| # taz.de -- Über die Dankbarkeit: Eine Art Antigone-Fall | |
| > Gelten für alle die gleichen moralischen Erwartungen? Der Ethikrat und | |
| > seine Gasthörer haben da eine eindeutige Antwort. | |
| Bild: Der Ethikrat hüpfte ungelenk ein Himmel und Hölle-Spiel | |
| Kürzlich saß ich auf einer Bank und trank Kaffee, als der Ethikrat sich auf | |
| der Nachbarbank niederließ. Der Ethikrat, das sind drei ältere Herren von | |
| geringer Größe, die mir [1][gelegentlich Handreichungen in Sachen | |
| praktischer Ethik] geben. Der Ratsvorsitzende zog ein Tablet aus seiner | |
| Tasche und baute es neben sich auf. „Ist es Ihnen recht, wenn wir zwei | |
| Gasthörer zuschalten“, sagte er, aber es war offenkundig keine Frage. | |
| Auf dem Bildschirm erschien eine apfelbäckige alte Frau mit weißem Dutt und | |
| im Fenster neben ihr ein rundlicher Jungmann in einem karierten Hemd. Die | |
| apfelbäckige Frau winkte mit einer Stricknadel, der Jungmann nickte | |
| verlegen. „Frau Gräff schildert uns in der Regel eine Begebenheit, zu deren | |
| Einordnung sie unsere Sicht einholen möchte“, sagte der Ratsvorsitzende. | |
| „Genau, unterbrach ich ihn, denn ich hatte gerade eben wieder die Grenzen | |
| meiner eigenen Einordnungsmöglichkeiten erfahren. | |
| Ich hatte versucht, Geld beim Bankautomaten abzuheben, aber der Dispo war | |
| erschöpft und ich bekam kein Geld. Als ich mich umdrehte, stand eine | |
| kleine, untersetzte Frau mit langen grau-blonden Zöpfen und einer | |
| Eulenbrille neben mir und frage mich, ob ich Geld für sie hätte. „Ich | |
| bekomme keines von der Bank mehr und muss mit dem, was ich noch dabei habe, | |
| etwas bezahlen“, sagte ich. „Aber wenn etwas übrig bleibt, komme ich | |
| zurück.“ | |
| Ich ging und bezahlte im Laden um die Ecke einen Strauß für eine frisch | |
| gebackene Mutter; es blieben vier Euro übrig. Ich ging zur Bettlerin | |
| zurück, die noch beim Bankautomaten stand und gab ihr zwei Euro, womit sie | |
| unzufrieden schien. Ich wies sie darauf hin, dass es immerhin die Hälfte | |
| dessen sei, was ich hätte. | |
| „Versuch doch noch einmal, Geld abzuheben“, sagte die Frau und drückte mir | |
| meine EC-Karte, die ich im Automaten vergessen haben musste, in die Hand. | |
| „Vielleicht ist sie eine Fee, nur anders anzusehen als üblich“, dachte ich, | |
| „vielleicht bekomme ich plötzlich Geld“ und steckte die EC-Karte in den | |
| Automaten. „Zu viele PIN-Eingaben“ erschien auf dem Bildschirm des | |
| Automaten und er spuckte die Karte aus. „Jemand hat es zu oft versucht“, | |
| sagte ich mit kritischem Unterton zu der Frau, die wohl doch keine Fee war. | |
| Sie schien unbeeindruckt und ich ging meiner Wege. | |
| ## Der Lohn dafür, die eigenen Unzulänglichkeiten zu zeigen | |
| „Ich sehe, dass sie nichts hat“, sagte ich in Richtung Ethikrat. „Und ich | |
| sehe, dass ich im Vergleich deutlich mehr habe. Und trotzdem finde ich, | |
| dass sie nicht honoriert hat, dass ich im Rahmen meiner Möglichkeiten | |
| geteilt habe.“ Während ich es sagte, kam es mir unsinnig vor: Wieso sollte | |
| sie auch? Der Ethikrat und die Gasthörer schwiegen. Danke, dachte ich, das | |
| ist der Lohn dafür, die eigenen Unzulänglichkeiten öffentlich zu machen. | |
| Der Ratsvorsitzende begann mit einem Stock ein Bild in die Erde zu malen, | |
| es sah aus wie ein Huhn, das einen Wurm fraß. „Ich fragte mich, ob ich ihr | |
| überhaupt etwas vorwerfen kann“, sagte ich. „Und dann fragte ich mich, ob | |
| nicht auch Arroganz darin liegt, nichts von ihr zu erwarten.“ „Was meinen | |
| Sie?“, wandte sich der Ratsvorsitzende an die Gasthörer. Die apfelbäckige | |
| Frau sah von einem unförmigen Strickzeug auf. „Frau Gräff erinnert mich da | |
| an Kreon“, sagte sie. „Die Sympathien liegen eher bei Antigone.“ | |
| Der Jungmann meldete sich: „Mir scheint, dass Frau Gräff sehr stark | |
| absoluten Kategorien verhaftet ist“, sagte er. Und fügte freundlicherweise | |
| hinzu: „Ich kann mir da natürlich kein allgemeines Urteil erlauben.“ | |
| Der Ethikrat schont mich selten und die Gasthörer schienen ihm da gute | |
| Schüler zu sein. Ich war also Kreon, der König, der das Gesetz über alles | |
| stellt, auch über das Leben seiner Nichte, die doch nur den toten Bruder | |
| bestatten will, der gegen Kreon aufbegehrt hat. | |
| „Wer sagt uns Kreons, wann sie ein Antigone-Szenario antreffen und wann | |
| nicht?“, fragte ich in Richtung Strickzeug. Aber da verflackerte das | |
| Zoom-Treffen und der Ethikrat begann ein ungelenkes „Himmel und | |
| Hölle“-Hüpfspiel, zu dem er mich nicht einlud. | |
| 14 Mar 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Friederike Gräff | |
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