# taz.de -- Schulen in Peru: Kampf gegen die Flucht | |
> Equipment fehlt, das Netz ist unzureichend und Lehrkräfte fehlen. | |
> Hunderttausende SchülerInnen haben deshalb Perus Schulen verlassen. | |
Bild: Suche nach Internet: Schüler*innen am Stadtrand von Lima steigen auf die… | |
Hamburg taz | Die Schule „Fe y Alegría 21“ im Stadtteil San Jerónimo von | |
Cusco ist geschlossen. Bis zum 1. Juli wird in der peruanischen Stadt kein | |
Präsenzunterricht stattfinden. „Das ist für die Region Cusco so festgelegt | |
und es macht Sinn“, sagt Rektorin Eleonora Morales Azurín. „Die | |
In-frastruktur an dieser Schule lässt wie an vielen anderen keine | |
Alternativen zu.“ Für den Semipräsenz-Unterricht seien die Klassenräume der | |
Grund- und weiterführenden Schule mit mehr als 1.200 Schüler*innen zu | |
klein. | |
Seit Monaten finden die Unterrichtsstunden der Fe y Alegría 21 im | |
Arbeiterviertel am Rande der alten Inkastadt komplett virtuell statt. | |
Ähnlich wie die Nachbarländer Bolivien oder Ecuador gehört Peru zu den | |
Ländern, deren Schulen besonders lange geschlossen waren oder es immer noch | |
sind, so wie in Cusco. | |
Mit Sorge konstatiert das auch eine aktuelle Studie der Organisation für | |
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Weltweit seien | |
eineinhalb Milliarden Kinder zumindest zeitweise von Schulschließungen | |
betroffen gewesen, in Lateinamerika und der Karibik aber oft deutlich | |
länger als in Europa. Mangels digitaler Technik und Unterstützung durch | |
Eltern konnten dort fehlende Stunden zudem schlechter ausgeglichen werden. | |
Langfristig könne das die Bildungsungleichheiten verstärken, warnte die | |
Organisation in der Anfang diesen Aprils erschienenen Publikation. Dabei | |
wurde auch auf Daten der UNICEF zurückgegriffen. Deren Regionaldirektor für | |
Lateinamerika und die Karibik, Jean Gough, geht davon aus, dass rund | |
sechzig Prozent der Abc-Schützen aus der Region ein komplettes Schuljahr | |
verlieren werden. | |
## Schule ohne Präsenzunterricht als Herausorderung | |
Das versucht Eleonora Morales Azurín an ihrer Schule, deren Name übersetzt | |
„Glaube und Freude“ bedeutet, seit Beginn der Pandemie mit einem überaus | |
engagierten Kollegium zu verhindern. „Wir halten den Kontakt mit allen | |
Schüler*innen, haben Whatsapp-Listen für alle Klassen angelegt, | |
Unterrichtsmaterialien digital und analog vorbereitet, die wir zur Not auch | |
bei den Schüler*innen zu Hause vorbeibringen,“ erklärt die Rektorin. | |
Alle Schüler*innen mitzunehmen, zu motivieren, auch ohne den gewohnten | |
Präsenzunterricht dran zu bleiben, ist in Peru eine enorme Herausforderung. | |
Kinder und Jugendliche haben kaum Erfahrung mit Onlineunterricht, selbst | |
Lernprogramme im Fernsehen oder Radio sind alles andere als die Regel. | |
„Virtueller Unterricht über Handy, Tablet oder Computer ist für uns etwas | |
vollkommen Neues“, so Rektorin Morales Azurín. „Aprendo en Casa“ heißt … | |
digitale Format, das vom Bildungsministerium in Lima im letzten Jahr | |
aufgelegt wurde und mit erheblichen Startproblemen zu kämpfen hatte, so | |
Carlos Herz. | |
Der 62-jährige Entwicklungsexperte hat lange internationale Organisationen | |
bei Projekten in Peru beraten und ist seit ein paar Jahren Direktor des | |
kirchlichen Bildungszentrums Bartolomé de las Casas in Cusco. Er warnt, | |
dass die Bildungsschere zwischen Stadt und Land weiter auseinander zu gehen | |
droht. | |
