# taz.de -- Wie wir in der Krise denken: Entscheiden tut weh | |
> Wie rational fällen wir unsere Entscheidungen, vor allem unter Stress? | |
> Unsere Autorin hinterfragt ihre Denkmuster während der Pandemie. | |
Meine erste gute Entscheidung in der Coronapandemie war ein Zufall: Am | |
Morgen des 11. März 2020 gehe ich noch vor neun Uhr einkaufen. | |
Normalerweise erledige ich das nach der Arbeit, aber daraus wäre an diesem | |
Tag nichts geworden. Um 11.30 Uhr erfahre ich, dass ein Freund, den ich am | |
Vortag getroffen habe, womöglich über Ecken an seinem Arbeitsplatz Kontakt | |
zu einem Corona-Infizierten hatte. Ich begebe mich also ins Homeoffice und | |
vorerst in die Isolation – mitsamt einer gut gefüllten Tasche mit | |
Lebensmitteln. | |
Wir treffen jeden Tag unzählige Entscheidungen, die meisten von ihnen | |
unbewusst. Doch während das vor Corona eher beiläufig passierte, fühlt es | |
sich seit der Pandemie plötzlich an, als gehe es bei jeder einzelnen um | |
Menschenleben. Fahre ich mit der Tram oder doch lieber mit dem Fahrrad? | |
Treffe ich die Freundin im Park oder in der Wohnung? Und kann ich es | |
riskieren, zum Frisör zu gehen oder trage ich die nächsten Monate eben | |
Mütze? | |
Am 26. März 2020 schreibe ich in mein Tagebuch: „Ich habe das Gefühl, ich | |
müsste meine Zeit viel solidarischer nutzen: (Meine alleinerziehende | |
Freundin) U. unterstützen, für Schwächere wie Senior*innen oder Kranke | |
einkaufen. Harten Journalismus betreiben, von der Front berichten. Ich habe | |
aber gerade alle Hände voll damit zu tun, mich selbst über Wasser zu | |
halten. […] Noch nie ist mir meine Arbeit auf diese Art schwergefallen. Ich | |
halte die Nachrichten gerade kaum aus. Ich halte es kaum aus, immer von | |
diesem Thema umgeben zu sein, immer zuhause davon umgeben zu sein. In | |
meinem Safe Space. Eine Pandemie mitten in meiner Komfortzone.“ | |
## 49 neu gemeldete Todesfälle und 4.954 Neuinfektionen | |
In dieser Zeit schaffe ich es nur bedingt, für andere Menschen da zu sein. | |
Ich bin mit den einfachsten Entscheidungen völlig überfordert, fühle mich | |
wie gelähmt. Also ziehe ich mich zurück, als Reaktion auf den Stress. Aus | |
heutiger Sicht kein Wunder: Wer gestresst ist, hat eingeschränkte | |
Kapazitäten. Und das kann es schwerer machen, gute und überlegte | |
Entscheidungen zu treffen. | |
Zu glauben, dass Entscheidungen ansonsten eher sinnvoll und vernünftig | |
gefällt werden, ist allerdings ein Trugschluss. Denn wir Menschen machen es | |
uns gerne leicht – und greifen auf Denkabkürzungen zurück: Wir benutzen für | |
die Urteils- und Entscheidungsfindung das, was uns spontan in den Kopf | |
kommt. Das ist aber eben nicht immer die vernünftigste Lösung. | |
Und diese Denkabkürzungen kommen uns ständig automatisch in den Sinn. Sind | |
wir nicht gestresst, kann es bloß etwas leichter sein, dies zu erkennen und | |
mit ausgeruhterem Denken zu unterdrücken. „Sobald Sie mir ein Problem | |
präsentieren, habe ich eine vorgefertigte Antwort parat. Diese | |
vorgefertigten Antworten stehen dem klaren Denken im Wege. Und wir können | |
nicht anders, als sie zu haben.“ Das sagt der israelische Psychologe Daniel | |
Kahneman in einem 2019 veröffentlichten Podcast. | |
Lange vorher, im Jahr 2002, hatte Kahneman für seine Forschung zum | |
