| # taz.de -- Coronapandemie in Deutschland: Zahlen steigen, Politik wartet | |
| > Die Corona-Neuinfektionen wachsen gerade exponentiell. Der Höchststand | |
| > von Weihnachten dürfte bald übertroffen werden. Die Politik will erst | |
| > abwarten. | |
| Bild: Wie hier in Pulsnitz in Sachsen, liegen wieder mehr Menschen mit Corona a… | |
| Berlin taz | In der Politik ist gerade Abwarten angesagt: Kanzlerin Angela | |
| Merkel wartet, ob die Ministerpräsident*innen sich irgendwann doch | |
| noch bequemen, [1][die gemeinsam getroffenen Beschlüsse umzusetzen.] Viele | |
| dieser Ministerpräsident*innen warten, ob die Zahl der | |
| Neuinfektionen nicht trotz offener Schulen und Geschäfte von alleine wieder | |
| fällt, wenn irgendwann ausreichend Schnelltests zur Verfügung stehen. Und | |
| viele Menschen warten noch ab, ob die Lage wirklich so bedrohlich wird, | |
| dass sie ihre Kontakte auch ohne staatliche Vorgaben wieder stärker | |
| einschränken. | |
| Doch unterdessen wachsen die Infektionszahlen mit unvermindertem Tempo | |
| weiter. Seit dem zwischenzeitigen Tiefststand Mitte Februar hat sich die | |
| Zahl der täglich gemeldeten Fälle wieder mehr als verdoppelt. Der | |
| wöchentliche Mittelwert liegt aktuell bei rund 16.700 pro Tag; in den | |
| letzten beiden Wochen stieg dieser Wert pro Woche um 25 bis 30 Prozent. | |
| Die zunächst von manchen gehegte Hoffnung, dass dieser Anstieg vor allem | |
| daran liegt, dass deutlich mehr Schnelltests gemacht würden, seit diese | |
| kostenlos angeboten werden, hat sich nicht bestätigt. Eine bundesweite | |
| Auswertung zur Zahl der Schnelltests gibt es zwar entgegen der Ankündigung | |
| des Robert Koch-Instituts noch immer nicht. Doch Zahlen aus einzelnen | |
| Bundesländern zeigen, dass zusätzliche Schnelltests nur einen kleinen Teil | |
| des Anstiegs der Neuinfektionen erklären können; in Baden-Württemberg und | |
| Rheinland-Pfalz etwa sind es weniger als 10 Prozent. | |
| Der Großteil des beobachteten Wachstums liegt also nicht daran, dass bei | |
| gleichbleibender Zahl von Neuinfektionen mehr entdeckt würden, sondern | |
| daran, dass es tatsächlich mehr Infektionen gibt. Das ist inzwischen auch | |
| in den Kliniken zu sehen: Die Zahl der Coronapatient*innen, die auf | |
| Intensivstationen behandelt werden müssen, steigt seit zweieinhalb Wochen | |
| wieder deutlich an. | |
| Mit aktuell knapp 3.600 Coronapatient*innen belegen diese zwar nur | |
| 18 Prozent der zur Verfügung stehenden Intensivbetten, doch das kann sich | |
| schnell ändern. Denn auch die Zahl der Corona-Intensivpatient*innen wächst | |
| derzeit exponentiell, wenn auch mit einem wöchentlichen Anstieg von 13 | |
| Prozent nur etwa halb so schnell wie die Zahl der Neuinfektionen. | |
| Weiterhin rückläufig ist dagegen die Zahl der Menschen, die im Zusammenhang | |
| mit einer Corona-Infektion sterben. Der Rückgang hat sich zwar stark | |
| verlangsamt; nachdem der 7-Tage-Mittelwert in der vergangenen Woche bereits | |
| stagniert hatte, liegt er aktuell mit rund 160 Toten pro Tag aber wieder um | |
| 13 Prozent niedriger als vor einer Woche. Zum Vergleich: Beim Höhepunkt der | |
| ersten Welle im vergangenen April starben im Schnitt 230 Menschen pro Tag, | |
| der Höchstwert der zweiten Welle lag Mitte Januar bei knapp 900. | |