## Wirtschaftliche Talfahrt | |
Dafür seien der rudimentäre Internet-Zugang, die Armut in der Andenregion | |
und die ökonomische Krise verantwortlich, sagt Herz. „Schon bei Regen ist | |
die Netzverbindung zwischen Lima und Cusco instabil“, schildert er seine | |
Erfahrungen aus der virtuellen Kommunikation zwischen seinem Wohnsitz Lima | |
und seinem Arbeitsplatz in Cusco. | |
Noch gravierender sei der Effekt der Corona-bedingten wirtschaftlichen | |
Talfahrt. Der Andenstaat ist [1][stark von der Pandemie gebeutelt] und | |
verzeichnet seit deren Beginn mehr als 1,7 Millionen Corona-Infektionen. | |
Zeitweise gehörte Peru zu den Ländern mit der höchsten Sterblichkeitsquote | |
weltweit. Um 11,1 Prozent ist das Bruttoinlandsprodukt (BIP) laut dem | |
peruanischen Nationalen Statistikinstitut (INEI) 2020 geschrumpft. | |
Besonders betroffen sind diejenigen, die kein formales Arbeitsverhältnis | |
haben, so der Entwicklungsexperte. „Tagelöhner, Straßenverkäufer, | |
Handwerker, die mit ihrer Werkzeugtasche am frühen Morgen im Zentrum von | |
Cusco auf Arbeitgeber warten.“ Zwischen 70 und 75 Prozent aller | |
Beschäftigen in Peru [2][arbeiten informell], leben de facto von dem, was | |
sie am Tag verdienen. | |
Ihre Kinder sind davon gleich mehrfach betroffen. Auf rund 300.000 werde | |
die Zahl der Eltern geschätzt, die den Schulbesuch ihrer Kinder an einer | |
vermeintlich besseren Privatschule nicht mehr finanzieren können, so Herz. | |
„Die Kinder und Jugendlichen müssen an eine öffentliche Schule wechseln.“ | |
## Für Funksignal auf nächsten Berg | |
Noch gravierender ist, dass viele Kinder mit ihren Eltern in deren | |
Herkunftsregionen übersiedeln mussten. Aus Lima, aus Arequipa, aber auch | |
aus Cusco, so Rektorin Morales Azurín. Etliche Familien aus San Jerónimo | |
hätten das Viertel verlassen. „Die Väter schuften in ihren | |
Herkunftsgemeinden in der Landwirtschaft und manchmal im Bergbau, oft | |
müssen die halbwüchsigen Jungs mit anpacken, um durch die Krise zu kommen“, | |
so die Rektorin. | |
Bis nach Puno am Titicacasee sind Schüler*innen der Fe y Alegría 21 mit | |
ihren Eltern gezogen, weil es dort Arbeit oder Verwandte gibt. „Kollegen, | |
die davon erzählen, dass ihre Schüler eine halbe Stunde lang bis zum | |
nächsten Berg marschieren, um das Funksignal einzufangen und die Aufgaben | |
runterzuladen, gibt es viele“, sagt Morales Azurín. | |
Wenn überhaupt Geräte zum Download der Aufgaben zur Verfügung stehen. Denn | |
Smartphones, Tablets oder Laptops haben längst nicht alle im Armutsgürtel | |
um Lima und in Dörfern wie Antas nahe Cusco oder Puno am Titicacasee – | |
Hürden, an denen Kinder und Jugendliche durchaus scheitern, wenn es an | |
engagierten Pädagog*innen oder der Unterstützung durch die Eltern fehlt, | |
so Salomón Lerner. | |
„Die Pandemie hat uns technologisch ins 21. Jahrhundert katapultiert – der | |
virtuelle Unterricht ist eine komplett neue Dimension. Dafür braucht es | |
nicht nur Tablets, sondern auch Anleitung“, mahnt der ehemalige Rektor der | |
Päpstlichen katholischen Universität Perus. | |
## Nur wenige Tablets angekommen | |
An beidem hapert es, so Carlos Herz. Von den 1,1 Millionen bestellten | |
Tablets habe das Bildungsministerium nur wenige erhalten – | |
Lieferschwierigkeiten. Wirklich vorbereitet auf das neue Medium sind längst | |
nicht alle Pädagog*innen in Peru. | |
Das hat Folgen. Reihenweise drehen die Jugendlichen der Schule den Rücken. | |
Während die Bildungsgewerkschaft Sutep von bis zu einer Million | |