sogenannten Judgment and Decision Making (deutsch: Urteils- und | |
Entscheidungsfindung) den Wirtschaftsnobelpreis erhalten. Gemeinsam mit | |
seinem 1996 verstorbenen Freund und Kollegen Amos Tversky hatte Kahneman | |
eine Theorie entwickelt, wie Menschen wirtschaftliche Entscheidungen | |
treffen und damit als Psychologe auch die Wirtschaftswissenschaft geprägt. | |
Diese war an vielen Stellen davon ausgegangen, dass Menschen sich rational | |
verhalten. | |
Kahneman gehört seither zu einer Gruppe von Wissenschaftler*innen, die | |
maßgeblichen Einfluss darauf haben, wie menschliches Verhalten auch über | |
die Psychologie hinaus betrachtet wird: nämlich nicht perfekt rational und | |
vernünftig, sondern fehlerbehaftet und durch äußere Umstände beeinflusst – | |
eben menschlich. Sein 2011 erschienenes Buch „Schnelles Denken, langsames | |
Denken“ wurde zu einem Bestseller. | |
Kahneman beschreibt darin den sogenannten Ankereffekt: Tversky und Kahneman | |
ließen Studierende an einem manipulierten Glücksrad drehen. Bei einer | |
Gruppe stoppte das Glücksrad bei 10, bei einer anderen bei 65. Mitglieder | |
beider Gruppen mussten die jeweilige Zahl aufschreiben. Später sollten die | |
Studierenden zwei Fragen beantworten: 1. Ist der Prozentsatz afrikanischer | |
Nationen unter UN-Mitgliedern größer oder kleiner als die Zahl, die Sie | |
gerade aufgeschrieben haben? 2. Wie hoch schätzen Sie den Prozentsatz | |
afrikanischer Nationen bei den UN ein? | |
Eine Zahl aus einem Glücksrad ist der Inbegriff des Zufalls. Es gibt | |
keinerlei Zusammenhang zwischen der Zahl in einem Glücksrad und dem Anteil | |
afrikanischer Nationen bei den UN. Und dennoch: Bei der Gruppe, bei der das | |
Glücksrad bei 10 gehalten hatte, war der Durchschnitt der Antworten auf die | |
zweite Frage 25 Prozent. Bei der Gruppe, die die Zahl 65 beim Glücksrad | |
gesehen hatte, lag die durchschnittliche Antwort bei 45 Prozent. Die | |
Studierenden hatten sich offenbar an den zufälligen Zahlen orientiert. | |
Dieser sogenannte Ankereffekt trat in verschiedenen Experimenten auf: Wenn | |
eine Zahl bei einer Frage vorgegeben ist, orientieren wir uns daran, auch | |
wenn sie nichts mit der Antwort zu tun hat. | |
Mir kann niemand erzählen, dass das logisch ist. Deswegen fasziniert mich | |
die Forschung von Kahneman und anderen Verhaltenspsycholog*innen. Sie flößt | |
Bescheidenheit ein; sie propagiert Zweifel und genaues Hinterfragen der | |
eigenen Urteile. Sie zeigt: Ich bin fehlbar. Alle sind fehlbar. Ein | |
Bewusstsein über diese sogenannten kognitiven Verzerrungen kann helfen, | |
bessere Entscheidungen zu treffen – oder zumindest das Werkzeug an die Hand | |
geben, eigene Denkprozesse besser zu reflektieren. | |
Das Experiment mit dem Glücksrad hat mich zum Nachdenken gebracht: Wie oft | |
habe ich in der Pandemie Entscheidungen getroffen, die von für mich nicht | |
oder nur wenig relevanten Fakten beeinflusst waren? Zum Beispiel, wenn ich | |
Todeszahlen aus New York gesehen habe oder Infiziertenzahlen aus einem weit | |
entfernten Dorf in Deutschland? | |
3. April 2020: „Harter Tag mal wieder. Die werden gerade häufiger. Es fällt | |
mir immer schwerer, mich aufzuraffen.“ | |
## 145 neu gemeldete Todesfälle und 6.174 Neuinfektionen | |
Zu einem späteren Zeitpunkt in der Pandemie schreibe ich außerdem in mein | |
