Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- LGBTQ-Community in der Ukraine: Eine Insel der Toleranz
> Für viele LGBTQ-Personen ist Kiew ein Zufluchtsort. Besonders wenn sie
> ihre Heimat wegen Diskriminierung und Gewalt verlassen mussten.
Bild: Ukrainische Aktivist*innen demonstrieren vorm Parlament in Kiew für LGBT…
Kiew/Charkiw taz | „Ich habe Glück“, sagt Schenja Tramwaj und lacht. Der
dünne, bärtige 24-jährige Mann mit der rosa Mütze mit einem kleinen
LGBT-Regenbogenanstecker sitzt auf einer Parkbank in Kiew. Er konnte dem
78.000 Einwohner großen Ort Bachmut, nur wenige Kilometer von der Front in
dem von Kiew kontrollierten Gebiet in der Ostukraine entfernt, nach Kiew
entfliehen. Und da fühlt er sich sicher.
„Bachmut ist eine Kleinstadt. Da spricht sich schnell herum, dass jemand
schwul ist“, erzählt Tramwaj. Schon beim Betreten eines Busses oder eines
Geschäftes besagten viele Blicke, dass man Bescheid weiß. Irgendwann aber
hat er gar nicht mehr versucht, sein Schwulsein zu verstecken, sondern ging
damit offensiv um. Tramwaj gründete die Gruppe „Donbass queer“, die
Gesprächsrunden organisierte. Im Frühjahr letzten Jahres verbrannte die
Gruppe öffentlichkeitswirksam eine Stoffpuppe mit dem Namen „Patriarchat“.
Tramwaj gab Interviews, beteiligte sich an feministischen Märschen und
Aktionen gegen häusliche Gewalt.
„Ausgerechnet meine besten Freunde haben mir nicht verziehen, dass ich mein
Schwulsein öffentlich gemacht habe.“ Nach dem Outing hätten die Bedrohungen
durch Unbekannte, aber auch durch ehemals beste Freunde zugenommen. Beim
Betreten eines Geschäftes habe er immer aus den Augenwinkeln geprüft, ob
ihm nicht wieder irgendwo jemand auflauerte. Mit der Coronakrise sei alles
schlimmer geworden. Durch sie seien die Menschen aggressiver geworden. Und
ihre Wut hätten sie an Angehörigen von Minderheiten ausgelassen. „Wir
konnten keine Treffen mehr organisieren, jeder war auf sich gestellt.“,
sagt Tramwaj.
Auch [1][in Kiew wurde 2020 die Gay Parade] wegen Coronamaßnahmen abgesagt.
„Mir hatte das immer Zuversicht gegeben zu wissen, dass im fernen Kiew
Tausende für die Rechte von LGBT auf die Straße gehen“ sagt Tramwaj.
Irgendwann hielt er die Beschimpfungen und die Gewalt nicht mehr aus und
zog nach Kiew.
## Verständnislose Eltern, Cybermobbing und Arbeitslosigkeit
[2][Kiew ist gerade für viele LGBTIQ] so etwas wie eine Insel der Toleranz,
selbst in Charkiw, der zweitgrößten Stadt der Ukraine, weht schon ein ganz
anderer Wind. Dort hatte, so erzählt es die Politologin Julia Bidenko der
taz, die Partei des Präsidenten Selenski, die „Diener des Volkes“, bei den
Wahlen im Oktober 2020 gerade mal sieben Prozent der Stimmen erhalten. „Die
beiden aussichtsreichsten Kandidaten für die Bürgermeisterwahlen im Oktober
sind derzeit Michajlo Dopkin und der kommissarische Bürgermeister Ihor
Terechow. Michajlo Dopkin ist dem prorussischen Lager zuzurechnen. Er hatte
2014 noch mit der russischen Fahne in der Hand demonstriert.“
Mit den Worten „Sie werden doch nicht Passanten auf dem Weg hierher nach
dem LGBT-Community-Zentrum gefragt haben?“, begrüßt Anna Scharyhina, Chefin
dieses Zentrums, ihre Besucher. Mehrfach, so Scharyhina, sei die
Beratungsstelle für Angehörige sexueller Minderheiten von Rechtsradikalen
überfallen worden. Die meisten Besucher kämen aus der Provinz und aus den
sogenannten Volksrepubliken. Und dort sei die Stimmung noch homophober als
in Charkiw.
