| # taz.de -- Ethikrat-Mitglied über Impfprivilegien: „Das Gemeinschaftsgefüh… | |
| > Sigrid Graumann vom Ethikrat ist gegen Privilegien für Geimpfte allein. | |
| > Sie fände es aber vertretbar, Geimpfte mit negativ Getesteten | |
| > gleichzustellen. | |
| Bild: Pilotprojekt an der Berliner Philharmonie: Im März besuchten 1.000 negat… | |
| taz: Frau Graumann, was halten Sie eigentlich von dem Wort Impfprivilegien? | |
| Sigrid Graumann: Nicht viel. [1][Es geht hier ja nicht um Privilegien, | |
| sondern darum, welche Rechte Bürgerinnen und Bürger in Anspruch nehmen | |
| können – und welche nicht]. Darüber sollten wir sachlich reden. Und das | |
| Wort Privilegien ist gleich mit einer Wertung verbunden, die ich | |
| problematisch finde. | |
| Wie würden Sie es denn nennen, wenn Geimpfte etwas dürfen, was andere nicht | |
| dürfen? | |
| Ich würde von „besonderen Regelungen für Geimpfte“ sprechen, das ist etwas | |
| neutraler. | |
| Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) befürwortet Freiheiten für | |
| Geimpfte, weil der Grund für die Einschränkung von Grundrechten entfällt, | |
| wenn kein Risiko von den Geimpften mehr ausgeht. [2][Lambrecht sagt, das | |
| ist ein logischer Schritt]. Ähnlich sieht es Gesundheitsminister Jens Spahn | |
| (CDU). Finden Sie das auch so logisch? | |
| Ehrlich gesagt, nein. Das wäre frühestens in Ordnung, wenn alle die Chance | |
| hatten, sich impfen zu lassen oder alternativ mithilfe von Tests Freiheiten | |
| zurückzubekommen. Bei besonderen Regelungen für Geimpfte müssten wir mit | |
| Folgeproblemen rechnen, die die Schutzstrategien gegen die Pandemie | |
| unterminieren. | |
| Was meinen Sie damit? | |
| Wir müssen aufpassen, dass die Solidaritätszumutung, die wir den | |
| Bürgerinnen und Bürgern auferlegen, nicht überstrapaziert wird. Wenn bei 11 | |
| Prozent Geimpften darüber diskutiert wird, dass diejenigen, die geimpft | |
| sind, Dinge tun dürfen, die andere nicht tun dürfen, und gleichzeitig nicht | |
| allen ein Impfangebot gemacht werden kann, wird das zu Recht als ungerecht | |
| empfunden. | |
| JuristInnen würden argumentieren, es ist ungerecht, Grundrechte grundlos | |
| einschränken. | |
| Das ist an sich richtig. Wir sollten aber den Gesamtplan zur | |
| Pandemiebekämpfung im Blick behalten. Diese Individualisierung, die dem | |
| juristischen Denken entspringt und die normalerweise richtig ist, hilft uns | |
| an der Stelle nicht weiter, weil wir zusammen als Gesellschaft dafür sorgen | |
| müssen, dass die Infektionsschutzregeln eingehalten werden. Man kann nicht | |
| nur an einem Zipfel ziehen – dann gibt es eine Aufhebung der | |
| Kontaktbeschränkungen oder der Maskenpflicht für die Geimpften – und die | |
| Konsequenzen außer Acht lassen. Ich würde sagen: Es ist angemessen, | |
| Grundrechte einzuschränken, wenn der Gesundheitsschutz der Bevölkerung | |
| nicht anders garantiert werden kann; aber dann eben für alle und natürlich | |
| auch nur, wenn die Folgeschäden nicht überwiegen. | |
| Sie befürchten gesellschaftlichen Unfrieden? | |
| Genau. Ich befürchte, dass die Solidaritätsbereitschaft nachlässt, wenn die | |
| Bürgerinnen und Bürger das Gefühl haben, ungerecht behandelt zu werden. Die | |
