| # taz.de -- Aus Potsdam in den Bundestag: Ihr Ziel sind 50.000 Stimmen | |
| > Die Parteilose Lu Yen Roloff will das Potsdamer Direktmandat erobern. Für | |
| > sie macht es Sinn, jetzt Wahlkampf zu machen. | |
| Bild: Die Klimaaktivistin Lu Yen Roloff will in den Bundestag | |
| Potsdam taz | Lu Yen Roloff stößt schwungvoll die Tür auf. Ihr rötlicher | |
| Pony leuchtet in der Märzsonne, als sie aus dem Potsdamer Rechenzentrum | |
| tritt. Sie hat es eilig: Gleich hat sie ein Treffen mit Unterstützer*innen, | |
| Mitte April muss die Onlineplattform stehen, in sechs Monaten ist | |
| Bundestagswahl, und sowieso bleibt nicht mehr viel Zeit, die | |
| Klimakatastrophe aufzuhalten. | |
| Für Potsdam, Kleinmachnow, Michendorf, Nuthetal, Schwielowsee, Stahnsdorf, | |
| Teltow, Werder. und Ludwigsfelde will Roloff ins Parlament – als parteilose | |
| Kandidatin. Ihre Konkurrent*innen um das Direktmandat: | |
| [1][SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz] und [2][Grünen-Chefin Annalena | |
| Baerbock]. Hat eine Unabhängige gegen solche Parteiprominenz überhaupt eine | |
| Chance? Das ist für Roloff die falsche Frage. Sie kandidiert, weil sie | |
| muss. Weil die Zeit läuft. | |
| „Laut [3][Pariser Abkommen] haben wir weniger als sieben Jahre, wenn wir | |
| das 1,5-Grad-Limit nur knapp überschreiten wollen“, erklärt die 43-Jährige | |
| auf dem Weg durch Potsdams Innenstadt. Ihr Schritt ist so flott und | |
| energisch wie ihre Sätze. „Aus Angst, dass sie an Macht verlieren, spricht | |
| keine der Parteien diese unbequeme Wahrheit aus.“ | |
| „Sagt die Wahrheit!“, das war schon als Extinction-Rebellion-Sprecherin | |
| Roloffs Botschaft. Mit [4][Extinction Rebellion] besetzte sie Brücken, | |
| blockierte sie Straßen, störte sie den Alltag anderer Menschen: ziviler | |
| Ungehorsam, um auf den drohenden Klimakollaps aufmerksam zu machen. Wie | |
| Fridays for Future, nur weniger anständig. | |
| ## Jünger als der Durchschnitt | |
| Dann kam Corona – und machte vorerst Schluss mit Massenprotesten. Doch die | |
| Klimakrise drängt weiterhin, auch wenn sie gerade von der Gesundheitskrise | |
| überlagert wird. Die gelernte Journalistin Roloff entscheidet sich für den | |
| Weg eines Wahlkampfs, um die Klimafrage 2021 wieder präsenter zu machen. | |
| Auch zu Corona hat sie eine Meinung: „Die Regierung agiert eher als | |
| Feuerlöscher“, sagt die gebürtige Bielefelderin und hält auf dem Platz der | |
| Einheit kurz inne. „Dabei hätte die Krise auch zu einer echten Klimachance | |
| werden können.“ Roloff kennt sich aus, sie studierte 2003 in Hongkong, als | |
| dort Sars-Cov-1 ausbrach. 2007 veröffentlichte sie eine Studie darüber, wie | |
| die lokale Regierung mit der Sarskrise umging. | |
| Jetzt, beim Wahlkampf, wird Roloff von Brand New Bundestag unterstützt. | |
| Nach einem US-amerikanischem Vorbild fördert der Verein progressiven | |
| politischen Nachwuchs und will das Parlament diverser machen. Roloff würde | |
| den Frauenanteil heben und ist jünger als der Durchschnitt der | |
| Abgeordneten. Mit der Kategorie „Migrationshintergrund“ aber kann sie | |
| nichts anfangen, obwohl ihre Mutter in China geboren ist. „Lu Yen, so | |
| heißen Deutsche heute eben“, sagt sie. Sie will vor allem die Klimabewegung | |
| ins Parlament bringen. | |
| ## 25.000 Studierende erreichen | |
| Aber was heißt das? Würde sie der Bewegung auch die Reichstagstüren öffnen? | |
| Würde sie ihrer Wahrheit zuliebe parlamentarische Regeln verletzen? Roloff | |
