# taz.de -- Die Wahrheit: Zehn Quadratmeter Zuhause | |
> Auf den eigenen vier Rädern: In der Problemwohnstadt Berlin geht der | |
> Trend zum flexiblen Wohnen auf dem Parkplatz. | |
Bild: Platz ist in der kleinsten Parklücke | |
Gemütlich haben sie es hier. Auf dem Grill garen ein paar Veggiesteaks, im | |
Eimer kühlen die Getränke im frischen Wasser aus dem Landwehrkanal und der | |
Bluetoothbox entströmen fröhliche Klänge per Stream, unterbrochen nur von | |
Werbung für Coronatests und Markenbutter beim Discounter. | |
„Gutes Leben muss nicht teuer sein“, sagt Grit B. und bietet dem Besucher | |
ihren Campingklappstuhl an, während sie für sich die Liege an den Tisch | |
rückt. Derweil füllt Gatte Ingbert B. ein drittes Glas, als über uns ein | |
Zug die Gleise entlangdonnert. Seit Wochen wohnt das Paar unter der | |
Hochbahntrasse der Berliner U-Bahn U 1. „Bis vor kurzem war noch | |
Schienenersatzverkehr“, sagt Grit. „Da war’s echt ruhig!“ Sie lächelt | |
selig. | |
Bis vor zwei Jahren haben Grit und Ingbert B. im teuren Süden Berlins in | |
einer Zweizimmerwohnung gelebt, Schmargendorf, 60 Quadratmeter für 1.200 | |
Euro Kaltmiete. „Nicht gerade wenig, aber bezahlbar“, sagt Ingbert. | |
Immerhin verdienen beide gut. Und doch fiel ihnen eine erhebliche | |
Diskrepanz auf. Der Anwohnerparkausweis für ihren Passat Variant kostete | |
lediglich 20,40 Euro. „Nicht monatlich, sondern für zwei Jahre!“, sagt | |
Grit. „Und so ein Straßenstellplatz ist in der Regel zwei mal fünf Meter | |
groß“, ergänzt Ingbert. „Kostenmäßig sind das im Monat nicht mal zehn C… | |
pro Quadratmeter!“ | |
Ihre Miete war im Vergleich dazu unverhältnismäßig hoch und drohte zudem | |
noch zu steigen. „Staffelmietvertrag, sag ich nur“, echauffiert sich Grit. | |
„Und richtig abgewohnt haben wir das nie!“ Die Finanzbuchhalterin und der | |
Kleintierfachverkäufer sind beide beruflich sehr eingebunden, machen nicht | |
selten Überstunden. „Da tränen einem schon beide Augen“, sagt Ingbert. �… | |
man da alles für kaufen könnte …“ Nachdem er die Veggiesteaks auf dem Gri… | |
gewendet hat, blickt er versonnen zur andere Straßenseite, wo der Passat | |
parkt. | |
## Urlaub im Kofferraum | |
„Oder Urlaub!“ Grit seufzt. „Timmendorfer Strand, Bayerischer Wald, | |
Erzgebirge.“ Lange Zeit sind die beiden überhaupt nicht verreist, weil dann | |
ja ihre Wohnung ungenutzt leer gestanden hätte. „Über eine Mietminderung | |
wollte die Hausverwaltung da nicht mit sich reden lassen!“ Also zog das | |
Paar einen radikalen Schnitt und kurzerhand ins Auto. Große Teile des | |
Besitzes wurden verkauft oder verschenkt. Unverzichtbares kam in den | |
Kofferraum. | |
Gewöhnungsbedürftig sei es anfangs schon gewesen, so dicht an der Straße zu | |
leben, doch viel lauter als in ihrer alten Wohnung eben auch nicht. Dank | |
des gesparten Geldes könnten sie nun jeden Abend ins Restaurant gehen. | |
Statt vor die Glotze ging es regelmäßig ins Kino und durchaus mal in | |
Theater oder Oper. „‚Don Giovanni‘ hör ich für mein Leben gern“, sagt | |
Ingbert. „Und bei schönem Wetter grillen wir auf dem Grünstreifen wie die | |
anderen Berliner auch.“ | |
Selbst das Verreisen sei ihm jetzt leichter gefallen. Schließlich stand | |
keine Wohnung mehr unnütz leer. Der Parkplatz allerdings ebenfalls nicht. | |
„Sowieso ein Problem“, sagt Grit. „Die besten Stellen sind abends immer | |
besetzt.“ Man wollte es ja nicht so weit zur City-Toilette haben. Bei | |
diesem intimen Thema verrät das Paar zudem, dass sich in einem solchen | |
Etablissement mit Hilfe eines Gartenschlauchs und einer handelsüblichen | |