| Coronaschutzstrategie sollte erfolgreich zu Ende geführt werden. Wenn das | |
| gefährdet ist, ist das sehr wohl ein Argument dafür, nicht einseitige | |
| individuelle Freiheitseinschränkungen aufzuheben, die für andere noch | |
| gelten. | |
| Könnten wir uns nicht einfach für andere freuen, dass sie ihre Grundrechte | |
| wieder haben, und uns noch etwas gedulden? | |
| Stellen Sie sich doch vor, dass die Generation 60 plus, die bald | |
| durchgeimpft ist, wieder in Opernhäuser gehen kann oder in klassische | |
| Konzerte, aber junge Menschen dürfen noch ein halbes Jahr lang nicht in | |
| Rockkonzerte, weil sie noch keinen Impftermin haben. Das würde wohl kaum | |
| auf Akzeptanz bei den Jungen stoßen. Die Solidaritätsbereitschaft, die | |
| gerade auch junge Menschen in beeindruckender Weise zeigen, sollte nicht | |
| aufs Spiel gesetzt werden. | |
| Lambrecht spricht sich dafür aus, Geimpfte mit Menschen gleichzustellen, | |
| die negativ auf das Virus getestet wurden. Damit könnten beispielsweise | |
| Kulturangebote an alle gemacht werden, nur müssten sich die Geimpften eben | |
| nicht mehr testen lassen. Wäre das okay? | |
| Das wäre eine sinnvolle und gute Möglichkeit. Wenn ein negativer | |
| Schnelltest den Zugang zu einer Veranstaltung oder Dienstleistung bietet, | |
| können Geimpfte davon ausgenommen werden. Das wäre die richtige | |
| Reihenfolge! Diese Form von Ungleichbehandlung könnten die Bürgerinnen und | |
| Bürger sicherlich akzeptieren – solange genügend Schnelltests angeboten | |
| werden. Ich spreche mich lediglich gegen besondere Regelungen für Geimpfte | |
| aus, die nicht ausgeglichen werden können durch alternative Regelungen für | |
| Nichtgeimpfte. Dafür würde die gesellschaftliche Akzeptanz fehlen. | |
| Also keine Ausnahmen bei Kontaktbeschränkungen oder Maskenpflicht? | |
| Stellen Sie sich eine U-Bahn vor. Die eine Hälfte sitzt dort mit, die | |
| andere ohne Maske. Meinen Sie, dass dann alle Nichtgeimpften ihre Maske | |
| aufbehalten würden? Und die Vorstellung, dass das Sicherheitspersonal | |
| Impfpässe kontrollieren soll, ist doch absurd. Mal abgesehen davon, dass | |
| das vermutlich gar nicht zulässig wäre. Allgemeine Einschränkungen wie | |
| Maske tragen oder Abstand halten müssen wir im Sinne der Bereitschaft der | |
| Regelbefolgung eine Weile lang aufrechterhalten. Das ist sicher zumutbar. | |
| Aber für mich gibt es eine Ausnahme, [3][die der Ethikrat auch in der | |
| Ad-hoc-Empfehlung benannt hat]. In Pflegeheimen oder in Behindertenheimen | |
| sollten Isolationsmaßnahmen für Geimpfte so rasch wie möglich aufgehoben | |
| werden. Wenn ein Großteil der Menschen in den Heimen geimpft ist, dann | |
| sollten dort auch wieder Gemeinschaftsaktivitäten und Besuche ohne | |
| Einschränkungen möglich sein. | |
| Warum sollte es da möglich sein und in anderen Bereichen nicht? | |
| Diese Personengruppe war besonders großen Belastungen im Verlauf der | |
| Pandemie ausgesetzt. Wir hatten in der Vergangenheit Situationen, in denen | |
| Menschen in Heimen quasi isoliert waren. Solche Freiheitsbeschränkungen | |
| gehen weit über die Einschränkungen hinaus, die für andere gelten. Also | |
| dass man beispielsweise für eine bestimmte Zeit nicht ins Restaurant oder | |