Wer sich als trans Person um eine Wohnung bemüht, muss lange suchen, vor
allem außerhalb der Metropolen. Doch mit der Coronakrise seien viele
preisgünstige Wohnheime geschlossen worden. Wer seine Wohnung oder gar
seinen Job verliere, müsse wieder zurück in den Ort, aus dem er oder sie
nach Charkiw geflohen sei. Und dann komme alles wieder: verständnislose
Eltern, gewalttätige Jugendliche, Cybermobbing, Arbeitslosigkeit und
gehässige Blicke.
Aber auch wer es schafft, in der Großstadt zu bleiben, kann in
Schwierigkeiten geraten. Gegenüber dem Radiosender „hromadske“ berichtet
der trans Mann Olexander, er habe wegen mangelnder Aufträge in der Pandemie
seine Wohnung aufgeben müssen und sei in ein preisgünstiges Wohnheim
umgezogen. Doch dort wurde das Leben für ihn zu einem Albtraum. Immer
wieder habe man ihm in der Gemeinschaftsdusche aufgelauert, ihm sogar mit
Vergewaltigung gedroht.
## Der Einfluss der Kirche
Erschwerend kommt hinzu, dass die Apotheken in der Coronazeit
Lieferschwierigkeiten für ihre Hormonpräparate haben. In der Folge mussten
einige von ihnen die Hormontherapie abbrechen.
Im Gegensatz zu ihren KollegInnen in Charkiw fühlen sich Anna Leonowa und
Olena Hanich von der Gay Alliance in ihrem Büro in der Kiewer Innenstadt
relativ sicher. Die Gay Alliance Ukraine ist eine der wichtigsten NGOs für
LGBTIQ in der Ukraine. Sie betreibt im ganzen Land die Queer Homes,
Kulturzentren für die Community. Auch sie bestätigen: die größten Probleme
haben Angehörige sexueller Minderheiten vor allem in kleineren Städten. Und
genau in diese müssen viele zurück, die aufgrund der Coronakrise ihre
Arbeit verloren haben und sich deswegen eine Kiewer Wohnung nicht mehr
leisten können.
Im 350.000 Einwohner großen Winniza, so berichten die beiden, seien drei
Männern von ihrem Vermieter gekündigt worden, weil dieser in dem festen
Glauben war, Homosexuelle würden Corona schneller verbreiten als
Heterosexuelle. In dieses Bild fügt sich auch die Äußerung des 92-jährigen
Bischofs Filaret Denyssenko im vergangenen Jahr ein, der in
gleichgeschlechtlichen Ehen eine Ursache des Aufkommens des Coronavirus
sah. Zwar ist Homosexualität in der Ukraine seit 1991 legal, doch
eingetragene Partnerschaften und gleichgeschlechtliche Ehen gibt es nicht.
Derartige Äußerungen eines langjährigen Patriarchen und derzeit
Ehrenpatriarchen der Orthodoxen Kirche der Ukraine haben Auswirkungen auf
die öffentliche Meinung, erklärt Anna Lytvynova, Juristin der NGO
„Insight“, die sich um die trans Personen und Lesben kümmert. „Dass wir …
Gegenden mit einem besonders großen Einfluss der Kirche nicht an die
Öffentlichkeit gehen können, liegt auch an Äußerungen wie diesen“, so
Lytwynowa.
Gerade unter Covid hätte, so Olena Hanich, die rechtsradikale Gruppierung
„Tradition und Ordnung“ Zulauf unter Jugendlichen bekommen. [3][Die Gruppe
kämpft gegen Feminismus und sexuelle Minderheiten.] Jedes Jahr organisiert
die Gruppe Gegenveranstaltungen zu Frauendemonstrationen und LGBT-Märschen.
