# taz.de -- Die Wahrheit: Der gute Ton der schlechten Laune | |
> Pünktlich zur großen Wiedervereinigungssause am 30. Jahrestag ist | |
> West-Berlin als Museumsdorf für Touristen auferstanden. | |
Ey, haste mal ’ne Mark?“ Der Mann direkt am Eingang, der einen schief | |
liegenden, vergilbten Irokesenschnitt trägt, sagt an, wohin die Reise gehen | |
wird: tief hinein in selige Zeiten, in eine Stadt, die es so nicht mehr | |
gibt. | |
Dreißig Jahre nachdem die Frontstadt der sogenannten freien Welt | |
aufgegangen ist in die Hauptstadt Deutschlands, eröffnet jetzt auf einer | |
ehemaligen Reinickendorfer Industriebrache das Museumsdorf West-Berlin, | |
nach dem mittelalterlichen Erlebnisort Düppel bereits die zweite Anlage | |
dieser Art, die dem Stadtmuseum Berlin unterstellt ist. | |
Sandra Kunow ist Leiterin der neuen Freiluftausstellung. Stolz führt sie | |
über das Gelände. Vorbei an grauen Hausfassaden, in deren Schaufenstern es | |
trüb leuchtet, gelangen wir zum zentralen Platz, wo rund um eine | |
ausgebrannte Kirchenruine von Studierenden und Rentnern das damalige Leben | |
nachgeahmt wird. | |
„Gleich steppt hier der Bär!“, warnt uns Kunow unnötig vor, denn es ist | |
lediglich eine zuckende Felltierfigur, die ein mäßig begabter | |
Marionettenspieler von einer umgedrehten gelben Engelhardt-Bierkiste aus | |
lenkt. Darauf der alte Spruch: „Engelhardt macht Stengel hart.“ Leiernd | |
liefert sein Kassettenrekorder den Soundtrack dazu: „Ich hab so Heimweh | |
nach dem Kurfürstendamm.“ Der Begeisterung tut das null Abbruch. Um den | |
Puppenführer herum klumpt sich eine Gruppe johlender Schaulustiger | |
zusammen. | |
„Heute ist das schwer vorstellbar“, sagt Kunow. „Früher sind alle | |
West-Berliner am Wochenende über den Ku’damm flaniert, dabei waren abends | |
nicht mal die Läden offen.“ Sie erinnert an den legendären „langen | |
Samstag“. Einmal im Monat durfte man bis 18 Uhr shoppen, blieb aber die | |
halbe Nacht, „gerne mal bis zehn“, auf dem Boulevard. „Unglaublich! Da | |
gab’s nicht mal richtige Cafés, also genauso wie heute, und trotzdem sind | |
die Leute alle hin“, erzählt die Museumsleiterin begeistert. | |
## Das schnelle Glück an der Ecke | |
„Einzige Ausnahme war das Kranzler, und das war den meisten entweder zu | |
spießig oder zu teuer.“ Während dort vornehmlich Wilmersdorfer Naziwitwen | |
mit Dutt und Hut matschige Cremeschnitten verschlangen und die | |
Vorbeischlendernden mit abfälligem Kopfschütteln bedachten, ließen sich die | |
Passanten lieber von jugoslawischen Hütchenspielern abzocken. | |
Auch heute suchen Besucher des Museumsdorfs das vermeintlich schnelle Glück | |
an der Straßenecke. Der 65-jährige Zoran Gajur ist nach eigenen Angaben | |
„ungeschlagener King vonne Ku’damm“. Die achtziger Jahre waren für den | |
pensionierten Trickbetrüger goldene Zeiten. Sein blitzendes Gebiss zeugt | |
davon bis heute. Gajur sorgt jetzt dafür, dass die Kasse des Fördervereins | |
Museumsdorf West-Berlin beträchtlich aufgefüllt wird. Ehrenamtlich, | |
versteht sich. Er zwinkert uns lustig zu. | |
„Es war nicht schwer, Interessierte zu finden, die in ihrer Freizeit das | |
Leben von damals möglichst authentisch imitieren“, sagt Direktorin Kunow. | |
„Es gibt sie ja durchaus, die unverbesserlichen West-Berliner, die sich nie | |
mit dem Untergang ihrer Insellage abgefunden haben. Manche von ihnen sind | |
erst nach 1989 geboren. Denen steckt die Frontstadt in den Genen.“ | |
Sandra Kunow schmunzelt. Sie selbst ist in den Achtzigern in Lichtenrade | |
aufgewachsen. „Natürlich habe ich heimatliche Gefühle, auch positive. Die | |
meisten denken halt gerne zurück an den Ort ihrer Herkunft, doch so wie die | |
