| # taz.de -- Vereinsamung von Heimbewohnern: Der Rest ist Schweigen | |
| > Nirgends sind die Menschen inzwischen so gut immunisiert wie in den | |
| > Altenheimen. Jetzt wünschen sie sich auch etwas Normalität zurück – | |
| > vergeblich. | |
| Bild: Trotz Impfung kein Kontakt: Szene aus einem Pflegeheim in Dresden | |
| München taz | Hin und wieder gibt es sie ja, die positiven Nachrichten. So | |
| wie am 30. März, da trat in München der bayerische Ministerpräsident Markus | |
| Söder vor die Presse und berichtete über die [1][Corona-Impfungen] in | |
| Bayern. Söder kam auch auf die Situation in den Heimen zu sprechen: „Dort | |
| sind jetzt über 80 Prozent der Alten- und Pflegeheimbewohner erst- und | |
| zweitgeimpft.“ | |
| Söder sagte weiter: „Alten- und Pflegeheime sind nicht komplett, aber doch | |
| weitgehend immunisiert. Übrigens auch 60 Prozent der Mitarbeiter haben sich | |
| dort jetzt impfen lassen.“ Damit, so Söder, müsse man sich nun zumindest | |
| wegen dieser „extremen Schwachstelle in der zweiten Welle“ nicht mehr | |
| sorgen. | |
| Das klingt großartig. Ein Aufatmen könnte nun durch die rund 1.500 | |
| bayerischen Alten- und Pflegeheime gehen. Schließlich kamen die | |
| schlimmsten Horrornachrichten während der Pandemie regelmäßig von dort. | |
| Ausbrüche in Alten- und Pflegeheimen haben besonders vielen Menschen das | |
| Leben gekostet. | |
| Wer in den Heimen gesund blieb, hatte dennoch unter den strikten | |
| Hygienevorschriften zu leiden: Abstand halten, Maske tragen, für | |
| alleinstehende alte Menschen, die nicht selten auch unter Demenz litten, | |
| war dies nur schwer zu ertragen. Berührung ist für sie oft die letzte ihnen | |
| verbliebene Art der Kommunikation. Diese war ihnen nun verwehrt. | |
| ## Immunisierung hat nichts verbessert | |
| Für die rund 100.000 Menschen, die in den Heimen leben, könnte dies nun | |
| also neue Lebensqualität bedeuten, etwas, das einer Rückkehr zur Normalität | |
| ähnelt. Könnte. Doch auch jetzt, wo die Gefahr durch das Virus in den | |
| Heimen weitgehend gebannt scheint, werden die strengen Regeln nicht | |
| aufgehoben. | |
| Je nach Heim und Bundesland haben die alten Menschen nun zwar die | |
| Möglichkeit, häufiger Besuch zu empfangen und an Gruppenangeboten | |
| teilzunehmen. Die Abstandsregeln und das Maskengebot bleiben dagegen meist | |
| unangetastet. In Nordrhein-Westfalen dürfen Geimpfte im direkten Kontakt | |
| immerhin die Maske ablegen. | |
| In Bayern jedoch habe sich durch die Immunisierung rein gar nichts | |
| verbessert, sagt Nicole Czwielong, Altenheimmitarbeiterin aus Coburg, die | |
| schon im Herbst mit zwei Kolleginnen eine Petition beim bayerischen Landtag | |
| eingereicht hatte. Darin hatten sie gefordert, das Abstandsgebot innerhalb | |
| eines Wohnbereichs eines Altenheims fallen zu lassen, also in der Regel für | |
| Gruppen von rund 20 bis 30 Personen. Aktuell lasse man die Heimbewohner | |
| sehenden Auges vereinsamen, schrieben sie damals. | |
| Jetzt, fünf Monate später, sei die Situation noch immer dieselbe. Nach wie | |
| vor würden die Bewohnerinnen und Bewohner durch Plexiglasscheiben | |
| voreinander „geschützt“. Sie müssten alle Masken tragen und vor allem | |
| Abstand halten. „Damit richten wir einen größeren Schaden an, als dass wir | |
| irgendjemandem nutzen“, sagt Czwielong. Es gehe doch um die „Schwächsten | |
| unserer Gesellschaft“. | |
| Die Petition wurde mittlerweile im Gesundheitsausschuss des Landtags mit | |
| den Stimmen der Koalitionspartner CSU und Freie Wähler sowie der FDP | |
| zurückgewiesen. Dass sich die Politik in besonderem Maße um die Gesundheit | |
| dieser stets als besonders vulnerabel bezeichneten Gruppe sorgt, daran mag | |
| Czwielong inzwischen kaum mehr glauben. Zumindest nicht, wenn es um die | |
| seelische Gesundheit der alten Menschen geht. | |
| ## Kein hundertprozentiger Schutz | |
| So ist aus einem oberfränkischen Heim zu hören, dass dort von etwas mehr | |
| als 100 Bewohnern mittlerweile bis auf zwei alle immunisiert seien – | |
| entweder, weil sie bereits infiziert waren oder entsprechende Impfungen | |
| erhalten haben. Auch von den [2][Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern] hätten | |
| alle ein Impfangebot bekommen. Geändert habe sich dadurch allerdings nichts | |
| für die alten Menschen. | |
| Nach den Gründen für die Beibehaltung der strikten Regeln befragt, verweist | |
| eine Sprecherin des Gesundheitsministeriums darauf, dass es keinen | |
| hundertprozentigen Schutz gebe und man nicht wisse, ob eine Impfung die | |
| Weitergabe des Virus verhindere. | |
| Die Hinweise darauf sind jedoch recht deutlich, und ohnehin wäre die | |