Tagebuch, dass ich bereits so banale Tätigkeiten wie einkaufen gehen sehr | |
anstrengend finde. Weil es sich auf einmal gefährlich anfühlt. Weil ich | |
Dinge bedenken muss, die vor zwei Jahren noch apokalyptisch geklungen | |
hätten: anderen Menschen nicht zu nahekommen. Darauf achten, dass meine | |
Maske richtig sitzt. Mich beeilen und bloß nicht bummeln. | |
Es ist mir mehrfach passiert: Ich war einkaufen und danach erst mal total | |
platt. Konzentrieren konnte ich mich nicht mehr gut. Wie müssen sich erst | |
Kassierer*innen oder medizinisches Personal fühlen, die den ganzen Tag | |
vielen anderen Menschen ausgesetzt sind? | |
Auch rund um dieses Gefühl gibt es spannende Forschung – schön | |
zusammengefasst in dem Buch „Knappheit“ von Eldar Shafir und Sendhil | |
Mullainathan. Die grundlegende Hypothese des Verhaltenspsychologen Shafir | |
und des Ökonomen Mullainathan ist, dass jegliche Knappheit das Denken | |
vereinnahmt. Wenn eine Sache mein Denken bestimmt, ist weniger Kapazität | |
für andere Dinge da. | |
Shafir und Mullainathan erläutern, dass sich dies auf zahlreiche | |
Lebensbereiche erstrecken kann: Wer wenig Geld hat, muss sich viel mit Geld | |
beschäftigen – und hat dadurch weniger Kapazitäten für anderes. Das Gleiche | |
gilt für Menschen, die sich wegen einer Diät viel mit Essen beschäftigen. | |
Meine These: Wer dauernd über eine Pandemie nachdenkt und jegliche | |
Entscheidungen daran ausrichten muss, ist in anderen Lebensbereichen | |
angestrengter und weniger leistungsfähig. Einfachste Entscheidungen wie die | |
rund ums Einkaufen werden anstrengender. | |
„Wir können mit unserer Aufmerksamkeit nur hin und her wechseln zwischen | |
verschiedenen Themen, die uns beschäftigen.“ So fasst es die Psychologin | |
Maria Douneva zusammen, als wir uns zu einem Vdeogespräch zusammenschalten. | |
Die 31-Jährige hat im Gebiet der Urteils- und Entscheidungsfindung ihre | |
Doktorarbeit geschrieben, seit Mai arbeitet sie in Berlin bei einem | |
Unternehmen, das Organisationen Entscheidungsprozesse erklären und | |
erleichtern will. „Wenn jetzt etwas so Großes und so Einnehmendes wie die | |
Coronapandemie passiert ist, sind einfach weniger Ressourcen da, um über | |
andere Dinge nachzudenken“, sagt Douneva. | |
Im letzten Jahr so viel über Corona nachzudenken, hat ausgelaugt und die | |
Weise geändert, wie ich auf Alltagsentscheidungen blicke. Zum Beispiel auf | |
die Entscheidung, wie oft pro Woche mein Freund und ich in den Supermarkt | |
gehen, ob wir überhaupt gemeinsam gehen wollen oder ob dies das Risiko | |
einer Infektion zu sehr erhöht, ob wir dafür noch FFP2-Masken haben oder ob | |
die OP-Maske oder gar die Stoffmaske ausreicht. | |
27. März 2020: „Wunderschön und herzerwärmend, U. und (ihre Tochter) R. mal | |
wieder zu sehen – wenn auch nur über Skype. Es hat gleichzeitig mein Herz | |
gebrochen zu sehen, wie sehr R. sich über mich gefreut hat und mit mir ein | |
Buch lesen wollte. Aber das ging nicht.“ | |
## 55 neu gemeldete Todesfälle und 5.780 Neuinfektionen | |
Das schreibe ich über das digitale Wiedersehen mit meiner besten Freundin | |
und ihrer damals anderthalbjährigen Tochter. Weil Vorlesen bei | |
Anderthalbjährigen stark mit dem gemeinsamen Anschauen eines Buches | |
