswirkungen der
Maßnahmen als die positiven. Außer das medizinische Personal merken nicht
viele unmittelbar im Alltag, dass weniger Menschen sterben. Alle spüren
dagegen die Einschränkungen: Die Nachteile der Pandemiemaßnahmen sind viel
leichter abrufbar als die Vorteile. Es bedarf einer aktiven Handlung, sie
sich bewusst zu machen, während das Negative tagein, tagaus zu spüren ist.
Ich gehörte nie zu denen, die gesagt haben, das Virus könne mich und andere
nicht treffen, weil ich ja niemanden kenne, der es hat. Und dennoch: In
meiner Lieblingsserie mit so viel Leid konfrontiert zu werden, hat mich
schockiert.
1. August 2020: „Vor meiner Haustür feiern Tausende Menschen ‚Das Ende der
Pandemie‘. Ich verachte sie. Das will ich nicht. Aber ich könnte vor Wut
weinen.“
## 7 neu gemeldete Todesfälle und 955 Neuinfektionen
Ich beschäftige mich nicht gerne mit Verschwörungsideologien. Das hat einen
wahnsinnig egoistischen Grund: Es macht mich so sauer und traurig, dass ich
irrational werde. Das liegt ironischerweise daran, dass mir rationales
Denken so wichtig ist, dass ich es kaum aushalte, wenn Menschen so
gefährliche Entscheidungen treffen wie in Massen zu demonstrieren oder sich
Masken zu verweigern.
So viel zum Thema: eigene Denkfehler und Urteile hinterfragen. Denn mit
meiner pauschalen Aussage bin ich hier natürlich unfair und höchst
subjektiv. Viele der Denkfehler, denen Menschen unterliegen, die an
Verschwörungen glauben, treten bei den allermeisten Menschen auf. Und das
muss auch erst mal nichts Schlimmes sein: Jede*r glaubt lieber Dinge, die
der eigenen Weltansicht entsprechen.
Es ist grundsätzlich sehr schwierig, Mehrdeutigkeit und Komplexität
auszuhalten. Denkfehler und kognitive Verzerrungen tauchen nicht nur bei
den „anderen“ auf, sondern bei uns selbst. Die Kunst ist es, dies zu
erkennen und, wie Kahneman vorschlägt, langsam zu denken. Denn bedachtes
Denken führt im Idealfall zu besseren Entscheidungen. Das soll nicht die
Gefahr von Verschwörungsideolog*innen verharmlosen; aber doch
aufzeigen, dass niemand vor schlechter Logik gefeit ist.
Nicht einmal ein Nobelpreisträger: Die Sozialpsychologie wurde vor einer
ganzen Weile von der sogenannten „Replication Crisis“ aufgerüttelt, als
klar wurde, dass viele Studien nicht mit dem gleichen Ergebnis wiederholt
werden konnten und Ergebnisse daher angezweifelt werden müssen. Auch der
gefeierte Daniel Kahneman war betroffen. In seinem Buch zitiert er etwa
eine Studie, wonach Menschen langsamer laufen, wenn sie vorher Wörter
gehört haben, die etwas mit dem Thema „Alter“ zu tun hatten; dieser und
mehrere ähnliche Effekte hielten der Prüfung allerdings nicht stand.
Kahneman selbst nennt es „ironisch“, dass er derartige Fehler gemacht hat �…
ist er doch auf einen Effekt hereingefallen, dem er selbst ein ganzes
Kapitel in „Schnelles Denken, langsames Denken“ gewidmet hat: das Gesetz
der kleinen Zahlen. Das simple Konzept ist, dass Experimente mit vielen
Proband*innen durchgeführt werden sollten, um aussagekräftige Ergebnisse
zu bekommen. Weil Kahneman aber das Ergebnis von Studien wie der mit den
Altersbegriffen und dem langsamen Laufen nach eigenen Worten so „sexy“
fand, fiel er selbst darauf herein, obwohl die Untersuchung eigentlich
nicht genug Teilnehmende hatte.
Auch ein absoluter Experte in der Entscheidungsfindung ist eben fehlbar –
wie wir alle. Das heißt nicht, dass die genannten Denkabkürzungen immer
verkehrt sind. Oft ist es sinnvoll, schnelle Entscheidungen zu treffen und
nicht ewig darüber zu philosophieren, ob ich nun den Orangensaft öffnen
will oder lieber ein Glas Wasser trinke.
Gerade in der Pandemie können Alltagsentscheidungen anstrengen. Weil so
viel an ihnen zu hängen scheint. Umso wichtiger ist es, diese
Entscheidungen wie auch jegliche Urteile zu hinterfragen und sich selbst
nicht unreflektiert über den Weg zu trauen. Kahneman-Kritiker*innen werfen
ihm vor, er bewerte unser Denken und unsere Intuition als zu negativ. Das
kann ich verstehen; klingt ja auch alles erst mal sehr pessimistisch.
Gleichzeitig kann die kritische Auseinandersetzung mit eigenen Bewertungen
und Entscheidungen einen viel versöhnlicheren Blick auf andere Menschen zur
Folge haben: Wenn ich verstehe, dass auch ich ständig Denkfehlern
unterliege, ist es einfacher, anderen mit Verständnis zu begegnen.
11 May 2021
## AUTOREN
Sarah Emminghaus
## TAGS
Lesestück Recherche und Reportage
Schwerpunkt Coronavirus
Wissenschaft
Stress
Psychologie
Entscheidungsfindung
GNS
Wirtschaftsnobelpreis
Schwerpunkt Coronavirus
Psychologie
Lesestück Recherche und Reportage
Wohlstand
## ARTIKEL ZUM THEMA
Daniel Kahneman ist tot: Der schnelle, langsame Denker
Der Psychologe Daniel Kahneman ist mit 90 Jahren gestorben. Für seine
Forschungen, wie Menschen mit Geld umgehen, bekam er den
Wirtschaftsnobelpreis.
Corona-Einschränkungen für Studierende: Online allein
Die Pandemie traf Studierende hart: Eine Medizinstudentin, ein Student in
London, ein Erstsemester und eine Frau in finanziellen Nöten erzählen.
Autor über Entscheidungsfindung: „Niemand googelt Gegenargumente“
Wie trifft man gute Entscheidungen? Autor Mikael Krogerus hat sich mit der
Forschung zu Entscheidungsfindungen beschäftigt. Und gibt ein paar Tipps.
Spenden – aber wofür?: Kein Bild von traurigen Kindern
Im Wort „spenden“ liegt das Wort „enden“. Auf der Suche nach der Frage,…
hinter dem Bedürfnis steckt, Leid zu mildern, und wie man es am besten tut.
Umfrage von Allensbach: Schräg gestimmt
Der „Generation Mitte“ geht es gut wie nie, aber die Leute klagen über
schlechte Stimmung. Die Seele funktioniert nun mal paradox.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.