| # taz.de -- Ende der Castro-Ära in Kuba: Der gescheiterte Erneuerer | |
| > Raúl Castro ist nach fünfzehn Jahren an der Macht abgetreten. Er wollte | |
| > Kuba vorsichtig reformieren – und hinterlässt ein wirtschaftliches | |
| > Desaster. | |
| Bild: Wollte als Reformer in die Geschichte eingehen: Raúl Castro | |
| Die riesige Fotomontage der beiden Brüder Castro, Fidel und Raúl, steht am | |
| Abzweig nach Birán. Den Namen des Ortes kennt jedes Kind in Kuba. Denn dort | |
| wuchsen die beiden Männer auf, die die jüngere Geschichte Kubas geprägt | |
| haben: [1][Fidel und Raúl Castro.] Kubas Máximo Líder starb im November | |
| 2016, Raúl Castro lenkte seit dem 2006 die Geschicke der Insel. Nun macht | |
| er Jüngeren Platz. | |
| Das ist eine Zäsur in Kubas 62-jähriger Revolutionsgeschichte, die | |
| untrennbar mit dem Namen Castro verbunden ist. [2][Raúl Castro wollte als | |
| Reformer in die Geschichte eingehen – und zu Beginn sah es so aus, als | |
| könnte das gelingen.] | |
| In den ersten fünf, sechs Jahren nach seiner Machtübernahme 2006 veränderte | |
| sich die kubanische Gesellschaft. Katalysator war dabei die Legalisierung | |
| des Mobiltelefons und später des Internets. Auch der finanzpolitische | |
| Spielraum der Insel wuchs. Unter seiner Regie kam es zu den spektakulären | |
| Umschuldungsvereinbarungen mit Russland und dem Pariser Club. | |
| Die Gläubiger erließen Kuba zig Milliarden an Altschulden und sorgten | |
| dafür, dass die Auslandsverschuldung der Insel auf ein erträgliches Maß | |
| sank. Kuba stand erstmals seit Mitte der 1980er Jahre nicht mehr als Paria | |
| der internationalen Finanzmärkte da. Das Bravourstück kubanischer | |
| Diplomatie verschaffte der Insel zumindest vorübergehend wieder Zugang zu | |
| Krediten auf den Finanzmärkten. | |
| ## Politisches Tauwetter | |
| Für positive Schlagzeilen sorgte Raúl Castro auch mit der 2012 verfügten | |
| Reisefreiheit für alle Kubaner und Kubanerinnen. Wer das Geld für Tickets | |
| und Co. hatte, kann seitdem die Insel verlassen, Erfahrungen im Ausland | |
| sammeln, Geld verdienen und zurückkehren. Das war genauso eine Zäsur in der | |
| kubanischen Geschichte wie das historische Telefonat zwischen Raúl Castro | |
| und Barack Obama. | |
| Dieses Gespräch war der Auftakt des politischen Tauwetters zwischen der | |
| Insel und dem Koloss im Norden, wie ein kubanischer Nationaldichter die USA | |
| einst taufte. Im März 2016 feierte nicht nur Kuba den Obama-Besuch als den | |
| Auftakt für das vermeintlich absehbare Ende das US-Embargos, eines | |
| beispiellosen Wirtschaftskrieges aus hegemonialen Motiven. | |
| Das war zu früh, wie Donald Trumps Präsidentschaft zeigte. Bis 2016 hatte | |
| sich die politische Führung in Havanna auf den wachsenden US-Tourismus als | |
| zusätzliche Devisenquelle verlassen und das Tempo der Reformen auf nahe | |
| null gedrosselt. Ein fataler Fehler. | |
| Denn nun befindet sich Kuba [3][in der schlimmsten Wirtschaftskrise seit | |
| Beginn der 1990er Jahre], als die Insel die Unterstützung durch die | |
| Sowjetunion binnen weniger Monate einbüßte. Die Lage ist desolat. | |
| Ein zentraler Grund: Raúl Castro ist mit seiner Agenda der kontrollierten | |
| Modernisierung des socialismo tropical an etlichen Punkten stecken | |
| geblieben. Castro mag die Insel stärker verändert haben, als viele es 2006 | |
| für möglich gehalten hätten. Doch in den Kernpunkten ist sein Projekt | |
| gescheitert. | |
