| # taz.de -- Über das Interesse am Seelenheil anderer: Probleme des Missioniere… | |
| > Ist der Ruf des Missionierens zurecht auf den Hund gekommen? Der Ethikrat | |
| > widmet sich der Frage im Rahmen eines Click&Collect-Treffens. | |
| Bild: Von wegen gute Tat – das Missionieren hat einen schlechten Ruf | |
| Die Zeiten sind zäh, so zäh, dass selbst Briefe aus Behörden mit „Bleiben | |
| Sie optimistisch“ enden. Das zeigt eine neue, zugängliche Seite an ihnen, | |
| aber leider liegt es außerhalb ihrer Macht, Optimismus oder geringere | |
| Corona-Fallzahlen oder eine konsequentere Politik mitzuschicken, sodass die | |
| Sache weiterhin mühselig bleibt. Es sind Zeiten, in denen ich den Ethikrat | |
| vermisse, dessen strengem Blick auch so etwas wie eine Pandemie nichts | |
| anhaben kann. | |
| Der Ethikrat, das sind drei ältere Herren, die mir [1][gelegentlich | |
| Handreichungen in Sachen praktischer Ethik] geben. Ich schrieb dem Rat | |
| einen Brief an seine Postfach-Adresse und fragte, ob es möglich wäre, dass | |
| ich im Rahmen eines Click&Collect-Besuchs einen philosophischen Hinweis | |
| erhielte. | |
| Es war spät und ich hatte Rotwein getrunken und vielleicht geriet der Brief | |
| zu rührselig, jedenfalls dauerte es lange, bis ich eine Antwort erhielt. | |
| „Sehr geehrte Frau Gräff“, stand darin, „bitte finden Sie sich am kommen… | |
| Donnerstag um 15 Uhr in der Martinistraße 24a ein. Um einen reibungslosen | |
| Ablauf zu gewährleisten, bringen Sie bitte eine vorbereitete Frage mit. Mit | |
| freundlichen Grüßen, Ihr Ethikrat“. | |
| Als ich am Donnerstag vor dem Haus in der Martinistraße stand, schneite es. | |
| Im Schneegestöber sah ich, wie sich im ersten Stock ein Fenster öffnete und | |
| sich der Vorsitzende des Ethikrats hinauslehnte. „Ich bin hier“, schrie ich | |
| hinauf. „Schön, dass Sie sich eingefunden haben trotz der Umstände“, sagte | |
| der Vorsitzende, während zu seinen Seiten die beiden Ratsmitglieder | |
| auftauchten, die in der Regel schweigen. Sie winkten mir zu und ich winkte | |
| zurück. | |
| „Haben Sie eine Frage vorbereitet?“, rief der Vorsitzende. „Natürlich“, | |
| rief ich und schwenkte einen Zettel wie eine übereifrige Schülerin. | |
| Kürzlich hatte mich der Brief einer Zeugin Jehovas erreicht, die mich in | |
| Vor-Corona-Zeiten gelegentlich besuchte. „Passt es?“, fragte sie dann, und | |
| es passte nie, weil die Kinder gerade schrieen oder ich an den Schreibtisch | |
| musste. | |
| ## „Vielleicht sollten wir über Hiob sprechen“ | |
| „Was interessiert Sie an der Bibel?“, hatte sie mich beim ersten Mal | |
| gefragt, eine kleine, schmale Person, vielleicht gerade mal Anfang 20. Ich | |
| hatte geantwortet, dass ich die Frage, warum Gott Leid zuließe | |
| gleichermaßen interessant und schwierig fände. „Vielleicht sollten wir über | |
| Hiob sprechen“, hatte sie gesagt und damit recht gehabt, aber in der Tiefe | |
| meines Herzens wollte ich nicht über Hiob sprechen. „Meine Frage ist: Warum | |
| ist der Ruf des Missionierens so schlecht“, rief ich in Richtung Fenster, | |
| „also des Missionierens, bei dem die Menschen nicht zwangsbekehrt werden?“ | |
| Mir ist bewusst, dass das Missionieren eine mehr als schwierige | |
| Vergangenheit hat, ebenso, dass die Zeugen Jehovas in der Kritik stehen, | |
| weil sie ihre Mitglieder unter Druck setzen. Und doch: „Ist es nicht | |
| ehrenwert, wenn es einem nicht egal ist, ob die anderen von etwas erfahren, | |
| was man selbst für lebenswichtig hält?“, rief ich zum Fenster hoch, um noch | |
| etwas argumentativen Unterbau nachzuliefern. „Es wäre doch viel bequemer, | |
| nur dem eigenen Seelenheil hinterherzulaufen.“ | |
| Hinter der Scheibe bewegten sich Schemen und ich hoffte, dass meine Frage | |
| ausnahmsweise dem Ethikrat so etwas wie eine interne Diskussion wert war. | |
| „Wenn man es weiter denkt, missioniert jede doofe Modemarke mit ihrer | |
| Werbung“, rief ich ermutigt: „Euer Leben wird besser, wenn ihr dieses | |
| T-Shirt tragt“ – daran nimmt niemand Anstoß, obwohl es die Werbeleute | |
| nicht mal selbst glauben. Und wenn sie es glaubten, wäre es nur anders | |
| schlimm“. | |
| Das Fenster öffnete sich und der Ratsvorsitzende reckte seinen Kopf heraus. | |
| „Wir haben eine schriftliche Antwort für Sie vorbereitet“, sagte er und | |
| ließ eine Papierrolle an einem Bindfaden herab. Als ich sie öffnete, war | |
| sie vom Schnee durchnässt und es waren nur noch ein paar Worte lesbar: „… | |
| wer sich aber der praktischen Philosophie zuwendet …“ „Was heißt das?“, | |
| rief ich, aber da hatte sich das Fenster bereits wieder geschlossen. | |
| 10 Apr 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Friederike Gräff | |
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