Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Viel zu entdecken bei Pop in Indien: Bollywood ist Tollywood
> Indi, Hindi und Indie: Ein Streifzug durch die vielfältige und
> welthaltige indische Popkultur, ihre Eigenheiten, Stars und Talente.
Bild: Tarana Marwah alias Komorebi auf der Bühne des Magnetic Fields-Festivals…
Aus den Radios der Verkäufer:innen am Straßenrand summen immer die
Hits. Aber die Hits in den Radios entstehen im Kino wie etwa „Lootmar“ von
[1][Asha Bhosle], Melodie aus dem gleichnamigen Retro-Bollywoodstreifen.
Bhosle hat auch für viele weitere Filme gesungen. Will ein Film in Indien
erfolgreich sein, muss also der Soundtrack stimmen.
Eine Grundregel, die über die vergangenen Jahrzehnte immer wichtiger wurde,
gerade in Großstädten wie der 20-Millionen-Metropole Mumbai, die junge
Künstler:innen aus dem ganzen Land anzieht. Musik- und Filmindustrie
sind in Indien dicht an dicht. Somit verwundert es nicht, dass Popmusik in
Indien eng verbunden ist mit dem Hindi-Film um Bollywood, dem südindischen
Kino (alias Tollywood und Kollywood), aber stets auch gut vernetzt ist mit
dem Popgeschehen in Großbritannien – schon aufgrund der kolonialen
Vergangenheit.
Als einer der ersten Popsongs auf dem Subkontinent gilt der Urdu-Hit „Ko Ko
Koreena“ von Ahmed Rushdi (1966), der im Nachbarland Pakistan produziert
wurde und für heutige Ohren sehr traditionell klingt. Seitdem hat sich
allerdings vieles verändert: Die Musik, die das ehemalige „Britisch-Indien“
verband, hat den Sprung von traditionellen Klängen zum Pop gewagt, während
die musikalischen Beziehungen zwischen Indien und Pakistan auch aufgrund
der politischen Auseinandersetzungen der beiden Nachbarn verblasst sind.
## Auf der Suche nach Hits
Auf der Suche nach Hits heuerte die Filmszene in Mumbai junge Talente an.
Einst unabhängige Künstler:Innen wanderten dorthin ab. Unter ihnen war
[2][Alisha Chinai], Königin des neuen Genres Indipop, die zunächst mit
Madonna-Coverversionen begann. Indipop kam in den 1990er Jahren auf und
klang anders als die typischen Arrangements mit Tabla-Trommeln und
Harmonium: Die Songs waren kürzer und radiotauglicher. Es wurde auf Hindi
und Punjabi gesungen und zeitgenössische Sounds von Synthesizern und
Drumcomputern flossen in die Musik ein.
Auch der Weg von Mohit Chauhan, der mit der legendären Indi-Band [3][Silk
Route] bekannt wurde, führte Anfang der nuller Jahre als Playback-Sänger
ins wesentlich lukrativere Filmgeschäft. Dabei prägten Chauhans Songs,
ähnlich wie die Musik der Folkfusion Band Indian Ocean, ein neues
Bewusstsein.
Der Mumbaier Musiker Nikhil Rao, 36, erinnert sich gut daran, dass
seinerzeit viele Songs, die von indischen Bands gespielt wurden,
Coverversionen aus dem Westen waren. Auf einheimische Musik blickten die
hippen Großstädter herab. Es hat Zeit gebraucht, bis indische Künstler zu
sich selbst fanden und anfingen, ihre Songtexte in lokalen Sprachen zu
schreiben. „Das war ein Teil von Indiens langem Weg der
Entkolonialisierung“, erklärt Rao, der 2013 als Gitarrist bei Indian Ocean
einstieg.
## Lokale Sprachen
In lokalen Dialekten wurde zuvor nur Volks- und Filmmusik gesungen. Indian
Ocean war eine der ersten modernen Bands, die indischsprachiger Musik
eigenen Charakter verlieh und auch musikalisch mit Klassik, Jazz und Ideen
aus dem Sufismus experimentierten. Allmählich entwickelte sich auch eine
Rockszene in Indien. 1993 bekam sie mit dem ersten unabhängigen
Musikmagazin des Landes, dem Rock Street Journal (RSJ), ein Gesicht. Sein
Gründer Amit Saigal rief verschiedene Veranstaltungen ins Leben.