„Schul-Deserteuren“ ausgeht, kalkuliert das Bildungsministerium in Lima mit | |
300.000. Auch in Cusco schwebt das Gespenst der Abwanderung über den | |
Bildungseinrichtungen. | |
In der Fe y Alegría 21 liefen die Vorbereitungen für das Schuljahr 2021 | |
bereits Mitte Februar, einen Monat vor dem virtuellen Unterrichtsbeginn, | |
an. „Da haben wir alle Schüler*innen angerufen, auch mit den Eltern | |
gesprochen und Unterricht und Unterrichtsformate digital und analog so weit | |
wie möglich vorbereitet“, so Morales Azurín. Niemand sollte durch das | |
pandemiebedingt großmaschige bildungspolitische Raster rutschen. | |
Mit einem engagierten Kollegium durchaus möglich, sagt die Rektorin, und | |
der Stolz in ihrer Stimme ist kaum zu überhören. „Als wir am 15. März ins | |
neue Schuljahr gestartet sind, waren wirklich alle dabei: Kein Schüler und | |
keine Schülerin hat aufgegeben“. Über WhatsApp und GoogleMeet läuft die | |
Kommunikation. In den drei bis vier Prozent der Familien, wo weder ein | |
Smartphone noch ein Tablet zur Verfügung steht, wird improvisiert. | |
## Pädagog*innen protestierten | |
Das ist bemerkenswert in der Region Cusco, die vor allem von | |
Landwirtschaft, Bergbau und Tourismus lebt und wo die Infrastruktur oft nur | |
rudimentär vorhanden ist. Immerhin hat das Bildungsministerium es | |
geschafft, dafür zu sorgen, dass „Aprendo en Casa“ nicht nur im Internet | |
läuft, sondern auch im Fernsehen und Radio ausgestrahlt wird. Das sorge für | |
eine viel breitere Abdeckung, loben Fachleute. | |
Gleichzeitig weist Entwicklungsexperte Herz auf strukturelle Defizite hin: | |
„Corona zeigt uns unsere chronischen Defizite auf: die mangelhafte | |
Infrastruktur auf der einen, das schlecht qualifizierte, mies bezahlte und | |
viel zu knappe pädagogische Personal auf der anderen Seite“. | |
Das ging Mitte Februar auf die Barrikaden, als die Pläne des | |
Bildungsministeriums publik wurden. „Da plädierten die Experten in Lima für | |
den Präsenzunterricht in kleinen Klassen, ohne allerdings die | |
bildungspolitischen Realitäten in Regionen wie Cusco, Puno oder im | |
Amazonas-Regenwald von Madre de Dios in Betracht zu ziehen“, kritisiert | |
Morales Azurín. Sie hat Erfahrung in anderen Landesteilen und teilt die | |
Kritik der Bildungsgewerkschaft Sutep. Als „unverantwortlich“, hatte dessen | |
Generalsekretär Lucio Castro die Pläne gegeißelt. Viele der Schulen auf dem | |
Land hätten weder Wasser- noch Abwasser-Anschluss, die Klassenräume seien | |
meist klein, oft ein Lehrer für mehrere Klassen verantwortlich. | |
Präsenzunterricht bei halbierter Klassenstärke sei in den meisten | |
abgelegenen Regionen vollkommen unrealistisch, denn nicht nur dort, sondern | |
landesweit fehle es an Lehrer*innen. Eine Einschätzung, die | |
Bildungsexpert*innen wie Salomón Lerner teilen. Schon lange sitze Peru | |
bei den Pisatests in der Region auf einer der letzten Bänke. Lerner fordert | |
mehr Investitionen in Bildung und mindestens übergangsweise mehr | |
Lehrer*innen, um die verlorene Schulzeit zumindest teilweise aufzuholen. | |
Läuft alles nach Plan, werden sich die Schultüren der Fe y Alegría 21 | |
Anfang Juli wieder öffnen. Dann ist die Wiederaufnahme des | |
Präsenzunterrichts in Cusco anvisiert. Bis dahin sollen, so Rektorin | |
Morales Azurín, alle Lehrer und Schüler geimpft sein. Das ist zumindest | |
offizielles Ziel. | |
28 Apr 2021 | |
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## AUTOREN | |
Knut Henkel | |
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