| ins Kino gehen kann. | |
| Was ich nicht genau verstehe: Es gibt doch auch die Vertragsfreiheit. Wenn | |
| eine private Fluggesellschaft etwa beschließt, nur geimpfte Menschen zu | |
| befördern, dann kann sie das sowieso machen, oder? | |
| Auch bei der Vertragsfreiheit gibt es aber gewisse Grenzen. Man müsste | |
| prüfen, ob eine Vorlage eines Impfausweises rechtlich in Ordnung wäre – es | |
| geht ja um Gesundheitsdaten. Und es müsste überlegt werden, ob wir von | |
| staatlicher Seite proaktiv die Voraussetzungen dafür schaffen wollen, um | |
| das möglich zu machen. Ich gehe davon aus, dass es auch bei den Privaten | |
| heißt, Coronaschnelltest oder Impfung – unter der Voraussetzung, dass | |
| beides angemessene Sicherheit bietet. Auch die Impfung bietet ja keinen | |
| hundertprozentigen Schutz vor Infektionen. | |
| Es gibt ja einen Teil der Bevölkerung, der an der Gefährlichkeit des Virus | |
| zweifelt. Von Anfang an wurde auf den „Querdenker“-Demos eine | |
| „Zwangsimpfung“ als Horrorszenario beschrieben. Wenn wir jetzt über | |
| Sonderrechte von Geimpften sprechen, ist das nicht ein indirekter Zwang? | |
| Es wird jedenfalls genauso diskutiert, und viele Menschen sind | |
| verunsichert. Sogar in Pflegeheimen und Kliniken gibt es einen gewissen | |
| Teil des medizinischen Personals, der sich nicht impfen lassen will, obwohl | |
| er könnte. Auf diese Verunsicherung sollte nicht mit Zwang, sondern mit | |
| einer guten öffentlichen Informationskampagne reagiert werden. Es braucht | |
| ja eine Durchimpfungsrate von 80 bis 85 Prozent, wenn wir auf Dauer mit dem | |
| Virus leben müssen. Das werden wir nur erreichen, wenn wir das | |
| Gemeinschaftsgefühl stärken und nicht die einen gegen die anderen | |
| ausspielen. | |
| Finden Sie, es sollte zumindest eine Impfpflicht für Pflegekräfte geben? | |
| Aus guten Gründen wurde bislang auf eine Impfpflicht verzichtet. Wir sind | |
| gut beraten, auch weiterhin auf Freiwilligkeit zu setzen. Die Menschen | |
| müssen überzeugt werden, dass wir aus dieser Pandemie nur rauskommen, wenn | |
| wir uns alle impfen lassen. Eine direkte oder auch indirekte Impfpflicht | |
| würde Gegenreaktionen hervorrufen, und auch das könnte die Gesamtstrategie | |
| gefährden. | |
| Was passiert denn mit Menschen, die sich partout nicht impfen lassen | |
| wollen? | |
| Wenn wir auch so die notwendige Durchimpfungsrate erreichen, dann wird das | |
| wohl akzeptiert werden müssen. | |
| Aber es kommt auf die Zahl an, oder? Wenn 50 Prozent der Bevölkerung sich | |
| nicht impfen lassen wollen, dann hätten wir ein Problem. | |
| Ja, aber dagegen sollte präventiv vorgegangen werden. Wir brauchen eine | |
| vertrauenswürdige Gesamtstrategie, die klar kommuniziert wird, mit | |
| Impfangeboten für alle, kombiniert mit einer guten Teststrategie, und das | |
| alles flankiert durch eine gute öffentliche Aufklärung. Diesbezüglich ist | |
| noch deutlich Luft nach oben. | |
| 9 Apr 2021 | |
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| [3] https://www.ethikrat.org/mitteilungen/2021/besondere-regeln-fuer-geimpfte/ | |
| ## AUTOREN | |
| Jasmin Kalarickal | |
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