| antwortet nur indirekt. „Die eigentliche Frage ist doch: Was hat dieses | |
| Gebäude mit der Lebenswelt von Menschen zu tun?“ Demokratie sei mehr, als | |
| nur alle vier Jahre zur Wahl zu gehen. Man müsse Leute zu politischer | |
| Teilhabe befähigen, sie in ihrer Lebenswelt aufsuchen. | |
| Doch spielen Roloffs Themen überhaupt eine Rolle in der Lebenswelt von | |
| Menschen in der Mittelmark? Die Kandidatin ist überzeugt davon. Wer sehe, | |
| wie der [5][Seddiner See] dramatisch schrumpfe, weil sich das Grundwasser | |
| zurückziehe, könne Umweltfragen nicht länger ignorieren. | |
| Auf den Stufen des Barberini-Museums am Havelufer trifft Roloff jetzt fünf | |
| junge Unterstützer*innen. Es ist das erste physische Treffen, im Freien, | |
| mit Abstand. Die Atmosphäre ist freundschaftlich, aber konzentriert. | |
| „Lassen sich FFP-Masken mit dem Kampagnenhashtag bedrucken?“, wird | |
| überlegt. #EinfachMachen ist Roloffs Slogan. Auch wie sich die 25.000 | |
| Studierenden Potsdams erreichen lassen, ist bei der Besprechung Thema. | |
| ## Die Zeit scheint gerade günstig | |
| 50.000 Stimmen müsste Roloff für das Direktmandat auf sich vereinen. Kann | |
| ihr das gelingen? Seit 1949 sind keine Parteilosen mehr in den Bundestag | |
| gewählt worden. Und seit der Wiedervereinigung ging das Direktmandat im | |
| Wahlkreis 61 fast immer an die SPD. | |
| „Die Grünen werden auch hier immer wichtiger“, sagt Isabel Glitschka nach | |
| dem Teamtreffen. Die 29-Jährige gebürtige Potsdamerin hat über ihren Bruder | |
| von der Kandidatur erfahren und unterstützt nun seit zwei Monaten | |
| ehrenamtlich Roloffs Wahlkampf. Nicht nur die Studierenden, sondern auch | |
| junge Familien und die Zugezogenen in der Region würden vieles infrage | |
| stellen, erzählt sie. Wer mit der Erststimme Roloff wähle, könne die Grünen | |
| noch immer mit der Zweitstimme näher an die Regierung bringen. „Für viele | |
| wirkt das vielleicht naiv“, sagt Glitschka. „Ich finde Lu Yens Engagement | |
| aber gut. Sie hat Humor, sie nimmt die Politik selbst ernst und nicht ihre | |
| Karriere.“ | |
| Die Zeit scheint angesichts [6][der jüngsten Korruptionsfälle] günstig für | |
| eine Anti-Establishment-Kandidatur. „Wir sehen jetzt, was alles falsch | |
| läuft in der Politik“, rief Roloff beim kleinen Potsdamer Klimastreik am | |
| 19. März ins Mikrofon. „Wie Politiker*innen ihre Ämter missbrauchen, | |
| um sich persönlich zu bereichern.“ Manche im Wahlkreis 61 werden sich | |
| vielleicht daran erinnern, dass Potsdams bislang einzige CDU-Abgeordnete | |
| Katherina Reiche ihr Mandat 2015 abgab, um in die Lobbyarbeit zu gehen. | |
| ## Das Mandat ist nicht alles | |
| Trotzdem weiß Roloff, dass ihre Chancen gering sind, tatsächlich in den | |
| Bundestag einzuziehen. Das Mandat ist für sie aber nicht alles. Mitte April | |
| soll eine Organizing-Plattform online gehen, für den Wahlkampf, langfristig | |
| aber für Potsdamer Projekte. | |
| Gemeinsam mit dem Ernährungsrat, einigen Kirchengemeinden, [7][Fridays for | |
| Future] und anderen Initiativen soll über die Plattform ein | |
| Bürger*innenfestival organisiert werden. „Neustart Potsdam“ soll es | |
| heißen und Ende Mai stattfinden. Und: Roloff will, dass Potsdam Teil der | |
| Initiative Cities for Change wird. Es gibt also viel zu tun, und die Zeit | |
| ist knapp. Roloff lacht auf und sagt noch: „Gut, dass ich gerade Single | |
| bin.“ | |
| 28 Mar 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Stefan Hunglinger | |
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