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# taz.de -- Über das Älterwerden: Einfach mal was Neues wagen
> Party, Reisen, Arbeit – warum nicht so weitermachen wie bisher im Leben?
> Über das melancholische Hängen am vermeintlich Bewährten.
Bild: Limbo: Tanz, in der Schwebe sein, Vorhölle
Irgendwie sind wir alle ein bisschen eingerostet in der Hüfte, oder?
Vielleicht bin es auch nur ich. Aber mit glückseligen Schauern erinnere ich
mich zuletzt immer öfter an die Zeit, als Hula-Hoop und Limbo tanzen meine
Hobbys waren. Eine archaische Zeit, als man noch Hobbys hatte, komisches
Wort, klingt heute genau so verstaubt, wie ein alter Hubba Bubba schmeckt.
Heute steht man bestenfalls bei der Arbeit am – im Homeoffice notdürftig
selbst zusammengeklotzten – Stehpult und schiebt die Hüfte ab und zu von
einer Seite zur anderen, um die Knie zu entlasten. Totale Stagnation.
Oder auch Vorhölle, ebenfalls Limbo genannt, was seltsam ist, denn wer
kommt auf die Idee, einen sexy Tanz mit irgendeiner Form von Hölle in
Verbindung zu bringen? Vielleicht die katholische Kirche, die das eine mit
dem anderen bestrafen will, aber wen interessiert noch, was dieser Verein
von Kinderschändern zu sagen hat?
In der Schwebe sein – eine andere Übersetzung für Limbo – trifft es dann
vielleicht eher. Aus den geschmeidigen Frühzwanzigern sind ich und mein
Umfeld hineingerostet in einen Schwebezustand, fast so, als hätten wir am
tiefsten Punkt unter der Limbostange einen Hexenschuss bekommen. Rien ne
vas plus, nichts geht mehr.
So fühlt es sich wenigstens an, einerseits natürlich wegen Corona. Liebste
Freunde im Ausland besuchen? Nö. Die mühsam ergatterten Nick-Cave-Tickets?
Storniert. Die Pandemie hat uns in diesem Schwebezustand immerhin alle
gleich gemacht, mehr oder weniger, und irgendwann ist es vorbei, das ist
klar. Aber in meiner – weiblichen – Freundeskohorte herrscht noch ein
anderer Schwebezustand: Wir sind alle um die 40, und Stand jetzt hat kaum
eine von uns ein Kind.
Die Zeit rast voran und steht doch still. Entweder, weil dazugehörige
Partner sich nicht bereit fühlen (übrigens ganz unabhängig von ihrem Alter)
und weil einem das Modell Alleinerziehend dann doch ein bisschen gewagt
vorkommt. Oder, oder, oder. Gründe gibt es viele, medizinische, politische,
private. Solche, die man selbst beeinflussen kann, und solche, die das
Leben einem aufzwingt.
## Männer mit Lupe
Angst, das Leben zu verpassen, die haben nicht nur Männer. Die geraten nur
bei ihrer Lebensplanung nicht in den Vorhöllen-Tanz, den ich die
vergangenen Jahre geschwoft bin. Ihnen stellt sich nie die Frage: Mach ich
nicht vielleicht doch noch ein Jahr weiter mit dem eigentlich sehr schönen
Leben, das ich habe, oder ändere ich wirklich jetzt schon alles?
Klar, auch Männer mit Kind können nicht mehr einfach jedes Wochenende
durchtanzen oder alleine durch Alaska wandern. Aber sie können noch Kinder
zeugen, wenn sie die Fotos aus Alaska nur noch mit der Lupe angucken
können. Wobei ich und meine Freundinnen uns natürlich die Frage stellen
könnten, warum wir dann doch so melancholisch an etwas hängen, was wir
quasi seit 20 Jahren tun – viel Party, viel Arbeit, viel Reisen, Repeat –
statt sich einfach in was Neues zu stürzen.
Spaß machen wollten auch die 53 Schauspieler, die mit ihren
[1][#allesdichtmachen-Videos] „ironisch“ die Coronapolitik sowie die in
ihren Augen panikverbreitende Berichterstattung darüber kritisierten. Haha
– die Lacher waren nicht auf ihrer Seite. Im Gegenteil, die halbe Republik
war – zu Recht – genervt.
## Liefers ganz meschugge
Alles wurde dazu schon gesagt, etwas hat mich dann aber doch überrascht:
Jan Josef Liefers, einer der führenden Köpfe hinter der Aktion und nach
eigenen Aussagen durch die ständige Coronaberichterstattung schon ganz
meschugge geworden, hat sich [2][nicht nur zum Streit darüber mit Jens
Spahn getroffen], sondern sich auch bereiterklärt, an der von der Essener
Oberärztin Carola Holzner initiierten Gegenaktion teilzunehmen und mal eine
Schicht im Krankenhaus mitzumachen. Das finde ich wieder cool.
Viele werden jetzt sagen: Pah, bloße Wiederanbiederung ans Publikum! Mag
sein. Trotzdem ist es besser, man setzt sich aus Opportunismus mit der
anderen Seite auseinander, als aus lauter reinem Bewusstsein immer schön in
der eigenen Blase zu bleiben. Da ist mir ein Liefers lieber, der zwar im
Gespräch mit Spahn noch immer glaubt, dass bestimmte Wissenschaftler nicht
gehört werden – aber wenigstens bereit ist, sich die Realität in den
Notaufnahmen und auf den Intensivstationen mal anzuschauen.
Ab und zu was Neues denken ist immer gut. Schade, dass die französische
Justiz das nicht gewagt hat. Sie hat eine strafrechtliche Verantwortung
Kobili Traorés an dem brutalen Mord an seiner jüdischen Nachbarin Sarah
Halimi ausgeschlossen. Grund: durch Marihuanakonsum unzurechnungsfähig.
Klar: Dass einer durchs Kiffen zum wüsten Gewalttäter wird, ist allemal
wahrscheinlicher, als dass er Antisemit ist. Ein System, das so urteilt,
ist natürlich selbst strukturell antisemitisch, aber bevor das mal
überdacht wird, werden wir noch eine ganze Weile in der Vorhölle der
Leugnung tanzen.
30 Apr 2021
## LINKS
[1] /Aktion-allesdichtmachen/!5762747
[2] https://www.zeit.de/2021/18/jan-josef-liefers-jens-spahn-allesdichtmachen-c…
## AUTOREN
Ariane Lemme
## TAGS
Kolumne Der rote Faden
Kinder
Altern
Schauspieler
Schwerpunkt Coronavirus
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