verknüpft ist, geht es leider nicht gut über Skype. | |
Zu der Zeit legte ich mir vor allem im Privaten als Entscheidungsregel | |
fest: Ich will immer auf so wenige Menschen wie möglich treffen. Beim | |
Einkaufen hat das zu der privilegierten Entscheidung geführt, dass wir | |
inzwischen auf Onlinebestellungen umgestiegen sind. Das hat mehrere | |
Einzelentscheidungen überflüssig gemacht – mehr Kapazität für anderes. | |
Fahrradfahren statt in die Bahn steigen. Treffen auf unbestimmte Zeit | |
verschieben anstatt sich drinnen zu sehen. Das war zwar nicht immer | |
angenehm, hat mir aber wieder mehr Raum für andere Themen gegeben. Mit der | |
Zeit ist es mir leichter gefallen, für Freund*innen da zu sein. Seit | |
einigen Monaten ist auch Zeit und Kapazität dafür da, einem Ehrenamt beim | |
Roten Kreuz nachzugehen. | |
Meine selbst auferlegte Regel hat geholfen, mir im Privatleben | |
Entscheidungen abzunehmen und nicht jedes Mal individuell das Risiko | |
abzuwägen. Auch wenn es mich genervt hat, musste ich so nicht jedes Mal, | |
wenn ich irgendeinen Termin hatte, darüber nachdenken, ob ich jetzt | |
wirklich aufs Fahrrad steige. Und mal eben schnell aus reiner Lust auf | |
etwas Süßes zum Bäcker gehen, war eben einfach nicht drin. | |
Irritierenderweise war ich auch immer wieder sehr erleichtert, wenn mir | |
Entscheidungen von politischer Seite abgenommen wurden. Ich war froh, dass | |
ich mich nicht mehr gegen etwas größere Treffen in Kneipen entscheiden | |
musste, weil diese verboten waren. Ich war froh, dass ich nicht mehr | |
entscheiden musste, ob ich Geburtstagsgeschenke digital oder doch im Laden | |
kaufen soll, weil die Läden zu waren. „Diese Anstrengung ist auch ein | |
Faktor, warum viele Leute sagen: Ja, ich möchte jetzt mal klare Regeln und | |
nicht so einen Ermessensspielraum“, bestätigt die Psychologin Maria | |
Douneva. | |
Ich weiß, dass das eine kontroverse Position ist. Das heißt auch nicht, | |
dass ich die Maßnahmen nicht kritisch begleite und hinterfrage: Ich | |
verstehe nicht, warum für Kinder eine Testpflicht herrscht, während in | |
Büros höchstens ein „Angebot“ gemacht wird. Ich sehe, dass viele Menschen | |
unter den Maßnahmen leiden; dass gesellschaftliche Gruppen wie | |
beispielsweise Familien viel zu wenig bedacht wurden. | |
Ich möchte die Coronapolitik der Bundesregierung gar nicht verteidigen. | |
Entscheidungsfindung in derart komplexen Apparaten steht auf einem ganz | |
anderen Blatt als individuelle Alltagsentscheidungen. Und trotzdem: Wenn es | |
um so gewichtige Entscheidungen wie die in einer Pandemie geht, bin ich | |
tatsächlich froh, wenn Expert*innen und Politik mir bei der | |
Entscheidungsfindung aushelfen. | |
Besonders zu Beginn der Pandemie war die Datenlage dazu, was wie gefährlich | |
ist, noch sehr dünn. Die Psychologen Kahneman und Tversky schließen aus | |
ihrer Forschung, dass wir Menschen nicht immer gute intuitive | |
Statistiker*innen sind – das liegt unter anderem am sogenannten | |
Availability Bias, auf Deutsch in etwa Verfügbarkeitsfehler. Das englische | |
Wort Bias beschreibt jegliche systematische Denkfehler. | |
Der Psychologe Paul Slovic hat mit Kolleg*innen bereits in den 1970er | |
Jahren eine Studie durchgeführt, die das Konzept eindrücklich illustriert: | |