| Infektionsgefahr, die von den geimpften Heimbewohnerinnen und -bewohnern | |
| ausgehen könnte, sehr gering, auch wenn durchgeimpfte Wohngruppen künftig | |
| als Haushalte behandelt würden. Die Kontakte zu nicht Geimpften sind | |
| überschaubar und fänden nach wie vor unter strengen Hygienevorkehrungen | |
| statt. | |
| Auf die Nachfrage der taz, ob es angesichts dieser geringen Gefahr | |
| vertretbar sei, die gravierenden Folgen für die psychische Gesundheit der | |
| Menschen in den Heimen in Kauf zu nehmen, heißt es aus dem Ministerium: „Im | |
| einrichtungsindividuellen Schutz- und Hygienekonzept muss, insbesondere | |
| hinsichtlich der Besuchsregelung, zwischen dem Selbstbestimmungsrecht der | |
| pflege- und betreuungsbedürftigen Menschen und den gerade in stationären | |
| Einrichtungen notwendigen Maßnahmen des Infektionsschutzes eine fachliche | |
| und ethische Güter- und Interessenabwägung (Risikobewertung) getroffen | |
| werden.“ | |
| So abstrakt, so richtig. Nur: Eine Antwort, warum diese Güterabwägung so | |
| eindeutig zu Ungunsten der alten Menschen ausfällt, ist es nicht. | |
| ## Die Politik prüft und prüft | |
| Der SPD-Landtagsabgeordneten Ruth Waldmann fehlt jedes Verständnis für die | |
| rigide Haltung der Staatsregierung. „Die Impfungsrate verändert die Lage | |
| entscheidend. Darauf muss man doch reagieren und endlich dieses Stück | |
| Freiheit und Leben wieder zurückgeben“, sagt Waldmann, die auch | |
| stellvertretende Vorsitzende des Gesundheitsausschusses ist. „Es ist in der | |
| Auswirkung wirklich grausam für die Bewohnerinnen und Bewohner, wenn die | |
| Kontakte derart beschränkt sind.“ | |
| Von dem Argument des Gesundheitsministeriums, dass auch Geimpfte das Virus | |
| weitergeben könnten, hält Waldmann wenig. „Wir wissen doch inzwischen mehr | |
| – zum Beispiel, dass die Immunisierung die Weitergabe des Virus sehr stark | |
| hemmt.“ Die Einschränkungen seien sehr stark. „Das heißt, man muss sehr g… | |
| begründen können, welchen Beitrag zur Infektionseindämmung diese Maßnahmen | |
| denn tatsächlich auch bringen.“ | |
| Auf Nachfrage der taz erklärte die damalige Gesundheitsministerin Melanie | |
| Huml im Oktober: „Klar ist: Gerade bei Demenzerkrankten sind Berührung und | |
| Nähe ein wichtiges Mittel zur Kommunikation. Wie wir diese wichtige Nähe in | |
| der aktuellen Situation ermöglichen können, prüfen wir derzeit.“ | |
| Und auch Humls Nachfolger Holetschek ließ jüngst wissen, das Ministerium | |
| prüfe „fortschreitend, ob aufgrund des aktuellen Infektionsgeschehens | |
| zugunsten menschlicher Nähe auf den Mindestabstand von 1,5 Metern zwischen | |
| den Bewohnerinnen und Bewohnern verzichtet werden kann.“ | |
| Doch während die Politik prüft und prüft, vereinsamen die Menschen in den | |
| Heimen zunehmend. Menschen, denen ohnehin nicht mehr allzu viel Zeit | |
| bleibt. Die Beobachtung, die nicht nur Altenpflegerin Czwielong macht: In | |
| den Heimen breitet sich inzwischen ein unheimliches Schweigen aus. Wo es | |
| früher noch lebhaft zuging, kommen jetzt Gespräche zwischen den oft | |
| schwerhörigen und dementen Bewohnern unter den erschwerten Bedingungen | |
| nicht mehr zustande. | |
| ## Depressive Stimmung | |
| Oft haben sie es ohnehin schon aufgegeben, versuchen gar nicht mehr, | |
| miteinander in Kontakt zu treten. Selbst bei Gruppenangeboten säßen sie nur | |
| noch lethargisch und antriebslos herum, es habe sich inzwischen eine | |
| depressive Stimmung breitgemacht, erzählt Czwielong. „Die Leute sehen | |
| keinen Grund mehr, sich anzustrengen. Sie verwahrlosen einfach.“ | |
| Es gibt Heime, da werden die Vorgaben aus München etwas großzügiger | |
| ausgelegt, auch Begegnungen ohne Mindestabstand zwischen den Bewohnern | |
| ermöglicht. Doch Heimleitungen, die dieses Risiko eingehen, sind selten. | |
| Häufiger scheinen Beispiele für das andere Extrem zu sein. | |
| „Ich habe auch schon von Fällen gehört, wo Bewohnerinnen und Bewohner eines | |
| Heimes über Wochen isoliert auf ihren Zimmern bleiben mussten“, erzählt | |
| Parlamentarierin Waldmann – und kann das bis zu einem gewissen Grad sogar | |
| nachvollziehen: „Die Heimleitungen sind in der ganzen Pandemie mit ziemlich | |
| viel Verantwortung alleingelassen worden. Kein Wunder, dass manche auf | |
| Nummer sicher gehen.“ | |
| In einzelnen Häusern sei nach einem Corona-Ausbruch ja auch gleich die | |
| Staatsanwaltschaft angerückt, um zu überprüfen, welche Maßnahmen | |
| eingehalten worden seien und welche nicht. „Da müsste man denen halt auch | |
| etwas von der Verantwortung abnehmen.“ | |
| 12 Apr 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Dominik Baur | |
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