damals aus der westdeutschen Provinz Zugezogenen käme ich nie auf die Idee, | |
dieses spießige Früher zurückhaben zu wollen. Ein erinnertes West-Berlin | |
reicht mir voll und ganz.“ | |
Dass sie nun daran beteiligt ist, es wieder aufleben zu lassen, ist für | |
Kunow kein Widerspruch. Vielmehr sähen auch die Nostalgiker, dass nicht | |
alles glänzt, was im Gedächtnis so golden wirke. So lockt das Museumsdorf | |
mit allerlei Skurrilitäten aus der Mottenkiste des Vergangenen und | |
Vergessenen. Alle zwei Stunden fährt ein weißer Royce-Rolls ums Karree. An | |
seinem Steuer der originale Rolf Eden, liebevoll ausgestopft vom | |
Naturkundemuseum. | |
Skeptikern wird an jeder Ecke ein „Wat kiekste?“ hinterhergeraunzt. Eine | |
Wiederbegegnung mit der sprichwörtlich schlechten Berliner Laune ist | |
garantiert. Vor allem an der Currywurstbude bekommt keiner seine darmlose | |
Wurst ohne eine kesse Bemerkung durch die vom ranzigen Friteusenduft | |
durchzogene Berliner Luft gereicht. | |
## Das lange Warten aufs Getränk | |
Familie Schmitz aus Lüneburg ist dennoch begeistert, zumindest die Eltern. | |
Kerstin und Ulf haben West-Berlin während wilder Klassenfahrten | |
kennengelernt. Freudig genießen sie heute quietschbunte Berliner Weiße, die | |
ihnen nach langem Warten stilecht in pokalförmigen Schalen serviert wird. | |
„West-Berlin war für uns die weite Welt, auch wenn wir uns das damals | |
irgendwie spektakulärer vorgestellt haben.“ Ihre Teenager-Söhne Kevin und | |
Paul gucken nur kurz von den Smartphones auf. Ihnen fehlt hier eindeutig | |
das Action-Angebot eines Heideparks Soltau. | |
Derartiges ist zumindest in Planung. „Eigentlich geht West-Berlin nicht | |
ohne Kreuzberg“, sagt Direktorin Kunow. „Also noch mehr schräge Typen und | |
vor allem Demos, die mit grober Gewalt aufgelöst werden.“ Bereits im | |
nächsten Jahr solle es einmal die Woche Straßenschlachten geben, an denen | |
sich die Besucher beteiligen könnten. „Das Verkehrsmuseum hat uns dafür | |
einen original Wasserwerfer versprochen, der erstmals bei der | |
sagenumwobenen Schlacht am Tegeler Weg zum Einsatz gekommen ist.“ | |
Auch sollen regelmäßig Seifenkistenrennen stattfinden und Platzkonzerte wie | |
damals zu Pfingsten im Zoologischen Garten mit viel Tschingerassabumm. Denn | |
– so lautete lange Zeit der Slogan des Stadtmarketings – „Berlin ist immer | |
eine Reise wert“. Nur die Abfahrt kann sich verzögern. | |
So bilden sich am Ausgang des Museumsdorfs lange Schlangen. Vor allem wer | |
mit dem eigenen Auto anreist, sollte erhebliche Wartezeit einkalkulieren. | |
„Zu West-Berlin gehörte eben immer auch die DDR“, sagt Kunow. „In der St… | |
hat man bloß in Randlagen überhaupt Notiz genommen von der Mauer. Wer aber | |
doch mal woandershin wollte, musste ja über einen der Grenzübergänge.“ Und | |
so kontrollieren authentisch misstrauische Uniformierte die Papiere der | |
Reisenden. Wer seinen Personalausweis vergessen hat, muss sich einen | |
behelfsmäßigen ausstellen lassen, gegen harte Devisen. Nur echt mit dem | |
Schwarzweißfoto. | |
Innerhalb der Anlage hingegen kann es einem passieren, auf eine alliierte | |
Militärstreife zu treffen. „Wer in West-Berlin ohne Perso angetroffen | |
wurde, hätte theoretisch sofort standrechtlich erschossen werden können“, | |
erklärt Sandra Kunow. „Das ist nach meinem Wissen jedoch äußerst selten | |
praktiziert worden.“ | |
Heute komme man mit einer großzügigen Spende an den Förderverein davon. Man | |
sollte daher nicht alles beim Hütchenspieler verzocken. | |
3 Oct 2020 | |
## AUTOREN | |
Thilo Bock | |
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