Sie baten Studienteilnehmende, das Risiko bestimmter Todesursachen in den | |
USA einzuschätzen. 80 Prozent gaben an, Unfälle seien häufigere | |
Todesursachen als Schlaganfälle; dabei waren Schlaganfälle zu der Zeit | |
doppelt so oft vertreten wie sämtliche Unfälle zusammengenommen. Auch | |
schätzten die Teilnehmenden Tornados als häufigere Todesursache ein als | |
Asthma, obwohl Asthma mehr als 20 mal so häufig Menschen tötet. | |
Als Grund nehmen die Autor*innen unter anderem Berichterstattung an – | |
wie oft wird schon über Asthmatote berichtet? Spektakuläre Unfälle landen | |
dagegen immer wieder in den Medien, eben weil sie so selten sind. Der | |
Availability Bias ist das dazu passende Phänomen, dass Menschen Dinge für | |
häufiger auftauchend oder wahrscheinlicher halten, wenn sie präsenter sind. | |
„Menschen sind beeinflusst von dem, was ihre Aufmerksamkeit einnimmt“, | |
erläutert Maria Douneva. „Das Grundprinzip ist: Wir lassen uns von Dingen | |
beeinflussen, die gerade sehr zugänglich sind. Wir können eben nicht | |
unendlich viel parallel machen und reagieren daher auf das, was gerade am | |
präsentesten ist.“ | |
Ich glaube, dieser Denkfehler lässt sich auch in der Pandemie beobachten: | |
Im vergangenen Jahr habe ich besonders in den ersten Monaten der Pandemie | |
so schreckliche Bilder aus New York und Bergamo gesehen, dass ich das Haus | |
am liebsten gar nicht mehr verlassen hätte. Ich habe das Risiko unter | |
anderem deswegen so wahnsinnig hoch eingeschätzt, mich mit dem Virus | |
anzustecken, weil diese Bilder um die Welt gingen. | |
20. März 2020: „Spazieren! Das erste Mal seit neun Tagen draußen! Es war | |
gespenstisch, Berlin-Mitte so leer zu sehen. Aber es tat auch sehr, sehr | |
gut. Zu atmen, mich zu bewegen.“ | |
## 11 neu gemeldete Todesfälle und 2.958 Neuinfektionen | |
Ich erinnere mich an die Stille vorm Brandenburger Tor, an eine völlig | |
leere Friedrichstraße. Ganz offensichtlich hatten jede Menge anderer Leute | |
das Risiko damals ebenfalls sehr hoch eingeschätzt. Am 20. März 2020 | |
meldete das Robert Koch-Institut elf neue Todesfälle im Zusammenhang mit | |
Covid-19. Zum Vergleich: Am 20. März 2021 waren es 207. | |
Meine Risikoeinschätzung hat sich im Laufe der Pandemie geändert. Zumindest | |
haben sich meine Entscheidungen stark verändert, auch wenn die gemeldeten | |
Neuinfektionen und Todesfälle zwischenzeitlich immer wieder stark | |
variierten. Auch, wenn ich mich gerne als vernunftgesteuerte Person sehe, | |
mache ich meine Entscheidungen offensichtlich nicht nur von der Schwere der | |
Pandemie abhängig. | |
Meine Freundin U. und ihre Tochter R. treffe ich zum Beispiel inzwischen | |
etwa einmal die Woche, auch in geschlossenen Räumen. „Das ist eine | |
Situation, bei der Menschen eher nicht statistisch denken und auch nicht | |
statistisch denken wollen. Da spielen so viele Faktoren eine Rolle, die | |
eher mit eigenen Überzeugungen zu tun haben“, sagt die Psychologin Maria | |
Douneva. „Da wird sich niemand hinsetzen und erst mal die Zahlen checken, | |
sondern letztendlich hat man eine Tendenz und sucht sich die Informationen, | |
die dazu passen und trifft die Entscheidung, die man sowieso getroffen | |
hätte.“ | |
Erwischt. Sie spricht eine der wohl bekanntesten kognitiven Verzerrungen | |
