# taz.de -- Indien in der zweiten Coronawelle: Der Impfstoff wird knapp | |
> Indien gilt als weltweit größter Produzent von Vakzinen und beliefert das | |
> UN-Programm Covax. Doch nun gibt es Versorgungsengpässe im eigenen Land. | |
Bild: Wartende vor einem geschlossenen Impfzentrum in Mumbai | |
MUMBAI taz | Am Eingangstor hängt ein buntes Poster. Es zeigt bebilderte | |
Vorsichtsmaßnahmen, die vor einer Ansteckung mit dem Coronavirus schützen | |
sollen. In dem dahinter liegenden unscheinbaren Gebäude in einer | |
Seitenstraße befindet sich das temporäre Corona-Impfzentrum Mahim. Doch an | |
diesem Freitag bleibt es geschlossen. Der Zugang zum Vorzelt ist mit einem | |
Pappaufsteller verbarrikadiert, davor wartende Menschen. | |
Am Vortag ist der Mutter-Kind-Klink im westindischen Mumbai der Nachschub | |
an Corona-Impfstoff ausgegangen, so wie auch 60 weiteren medizinischen | |
Einrichtungen der Stadt. Dabei war die Immunisierung in der vergangenen | |
Woche gut angelaufen. Indien hatte das Impfalter auf 45 Jahre gesenkt, | |
lange Schlagen hatten sich vor den Impfzentren gebildet, so wie in Mahim. | |
In der westindischen 20-Millionen-Stadt waren die Infektionszahlen mit über | |
9.000 Fällen am Tag massiv angestiegen, weshalb der Ministerpräsident des | |
Bundesstaates die Zentralregierung gebeten hatte, das Impfhalter weiter zu | |
senken. Auch neue Ausgangsbeschränkungen wurden eingeführt. Doch Ende der | |
Woche blieben wider Erwarten Impfstofflieferungen aus. Neben Maharashtra | |
meldeten auch andere indische Bundesstaaten Engpässe, was vielerorts für | |
Unruhe gesorgt hat. | |
## Die zweite Welle ist da | |
Die Immunisierung in Indien, die als weltweit größte angekündigt worden | |
war, hatte Mitte Januar begonnen. Vorrang hatten zunächst Beschäftigte im | |
Gesundheitswesen und besonders Gefährdete. Doch der Ansturm ließ zunächst | |
auf sich warten: Laut Plan sollen bis Ende Juli 300 Millionen Menschen | |
geimpft werden, doch momenatn sind erst 95 Millionen Dosen verimpft wurden. | |
Inzwischen befindet sich Indien in der zweite Coronawelle mit täglich über | |
100.000 Neuinfektionen. | |
„Viele in meinem Viertel haben sich nicht impfen lassen. Sie dachten, dass | |
das Virus verschwunden ist. Aber jetzt steigt die Zahl der Fälle“, sagt die | |
Haushälterin Saiamma. Ihre Haare trägt sie zum einem dicken schwarzen Dutt | |
gebunden. Ihr Mann Naresh, ein Gemüsehändler, bekam die erste Spritze mit | |
Covishield – so der Handelsname des lokal produzierten Impfstoffs von | |
AstraZeneca – bevor sie selbst ins Zentrum in Mahim ging. Saiamma zögerte | |
zunächst, da sie viele Gerüchte über Nebenwirkungen gehört hatte. Doch | |
nachdem immer mehr Leute in ihrem Bekanntenkreis geimpft worden waren, | |
entschloss auch sie sich: „Es ist besser, wenn die Leute sich impfen | |
lassen“, sagt die 52-Jährige. Sie hofft, dass es auf diesem Weg nicht zu | |
einem zweiten Lockdown in Mumbai kommt. Doch angesichts steigender | |
Infektionszahlen sehen sich die Behörden in Zugzwang. Die Mumbaier sind | |
davon nicht begeistert, viele Wanderarbeiter haben die Metropole bereits | |
Ende des Monats verlassen, nachdem die Regierung gewarnt hatte, sie würde | |
zu härteren Maßnahmen greifen. | |
Auch in anderen Regionen Indiens kommt es zu Teillockdowns, zugleich werden | |
andernorts überfüllte Wahlveranstaltungen abgehalten, und anlässlich des | |