Auch wenn die Homofeindlichkeit in der Ukraine insbesondere in der Provinz
hoch ist, [4][ist der Staat immerhin bereit, LGBTIQ-Veranstaltungen durch
die Polizei zu schützen]. Davon kann die russische LGBT-Community nur
träumen. Nicht nur in Tschetschenien, wo Homosexuelle um ihr Leben
fürchten, ist die Stimmung in Russland feindlicher gegenüber sexuellen
Minderheiten als in der Ukraine. In Russland nutzt man das Thema, um gegen
den Nachbarn Stimmung zu machen. „Ukrainische Armee plant Entsendung von
Gay-Bataillonen in den Donbass“, titelte der sensationslüsterne Moskowskij
Komsomoletz im März. Anlass für diese Überschrift waren Einträge auf einer
Facebook-Plattform von ukrainischen LGBT-Militärs, die sich über einen
LGBT-freundlichen Zug eines Bataillons ausgetauscht hatten.
Und so zieht es viele Homosexuelle und trans Personen aus Russland in die
Ukraine. Doch nicht alle sind deswegen in Sicherheit, sagt Schewtchenko von
„Insight“ der taz. Derzeit betreue man eine Person, die aus Russland
geflohen und mit einer Ukrainerin verheiratet sei. Doch diese Person wolle
ihr Geschlecht angleichen lassen. „Da es in der Ukraine keine
gleichgeschlechtlichen Ehen gibt, wird diese Ehe automatisch mit der
Eintragung der Änderung des Geschlechts geschieden werden. Und damit wird
die Aufenthaltsberechtigung für die russische Staatsbürgerin erlöschen.“
Müsste sie die Ukraine verlassen, könnte es gefährlich für sie werden.
Schenja Tramwaj ist froh, dass er auch in der Pandemie mit Kiew einen Ort
für sich gefunden hat, an dem er gut leben kann. „Eigentlich gibt es
schönere Orte zum Leben als Kiew, doch noch mal so etwas zu erleben wie in
Bachmut, das könnte ich nicht ertragen.“
19 Apr 2021
## LINKS
[1] /Minderheiten-in-der-Ukraine/!5312234
[2] /LGBTI-Rechte-in-Europa/!5593047
[3] /Rechtsradikale-in-der-Ukraine/!5753853
[4] /Polnischer-Aktivist-ueber-LGBTI-Szene/!5701043
## AUTOREN
Bernhard Clasen
## TAGS
Schwerpunkt LGBTQIA
Homophobie
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Russland
GNS
Ukraine
Transgender
Ukraine
Ukraine
Russland
## ARTIKEL ZUM THEMA
Rechtsradikale in der Ukraine: Klare Kampfansage
Nach dem Überfall auf eine Bar in Kiew protestieren Jugendliche gegen
rechte Gewalt. Der Angriff ist nur einer von vielen.
Transfeindlichkeit in Russland: Doppelt gefangen
Der 38-jährige Nazar Gulewitsch ist trans. Eine Haftstrafe in einem
russischen Gefängnis wird für ihn lebensbedrohlich.
Politologin über Putins Ukrainepolitik: „Putins Politik? Nötigung!“
Da die Ukraine vom Westen übersehen wird, hat der russische Präsident mehr
Platz für Manöver, sagt die Politologin Lilija Schewzowa.
Konflikt in der Ostukraine: Virtuell hat der Krieg begonnen
Russland und die Ukraine liefern sich medial einen Schlagabtausch. In
Moskau denken einige schon über den Einsatz von Atomwaffen nach.
Menschenrechtlerin Tschikunowa gestorben: Kämpferin für das Leben
Die Russin Tamara Tschikunowa hat sich viele Jahre lang gegen die
Todesstrafe eingesetzt – auch wegen ihres Sohnes. Der war hingerichtet
worden.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.