an: Den Confirmation Bias oder auf Deutsch Bestätigungsfehler. Wenn ich | |
eine Meinung oder Vorliebe habe, neige ich dazu, Informationen | |
wahrzunehmen, die dazu passen. Ich suche mir zum Beispiel Inzidenzen für | |
den Berliner Bezirk raus, in dem meine Freundin und ihre Tochter leben, und | |
sehe: Ach, bei mir im Bezirk ist die Inzidenz noch höher, dann kann ich | |
auch dorthin fahren. Oder ich sage mir: Am Anfang habe ich die beiden gar | |
nicht unterstützt, und die gemeinsame Zeit tut uns ja allen gut. Und: | |
Wenigstens sitze ich nicht im Büro mit vielen Kontakten, dann ist das | |
Treffen mit den beiden ja nicht so schlimm. | |
Das mag alles stimmen. Genauso gut könnte ich aber auch dagegen | |
argumentieren. Das Kind meiner Freundin wird abwechselnd von verschiedenen | |
Menschen in ihrem Umfeld betreut, somit hat es deutlich mehr Kontakte als | |
ich. Meine Freundin gehört außerdem aus gesundheitlichen Gründen zur | |
Risikogruppe. Sowohl für die Entscheidung, die beiden regelmäßig zu | |
treffen, als auch dagegen gibt es genug Gründe. Ich suche mir aber | |
diejenigen raus, die zu meinem Wunsch passen. | |
14. November 2020: „Ich musste heute Pause machen. Ich bin durch. Grey’s | |
Anatomy gerade war nochmal besonders intensiv. Ich hab sehr viel geweint. | |
[…] Es geht um Corona. Abermals mit den ganzen Opfern konfrontiert zu | |
werden, hat so wehgetan. Es schmerzt mich so sehr, wie viele Menschen | |
leiden und sterben. Täglich. Weltweit. In einer Pandemie leben tut weh.“ | |
## 178 neu gemeldete Todesfälle und 22.461 Neuinfektionen | |
Grey’s Anatomy war die erste und für mich bislang einzige Konfrontation in | |
der Popkultur mit der Pandemie: Die neueste Staffel der Serie steigt im | |
April 2020 ein und behandelt sowohl den Druck des medizinischen Personals | |
beim Kampf gegen die Pandemie als auch das Leid der Infizierten und | |
Angehörigen. | |
Ich habe 2020 vor allem als Journalistin für eine Nachrichtenagentur | |
gearbeitet: Dabei habe ich viele Pressekonferenzen zur Pandemie verfolgt, | |
Pressemitteilungen gelesen, mit Pressesprecher*innen geredet. Ich habe | |
mich aber wenig mit Opfern unterhalten oder mit Menschen, die als | |
Pflegekräfte oder Kassierer*innen „an der Front“ dabei waren – sie | |
waren in meinem Kopf daher wahrscheinlich nicht so „available“, also | |
verfügbar. Natürlich habe ich viele Artikel gelesen und Berichte aus | |
Krankenhäusern gesehen, aber einen persönlichen Bezug habe ich zu ihnen | |
nicht gehabt. Anders als zu meiner Lieblingsserie, deren Charaktere mich | |
schon etwa 15 Jahre begleiten. | |
Ähnlich, wenn auch nicht ganz so stark, habe ich jedes Mal reagiert, wenn | |
die Krankheit auch nur ansatzweise näher gerückt ist: Ein Kollege. | |
Entfernte Bekannte meiner Familie. Ein geschilderter Fall auf Twitter. | |
„Wenn ich jemanden im Umfeld habe, dann werde ich sehr wahrscheinlich | |
stärker reagieren, als wenn es ganz viele sind, die aber mit mir eher wenig | |
zu tun haben“, erklärt Maria Douneva das Phänomen. | |
Dieser sogenannte „Identifiable Victim Bias“ (auf Deutsch etwa: | |
Identifizierbares-Opfer-Denkfehler) ist auch aus der Spendenbranche | |
bekannt: Hilfsorganisationen werben oft mit einzelnen, traurig | |