| 2011 wurden auf dem VI. Parteikongress der PCC die Leitlinien der | |
| Reformagenda „Lineamientos“ verabschiedet. Sie sollten Kubas ökonomische | |
| Strukturen modernisieren und die Insel fit für die Zukunft machen. Doch der | |
| engste Führungskreis um die ergrauten Comandantes de la Revolución, Ramiro | |
| Valdés und José Machado Ventura, bremste Castros Reformagenda aus. | |
| ## Gedrosselte Reformen | |
| Fakt ist, dass bis heute kaum mehr als 60 Prozent der rund 300 Leitlinien | |
| umgesetzt wurden. Einige davon wurden erst mit gehöriger Verspätung | |
| realisiert – etwa die ursprünglich für 2015 vorgesehene, aber erst zum 1. | |
| Januar 2021 eingeführte Währungsreform. Die stellt die Inselökonomie | |
| derzeit vor eine Zerreißprobe. Die Währungsreform ist zwar nötig. Aber sie | |
| kommt zu spät und müsste mit Finanzreserven zwecks verstärkter Importe | |
| abgestützt werden. Weil die fehlen, gibt es massive Versorgungsprobleme. | |
| Dem in großer Menge zirkulierenden Peso nacional, der nunmehr einzigen | |
| Währung, stehen zu wenig Produkte gegenüber. Professionelles Schlangestehen | |
| für etwas Huhn, Speiseöl oder Seife ist zum neuen Beruf, dem colero, | |
| geworden. Die Bilder der Schlangestehenden sind das Symbol der gravierenden | |
| ökonomischen Krise, die sich seit 2017 immer deutlicher abzeichnete und mit | |
| der Pandemie voll durchbrach. | |
| Die Heftigkeit dieser Krise ist weitgehend selbst verschuldet. Denn über | |
| Jahre angekündigte Maßnahmen wie die Legalisierung der selbstständigen | |
| Tätigkeit für das Gros der Berufe, die Gründung von Genossenschaften mit | |
| direkter Im- und Exporterlaubnis, die Einführung von Großmärkten und die | |
| Strukturreformen im Agrarsektor sind immer wieder auf Eis gelegt worden. | |
| Diese Veränderungen hätten für mehr ökonomische Dynamik sorgen können, die | |
| vom weitgehend maroden Staatssektor nicht zu erwarten ist. Warum blieben | |
| sie aus? Kubanische Sozialwissenschaftler wie Ricardo Torres oder Pavel | |
| Vidal halten die Angst vor Kontrollverlusten aufseiten der Regierung für | |
| ausschlaggebend. Auch der Politikwissenschaftler Estebán Morales, der in | |
| der kommunistischen Partei als Mahner gilt, [4][seit er 2010 die um sich | |
| greifende Korruption vehement geißelte,] hält den schleppenden | |
| Reformprozess für das Schlüsselproblem. | |
| ## Die Angst des Apparates vor dem Kontrollverlust | |
| Die ausbleibenden Reformen haben mit dem maximal verschärften US-Embargo | |
| dafür gesorgt, dass die Insel schon vor der Pandemie immer tiefer in die | |
| Liquiditätskrise rutschte. Bereits Ende 2019 war die Regierung in Havanna | |
| nicht mehr in der Lage, die Schulden beim Pariser Club zu bedienen. | |
| Der zwischenzeitliche Zugang zum internationalen Finanzmarkt dürfte somit | |
| passé sein. Kubanische Lieferanten bekommen seit zwei, drei Jahren ihre | |
| Rechnungen nur in kleinen Tranchen bezahlt. Kuba lebt von der Hand in den | |
| Mund. | |
| Das ist ein bitteres Déjà-vu am Ende der Ära Raúl Castros. Bereits zu | |
| Beginn, 2008, musste die Regierung in Havanna jeden US-Dollar zweimal | |
| umdrehen. Das ist nun wieder so. Die Übergabe der Regierungsverantwortung | |
| an die jüngere Generation könnte kaum unter düstereren Vorzeichen erfolgen. | |
| Raúl Castro ist als Reformer gescheitert. | |
| 19 Apr 2021 | |
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| Knut Henkel | |
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