religiösen Festes Kumbh Mela wird im Ganges gebadet. Das stößt auf | |
Unverständnis, auch angesichts der drohenden wirtschaftlichen Folgen. | |
Bereits der erste Lockdown hatte Indien im Vorjahr hart getroffen. Doch | |
immerhin scheint der zweite in Mumbai besser geregelt zu sein: | |
Haushälterinnen dürfen weiterhin ihrer Arbeit nachgehen, Zeitungen verteilt | |
werden – so heißt es in den veröffentlichen Richtlinien. Saiammas Mann darf | |
sogar von acht bis acht Gemüse verkaufen – auch wenn das Geschäft mit der | |
Laufkundschaft eingebrochen ist. | |
Meena Gupta, eine 47-jährige Hausverwalterin, hatte weniger Glück als das | |
Gemüsehändlerpaar. Als sie zu ihrem Termin kam, wurde sie wieder nach Hause | |
geschickt. „Ich war glücklich, dass ich geimpft werden sollte, doch dann | |
sagten sie, dass die Impfdosen aufgebraucht sind.“ Ihre Hoffnung sei | |
zerplatzt. Es war ein enttäuschender Moment für sie. „Ich habe so viele | |
Nachrichten darüber gehört und gelesen, dass Indien anderen Ländern | |
Impfstoffe zur Verfügung stellt, und ich war wirklich stolz“, doch seitdem | |
zu Engpässen in Indien kommt, weiß sie nicht, ob das ein kluger Schritt der | |
Regierung war. | |
Laut Gesundheitsministerium sei es allerdings „völlig unbegründet“, von | |
einer Impfstoffknappheit zu sprechen. Lokalregierungen vermuten hinter der | |
knappen Belieferung politisches Kalkül der Zentralregierung, Details werden | |
derzeit noch aufgearbeitet. Fest steht, dass manche weniger bevölkerten | |
Bundesstaaten fast so viele Vorräte zugeteilt bekamen wie das westindische | |
Maharashtra, in dem mehr Menschen leben als in Deutschland, Österreich, der | |
Schweiz und den Niederlanden zusammen. | |
## Der Druck im Land steigt | |
Erst kürzlich wurde neben den bereits bekannten Mutanten eine neue | |
Doppelmutationsvariante in Indien entdeckt. Ob sie die Zahl der | |
Infektionen, die in Mumbai und der umliegenden Region besonders hoch ist, | |
in die Höhe treibt, ist derzeit noch offen. Der Druck im Land steigt – | |
besagte Meldungen über geschlossene Impfzentren kamen, knapp zwei Wochen | |
nachdem bekannt wurde, dass Indien den Export von lokal produzierten | |
Impfstoffen den eigenen Bedürfnissen anpasse. | |
Zu diesem Zeitpunkt stand die zweite Welle schon vor der Tür, und Indien | |
hatte mehr Impfstoff exportiert, als Dosen im Land verimpft wurden. „Wir | |
bleiben verpflichtet, der Welt mit Impfstoffen zu helfen“, hieß es dazu | |
vonseiten des indischen Außenministeriums. Bislang wurden 65 Millionen | |
Dosen Impfstoffe „Made in India“ in über 75 Länder geliefert, 18 Millionen | |
davon im Rahmen der UN-Initiative Covax, die sich das Ziel gesetzt, auch | |
ärmere Länder mit Corona-Impfstoff zu versorgen. Ein Exportverbot habe man | |
nicht erlassen, Vakzine aus Indien erreichten zuletzt Länder wie | |
Bangladesch, den pazifischen Inselstaat Nauru oder den vom Krieg | |
gebeutelten Jemen. Seit April verließ allerdings keine Covax-Lieferung | |
mehr Indien. | |
Die Reduzierung der Ausfuhr ist auch eine Reaktion auf globale | |
Exportverbote und die erneute Unterbrechung der Lieferketten. So warnte der | |
Geschäftsführer des Serum Institute of India (SII), Adar Poonawalla, vor | |
einer Rohstoffknappheit, die sich auf die Produktion auswirke. Poonawalla | |
führt diese Knappheit auf Einschränkungen seitens der USA und Europas | |