dreinblickenden Kindern. Denn große Zahlen notleidender Menschen können | |
lähmend wirken und sorgen nicht unbedingt für eine hohe | |
Spendenbereitschaft. | |
Diesen Denkfehler nennt Douneva gleichzeitig sinnvoll und nachvollziehbar. | |
„Sonst könnten wir ja gar nicht funktionieren, wenn wir immer die ganze | |
Welt und ihre Einzelschicksale im Kopf hätten. Aber: In der jetzigen | |
Situation kann das von Nachteil sein, weil man womöglich unvorsichtiger | |
wird, solange man sich selbst als geschützt wahrnimmt.“ | |
Schließlich sehen wir auch viel eher die negativen Auswirkungen der | |
Maßnahmen als die positiven. Außer das medizinische Personal merken nicht | |
viele unmittelbar im Alltag, dass weniger Menschen sterben. Alle spüren | |
dagegen die Einschränkungen: Die Nachteile der Pandemiemaßnahmen sind viel | |
leichter abrufbar als die Vorteile. Es bedarf einer aktiven Handlung, sie | |
sich bewusst zu machen, während das Negative tagein, tagaus zu spüren ist. | |
Ich gehörte nie zu denen, die gesagt haben, das Virus könne mich und andere | |
nicht treffen, weil ich ja niemanden kenne, der es hat. Und dennoch: In | |
meiner Lieblingsserie mit so viel Leid konfrontiert zu werden, hat mich | |
schockiert. | |
1. August 2020: „Vor meiner Haustür feiern Tausende Menschen ‚Das Ende der | |
Pandemie‘. Ich verachte sie. Das will ich nicht. Aber ich könnte vor Wut | |
weinen.“ | |
## 7 neu gemeldete Todesfälle und 955 Neuinfektionen | |
Ich beschäftige mich nicht gerne mit Verschwörungsideologien. Das hat einen | |
wahnsinnig egoistischen Grund: Es macht mich so sauer und traurig, dass ich | |
irrational werde. Das liegt ironischerweise daran, dass mir rationales | |
Denken so wichtig ist, dass ich es kaum aushalte, wenn Menschen so | |
gefährliche Entscheidungen treffen wie in Massen zu demonstrieren oder sich | |
Masken zu verweigern. | |
So viel zum Thema: eigene Denkfehler und Urteile hinterfragen. Denn mit | |
meiner pauschalen Aussage bin ich hier natürlich unfair und höchst | |
subjektiv. Viele der Denkfehler, denen Menschen unterliegen, die an | |
Verschwörungen glauben, treten bei den allermeisten Menschen auf. Und das | |
muss auch erst mal nichts Schlimmes sein: Jede*r glaubt lieber Dinge, die | |
der eigenen Weltansicht entsprechen. | |
Es ist grundsätzlich sehr schwierig, Mehrdeutigkeit und Komplexität | |
auszuhalten. Denkfehler und kognitive Verzerrungen tauchen nicht nur bei | |
den „anderen“ auf, sondern bei uns selbst. Die Kunst ist es, dies zu | |
erkennen und, wie Kahneman vorschlägt, langsam zu denken. Denn bedachtes | |
Denken führt im Idealfall zu besseren Entscheidungen. Das soll nicht die | |
Gefahr von Verschwörungsideolog*innen verharmlosen; aber doch | |
aufzeigen, dass niemand vor schlechter Logik gefeit ist. | |
Nicht einmal ein Nobelpreisträger: Die Sozialpsychologie wurde vor einer | |
ganzen Weile von der sogenannten „Replication Crisis“ aufgerüttelt, als | |
klar wurde, dass viele Studien nicht mit dem gleichen Ergebnis wiederholt | |
werden konnten und Ergebnisse daher angezweifelt werden müssen. Auch der | |
gefeierte Daniel Kahneman war betroffen. In seinem Buch zitiert er etwa | |
eine Studie, wonach Menschen langsamer laufen, wenn sie vorher Wörter | |
gehört haben, die etwas mit dem Thema „Alter“ zu tun hatten; dieser und | |