| Grund für diese unterschiedliche Entwicklung ist die veränderte | |
| Altersstruktur der Infizierten. In der ersten und zweiten Welle waren es | |
| die ältesten Jahrgänge, die am stärksten betroffen waren. Und in dieser | |
| Gruppe gibt es besonders viele schwere Verläufe. Doch Menschen über 80 sind | |
| mittlerweile zu einem großen Teil geimpft, sodass dort die Infektionen und | |
| Erkrankungen stark zurückgegangen sind. | |
| Stattdessen ist die höchste Inzidenz jetzt in den Altersgruppen von 15 bis | |
| 50 zu sehen, die viele Kontakte haben, aber bisher kaum geimpft sind. Bei | |
| ihnen treten prozentual weniger schwere Verläufe auf – und damit auch | |
| Intensiv- und Todesfälle. Doch das heißt nicht, dass die Erkrankung harmlos | |
| verläuft: Expert*innen gehen davon aus, dass bis zu 10 Prozent der | |
| Erkrankten in dieser Altersgruppe langfristige Gesundheitsschäden | |
| davontragen. | |
| Doch warum steigt die Zahl der Neuinfektionen so stark, obwohl sich | |
| Deutschland offiziell noch immer in einem Lockdown befindet? Der wichtigste | |
| Grund ist, dass es sich quasi um eine neue Pandemie handelt. Die zuerst in | |
| Großbritannien aufgetretene Virusmutation B.1.1.7 ist inzwischen für über | |
| 80 Prozent der Fälle verantwortlich. Weil sie mindestens 30 Prozent stärker | |
| ansteckend ist, wäre auch bei gleichbleibenden Bedingungen aus dem Rückgang | |
| zu Jahresbeginn im Laufe des Frühjahrs wieder ein Anstieg geworden. | |
| Doch statt auf diese absehbare Entwicklung mit schärferen Maßnahmen zu | |
| reagieren, wurden diese sogar gelockert, vor allem durch mehr Präsenz in | |
| Schulen und Kitas und die Öffnung von Geschäften. [2][Noch entscheidender | |
| sind nach Ansicht des Physikers Dirk Brockmann] aber die Veränderungen im | |
| Privatbereich, die damit einhergehen. Brockmann leitet eine Arbeitsgruppe | |
| beim Robert Koch-Institut, die den Verlauf von Epidemien modelliert. „Wenn | |
| die Regeln gelockert werden, verändern die Menschen auch in anderen | |
| Bereichen ihr Verhalten“, sagt der Professor der Berliner | |
| Humboldt-Universität der taz. „Vor einem Jahr waren die Spielplätze und die | |
| Autobahnen leer, jetzt sieht es überall aus wie immer.“ | |
| Dass die Infektions- und Intensivzahlen in den nächsten Wochen weiter | |
| steigen, ist absehbar. Bei der aktuellen Wachstumsrate würde der bisherige | |
| Höchstwert bei den Neuinfektionen in zwei Wochen übertroffen, auf den | |
| Intensivstationen in etwa vier Wochen. Doch wie hoch die Zahlen tatsächlich | |
| steigen, ist schwer vorherzusehen, meint Modellierer Brockmann. | |
| „Langzeitprognosen sind schwierig, weil die Gesellschaft ja auf die | |
| Entwicklung antwortet.“ Zum einen sei ein Eingreifen der Politik spätestens | |
| dann unvermeidlich, wenn die Intensivstationen wieder überlastet sind. Zum | |
| anderen schränkten Menschen ihre Kontakte auch von allein wieder ein, wenn | |
| sie die Situation wieder als bedrohlich empfinden. | |
| Doch bis es so weit ist, wollen Politik und Gesellschaft offenbar erst noch | |
| abwarten, bis die Probleme so groß sind, dass sie wirklich von niemandem | |
| mehr zu übersehen sind. | |
| 30 Mar 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Malte Kreutzfeldt | |
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