Duschbrause sämtliche Bedürfnisse der Körperhygiene leicht erfüllen ließen. | |
Ihr Auto bewegen sie seitdem nur noch selten, wie Grit berichtet. „Es ist | |
schon schön, einen Ort zu haben, an den man regelmäßig zurückkehrt.“ | |
Gleichzeitig verschwänden Zwänge und Verbindlichkeiten. „In einer Wohnung | |
musst du ertragen, wenn dein neuer Nachbar laute Musik hört. Und der | |
Dauerbaustelle gegenüber bist du voll ausgeliefert. Wir wohnen da viel | |
flexibler.“ | |
Und so sind die beiden kürzlich von Schmargendorf nach Kreuzberg gezogen. | |
„Ist im Winter auch gut gewesen so unter der Hochbahn“, sagt Grit. Weitere | |
Worte übertönt ein über ihr ratternder Zug. Wahrscheinlich werden die | |
beiden bald schon ein neues Domizil finden. „Warum nicht mal Britz?“, | |
grinst Ingbert. | |
Obdachlos würden die beiden sich nicht nennen. Selbst wenn sie längst | |
keinen Anwohnerparkausweis mehr haben, zahlen sie ja nach wie vor Steuern | |
und damit auch – zumindest indirekt – für ihr Zuhause im öffentlichen | |
Straßenland. „Man lernt die Stadt so gleich viel besser kennen“, sagt | |
Ingbert. Schnell hätten sie festgestellt, dass sie mit dieser | |
ungewöhnlichen Lebensweise gar nicht allein seien. | |
„So einige Menschen leben hier in ihren Autos, manche freiwillig, manche | |
eher nicht so.“ Ingbert erzählt die Geschichte von Lars aus Treptow, der | |
seine Wohnung nicht mehr wiedergefunden und nach ein paar Nächten | |
festgestellt habe, dass es sich auf den eigenen vier Rädern viel angenehmer | |
wohnt. „Na ja“, unterbricht Grit ihren Gatten. „Der hatte auch Frau und | |
Kinder. Der wollte nicht nach Hause finden!“ | |
## Intim in der Stadt | |
Eine derartige Entfremdung droht den beiden gewiss nicht. Seitdem sie auf | |
der Matratze im Fond des Passats nächtigen, sei ihre Beziehung wieder enger | |
und intimer geworden. Und bei milden Temperaturen schlafen sie auf | |
Gartenliegen unter freiem Himmel. „Endlich hab ick als Berliner wirklich | |
das Gefühl, in dieser Stadt zuhause zu sein“, sagt Ingbert und schiebt die | |
gegrillten Veggiesteaks in aufgeschnittene Schrippen. | |
Doch auch bei ihnen habe Corona Spuren hinterlassen. Während Ingbert in | |
seiner Kleintierhandlung zwischenzeitlich auf Kurzarbeit gesetzt worden | |
war, macht Grit ihre Buchhaltung seit über einem Jahr im Homeoffice auf dem | |
Beifahrersitz. „Man muss sich halt zu arrangieren wissen“, sagt sie und | |
füllt die Gläser nach. | |
Die geschlossenen Restaurants und Kulturstätten stellten das Paar vor ein | |
größeres Problem. „Im Sommer gab’s dann ja plötzlich wieder Autokinos.“ | |
Ingbert lacht. „Also, nee! Im Auto sitzen wir ja auch so schon genug.“ | |
Außerdem hätten sie dann ja jedes Mal ihren angestammten Parkplatz aufgeben | |
müssen. Nur nachts drehen sie regelmäßig ein paar Runden, um die | |
Autobatterie wieder aufzuladen. Sie hätten durchaus diskutiert, selbst noch | |
den Passat zu verkaufen. „Ohne Auto biste ja nix“, sagt Grit. „Doch mit i… | |
stehen uns zehn Quadratmeter Berlin zu. Die macht uns keiner streitig.“ | |
Ab und an wolle sie ein Parkplatzsuchender vertreiben. „Wegen | |
Zweckentfremdung oder so“, sagt Ingbert. „Dem zeig ich dann mein Auto und | |
gut ist. Funktioniert übrigens auch beim Ordnungsamt.“ Manchmal müsse er | |
mit einer Veggiesteak-Schrippe nachhelfen. So lecker wie die sind, werden | |
Grit und Ingbert B. wohl noch lange auf einem öffentlichen Einstellplatz | |
wohnen. | |
4 May 2021 | |
## AUTOREN | |
Thilo Bock | |
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