mehrere ähnliche Effekte hielten der Prüfung allerdings nicht stand. | |
Kahneman selbst nennt es „ironisch“, dass er derartige Fehler gemacht hat �… | |
ist er doch auf einen Effekt hereingefallen, dem er selbst ein ganzes | |
Kapitel in „Schnelles Denken, langsames Denken“ gewidmet hat: das Gesetz | |
der kleinen Zahlen. Das simple Konzept ist, dass Experimente mit vielen | |
Proband*innen durchgeführt werden sollten, um aussagekräftige Ergebnisse | |
zu bekommen. Weil Kahneman aber das Ergebnis von Studien wie der mit den | |
Altersbegriffen und dem langsamen Laufen nach eigenen Worten so „sexy“ | |
fand, fiel er selbst darauf herein, obwohl die Untersuchung eigentlich | |
nicht genug Teilnehmende hatte. | |
Auch ein absoluter Experte in der Entscheidungsfindung ist eben fehlbar – | |
wie wir alle. Das heißt nicht, dass die genannten Denkabkürzungen immer | |
verkehrt sind. Oft ist es sinnvoll, schnelle Entscheidungen zu treffen und | |
nicht ewig darüber zu philosophieren, ob ich nun den Orangensaft öffnen | |
will oder lieber ein Glas Wasser trinke. | |
Gerade in der Pandemie können Alltagsentscheidungen anstrengen. Weil so | |
viel an ihnen zu hängen scheint. Umso wichtiger ist es, diese | |
Entscheidungen wie auch jegliche Urteile zu hinterfragen und sich selbst | |
nicht unreflektiert über den Weg zu trauen. Kahneman-Kritiker*innen werfen | |
ihm vor, er bewerte unser Denken und unsere Intuition als zu negativ. Das | |
kann ich verstehen; klingt ja auch alles erst mal sehr pessimistisch. | |
Gleichzeitig kann die kritische Auseinandersetzung mit eigenen Bewertungen | |
und Entscheidungen einen viel versöhnlicheren Blick auf andere Menschen zur | |
Folge haben: Wenn ich verstehe, dass auch ich ständig Denkfehlern | |
unterliege, ist es einfacher, anderen mit Verständnis zu begegnen. | |
11 May 2021 | |
## AUTOREN | |
Sarah Emminghaus | |
## TAGS | |
Lesestück Recherche und Reportage | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Wissenschaft | |
Stress | |
Psychologie | |
Entscheidungsfindung | |
GNS | |
Wirtschaftsnobelpreis | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Psychologie | |
Lesestück Recherche und Reportage | |
Wohlstand | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Daniel Kahneman ist tot: Der schnelle, langsame Denker | |
Der Psychologe Daniel Kahneman ist mit 90 Jahren gestorben. Für seine | |
Forschungen, wie Menschen mit Geld umgehen, bekam er den | |
Wirtschaftsnobelpreis. | |
Corona-Einschränkungen für Studierende: Online allein | |
Die Pandemie traf Studierende hart: Eine Medizinstudentin, ein Student in | |
London, ein Erstsemester und eine Frau in finanziellen Nöten erzählen. | |
Autor über Entscheidungsfindung: „Niemand googelt Gegenargumente“ | |
Wie trifft man gute Entscheidungen? Autor Mikael Krogerus hat sich mit der | |
Forschung zu Entscheidungsfindungen beschäftigt. Und gibt ein paar Tipps. | |
Spenden – aber wofür?: Kein Bild von traurigen Kindern | |
Im Wort „spenden“ liegt das Wort „enden“. Auf der Suche nach der Frage,… | |
hinter dem Bedürfnis steckt, Leid zu mildern, und wie man es am besten tut. | |
Umfrage von Allensbach: Schräg gestimmt | |
Der „Generation Mitte“ geht es gut wie nie, aber die Leute klagen über | |
schlechte Stimmung. Die Seele funktioniert nun mal paradox. |