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# taz.de -- der rote faden: Plopp – und der Kanal ist frei
> Wie schön wäre es, wenn's mit dem Impfen so gut voranginge wie mit dem
> Entkorken des Suezkanals. Da heißt es immer noch: abwarten.
Bild: Jetzt fährt sie wieder – die Ever Given, die tagelang den Suezkanal bl…
Diese Woche hätte es eigentlich flutschen müssen. Fing doch alles mit einem
geploppten Sektkorken an. Die „Ever Given“, das 400 Meter lange
Frachtschiff, das rund eine Woche lang den Weg für mindestens 369 wartende
Schiffe im Suezkanal versperrt und damit für Verzögerungen im Welthandel
gesorgt hatte, war [1][endlich freigebaggert]. Hätte es da nicht auch an
anderen Stellen mal ein bisschen vorangehen können? Beim Impfen etwa.
Damit meine ich nicht, dass man weiter fröhlich alle mit [2][AstraZeneca]
impfen soll, sondern dass es schön wäre, wenn von den anderen Stoffen jetzt
schnell ein paar Dosen mehr verfügbar wären. Oder wenn die Zahl der
Neuinfektionen mal sinken würde. Dass Letzteres nicht passiert, wundert
mich gar nicht. Selbst in dem braven kleinen bayerischen Ort, wo meine
Eltern leben, wird man, wie meine Mutter mir erzählt hat, angeraunzt, wenn
man es wagt, schon draußen vor dem Metzger seine Maske zu tragen.
Na ja, in Renitenz waren die Bayern ja meiner Erfahrung nach den Berlinern
nie hinterher, eher voraus. Wobei es wahrscheinlich auch hier auf die
ideologisch richtige Form der Renitenz ankommt, nur dagegen sein reicht
natürlich nicht. Renitenz bescheinigt Peter Kümmel in der Zeit übrigens
auch dem Kapitän der „Ever Given“. Der soll, wie Satellitenbilder jetzt
gezeigt haben, beim Warten auf die Einfahrt [3][in den Suezkanal mit seinem
Schiff einen Penis samt Hoden ins Meer gezeichnet haben].
Erst protzen, dann peinlich auflaufen – Peter Kümmel deutet den ganzen
Suezschmus somit schön als Krise des Patriarchats. Das Peniskritzeln als
letztes Aufbäumen gegen die voranschäumende Emanzipation. Das kann man
selbstverständlich weiterspinnen. Ganze Präsidentschaften lese ich als
Versuch, ideologische Penisse in den Zement der Macht zu ritzen. Nur leider
baggert niemand sie ab, so peinlich ihr Klammern mit den Jahren auch wird.
## Peniskritzeln gegen Emanzipation
Obwohl Selbstüberschätzung und Allmachtsfantasien wohl keine exklusiv
männlichen Fallstricke der Psyche sind; Frauen hatten historisch gesehen
bisher viel weniger Chancen, solche zu entwickeln. Da hilft auch korrektes
Gendern noch nicht, aber es wird. Wir Frauen werden aufholen, da bin ich
sicher. Von Ärtzinnen und Ärzten mit Allmachtsfantasien las ich diese Woche
übrigens ebenfalls in der Zeit.
Sie müssen verzeihen, jetzt, in dieser kurzen Phase der Elternzeit, in der
man noch nicht Eltern ist, habe ich endlich mal Zeit zu lesen. Und mich
aufzuregen. Wie über den Text mit dem Titel „Wie viel soll man machen?“,
der mich kurz an die Debatte „Oder soll man es lassen?“ erinnerte. Auch
hier geht’s um humanes Handeln – und um einen Aufruf von
Intensivmedizinern, die sagen, sie machen zu viel. „Das ist schädlich,
teuer, unmenschlich“, heißt es da.
Für unmenschliches Leid habe ich weder im Artikel noch im dazugehörigen
Interview konkrete Beispiele gefunden. Vielleicht diesen einen Satz, der
sich auf invasive Maßnahmen wie Beatmung bezieht: „Die Betroffenen erleben
Isolation, Todesangst, Luftnot“, sagt Uwe Janssens da, er ist Sprecher der
Ethiksektion der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und
Notfallmedizin (DIVI).
## Was sagt, was lebenswert ist?
Klar hat er Ahnung und ich nicht, das will ich gar nicht infrage stellen.
Ich sitze bequem im Büro, er hat geschätzt Tausende Intensivpatienten
gesehen. Trotzdem frage ich mich: Soll man nix mehr für den Patienten
machen, nur weil er Todesangst hat? Wer hat die nicht, wenn er beatmet
werden muss – und heißt Todesangst denn zugleich, dass man nicht mehr leben
will? Was bin ich bereit auszuhalten, wenn es ums nackte Überleben geht?
Wenn ich zurückblicke auf die knapp 40 Jahre, die ich alt bin, habe ich
meine Meinung zu sehr viel geringeren Fragen als dieser schon oft
revidiert. Eigentlich immer zugunsten des Aushaltens. Ich würde mir ehrlich
gesagt selbst nicht trauen – am Ende wäre ich sicher bereit, den Preis für
mein Leben ganz schön zu dumpen. Auch Janssens sagt im Interview, dass
keine Patientenverfügung Gespräche mit Angehörigen oder, im besten Fall,
dem Patienten selbst ersetze.
Andere mögen da konsequenter sein, aber ich kann mir vorstellen, dass ich
heute etwas als nicht lebenswert für mich empfinde, was mir irgendwann als
rettend erscheint. Wer weiß? Jedenfalls war mir dieser – sicher aus besten
Absichten und Fachkenntnis entstandene – Aufruf der Mediziner unheimlich,
nachdem ich im vergangenen Jahr erlebt habe, was viele über alte Menschen
denken. Noch immer scheinen es für viele „nur“ diese zu sein, die an
Covid-19 sterben.
Als wäre es ab einem gewissen Punkt wurscht, ob man ein bisschen früher
oder später stirbt. Als würde man mit Haaren, Zähnen und Jahren auch seine
Würde verlieren. Zum Glück hat sich diese Haltung nicht in der
Coronapolitik gespiegelt. Sonst würden wir als Gesellschaft wirklich tief
im zivilisatorischen Sand versacken.
3 Apr 2021
## LINKS
[1] /Die-Ever-Given-schwimmt-wieder/!5761786
[2] /Impfstoff-von-AstraZeneca/!5758727
[3] https://www.spiegel.de/wirtschaft/vor-havarie-im-suezkanal-kapitaen-der-eve…
## AUTOREN
Ariane Lemme
## TAGS
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