zurück, die die Herstellung von Impfstoffen beeinträchtigen und die gesamte | |
Produktion in Mitleidenschaft zögen – von der Ausstattung bis zu den | |
chemischen Produkten. Aus China wolle man aus Qualitätsgründen kein | |
Rohmaterial importieren. Die Produktion des AstraZeneca-Impfstoffs | |
Covishield könne daher erst im Juni von 60 bis 65 Millionen Dosen pro Monat | |
auf über 100 Millionen gesteigert werden, so Poonawalla. | |
Auch wenn Indien nicht das einzige Lieferland ist, bei dem es zu | |
Verzögerungen kommt, steht Poonawalla unter Druck. Er habe von AstraZeneca | |
einen juristischen [1][Bescheid] aufgrund der Lieferverzögerungen erhalten. | |
Sein Unternehmen hat mit Covax einen Vertrag über den Kauf von insgesamt | |
1,1 Milliarden Impfdosen von AstraZeneca und dem noch nicht zugelassenen | |
US-Präparat Novavax abgeschlossen, die beide in Westindien in großem Stil | |
herstellt werden. | |
Während nun Indien gerade dabei ist, sein eigenes Coronaproblem zu lösen, | |
diskutiert die Weltöffentlichkeit über die globale Impfstoffverteilung. Die | |
Nachricht aus Neu-Delhi, die Ausfuhr für einige Monate zu begrenzen sorgte | |
für Kritik von afrikanische Staaten, die eine Benachteiligung fürchten. | |
Indien verteidigte seine Ausfuhrpolitik damit, dass „kein anderes Land die | |
Welt bisher mit so vielen Dosen beliefert hat wie Indien“. | |
Derweil betonte der deutsche Außenminister Heiko Maas (SPD) in einer | |
[2][Stellungnahme]: „Der Zugang zu Impfstoffen, Medikamenten und Tests darf | |
nicht zum Spielball der Geopolitik werden, sondern muss allen Ländern | |
offenstehen.“ Deshalb setze Deutschland auf den multilateralen Ansatz von | |
Covax. Maas hatte sich geäußert, nachdem die Karibikinsel St. Lucia am | |
Mittwoch als 100. Land über den UN-Impfzusammenschluss versorgt worden war. | |
Deutschland ist einer der größeren Geldgeber von Covax, doch bisher wurden | |
erst etwa 39 Millionen Impfstoffdosen von AstraZeneca, Pfizer/Biontech und | |
dem Serum Institute of India (SII) ausgeliefert. Im Gegensatz dazu wurden | |
in den USA über 175 Millionen Dosen verimpft, an 27 Prozent der Bevölkerung | |
(in Deutschland sind es 10, in Indien 3,4 Prozent). Das erklärte Ziel von | |
Covax ist es allerdings, bis Ende des Jahres 2 Milliarden Dosen Impfstoff | |
auf der ganzen Welt zu verteilen. | |
## Hoffnung auf Nachschub | |
Während jedoch die Vereinigten Staaten und Großbritannien faktisch kaum | |
Impfstoff exportieren, importierte das Vereinigte Königreich 5 Millionen | |
Dosen aus Indien. Und nicht nur Organisationen wie die NGO „Save the | |
Children“ kritisieren, dass sich die reichsten Länder der Welt 70 Prozent | |
der Impfstoffproduktion für das Jahr 2021 bereits im Vorfeld gesichert | |
hätten. | |
Im indischen Mumbai hofft derweil nicht nur die Hausverwalterin Meena Gupta | |
darauf, dass es bald Vakzinenachschub in ausreichenden Mengen gibt für das | |
Impfzentrum in ihrer Nachbarschaft. Jüngst hatte es vor einigen der | |
vielerorts geschlossenen Türen Unruhen gegeben. | |
10 Apr 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://www.ndtv.com/india-news/astrazeneca-legal-notice-to-serum-institute… | |
[2] https://twitter.com/AuswaertigesAmt/status/1380149503605497857/photo/1 | |
## AUTOREN | |
Natalie Mayroth | |
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