Es war die Zeit, in der alternative Musikfestivals in Mode kamen. Darunter
etwa die „India Music Week“ in der Hauptstadt Delhi, die zwischen 2011 und
2013 stattfand. Sie wurde zur Plattform für neue Acts aus ganz Südasien.
Bis zu seinem Tod im Jahr 2012 in Goa prägte Saigal die alternative
Musikszene auch als Promoter. In seiner Schaffenszeit wurde auch
Satellitenfernsehen in Indien populär, MTV etablierte sich als
Musikprogramm. Bereits 1996 eröffnete der TV-Sender als Joint Venture ein
Büro im westindischen Mumbai.
Auch dadurch wurde das Genre Indipop groß und promotete sich mit
Videoclips. „Damals überholte Folk sogar den Bollywood-Sound“, erklärt Ra…
Bereits in den 1990er Jahren gab es viele Künstlerinnen in den Reihen des
Indipop, trotzdem wird die indische Musikbranche von Männern dominiert,
genau wie auch die Filmmusik. Seit 1931 wurden lediglich drei
Musikregisseurinnen für die begehrten „Filmfare Awards“ nominiert. In den
letzten Jahren tauchen allerdings immer wieder spannende Künstlerinnen auf.
„Auch dank der digitalen Sphäre gibt es nun größere Möglichkeiten, mit dem
Publikum in Kontakt zu treten und die Akzeptanz von Künstlerinnen steigt“,
sagt Singer-Songwriterin Ditty (alias Aditi Veena), die seit ihrem 14.
Lebensjahr auf der Bühne zu Hause ist.
## Morgenrot der Indie-Szene
Ditty gehört zu einer neuen indischen Künstler:Innen-Generation, die ihre
Musik im Gegensatz zum Mainstream stark vereinfacht hat. „Es fühlt sich an
wie das Morgenrot in der Indie-Szene“, sagt Ditty. Im Lockdownjahr 2020
nutzte sie die Zwangspause für ein neues Projekt. „Ich habe ein
internationales Künstlerkollektiv namens Faraway Friends
zusammengetrommelt, mit dem wir drängende Fragen zur Gesellschaft, der
Klimakrise, der Ungleichheit und Gendergerechtigkeit durch Musik
thematisieren“, sagt sie.
Für ihre jüngste Kollaboration, das Album „Rain is Coming“, hat Ditty mit
dem Rapper Keno (Moop Mama) und dem Produzenten David Raddish
zusammengearbeitet, den sie auf einer Reise nach Indien kennengelernt hat.
Zusammen klingen sie nach Rap-Fusion mit indischer Volksmusik, die auch
durch Dittys zarte Stimme lebendig wirkt. Für Rao ist gerade der
grenzüberschreitende künstlerische Austausch das, was Musik spannend macht.
Durch neue Technologien gelingt das inzwischen leichter.
Wer in diese bunte Popwelt der zeitgenössischen Sounds in Südasien
eintauchen möchte, ist mit dem Blog „Wild City“ bestens bedient. Dort
werden aktuelle Debatten in der Szene angestoßen. Bei ihren Clubnächten und
dem Blog eigenen Boutique-Musikfestival Magnetic Fields bevorzugt „Wild
City“ elektronische Klänge, hat aber auch ein Gespür für neue Talente aller
Stilrichtungen. Darunter ist die in Mumbai lebende Sängerin und Komponistin
Aditi Ramesh, die bei ihrer 2020 erschienenen Single „Sambar Soul“,
inspiriert von Blues und Jazz, aus ihren südindischen Wurzeln schöpft.
## Charisma und feiner Pop
Charisma hat auch Kayan, Singer-Songwriterin und Model, die feinen Pop
produziert, der ihre indische Herkunft transzendiert. Weitere Musikerinnen
sind im Kommen, wie Tarana Marwah alias Komorebi und ihr nostalgischer
Sound und die experimentelle Electronica von Sandunes, die 2017 ein tolles
Konzert beim Magnetic-Fields-Festival vor Palastkulisse gespielt hat. Genau
wie Ditty ist sie Teil der Musik-Plattform „Border Movement“.
Diese fördert auch den Austausch zwischen Südasien und Deutschland. Hinzu
kommt Musik aus Übersee: In der ganzen Welt verstreut ist die indische
Diaspora, wie etwa [4][Madame Gandh]i, die sich einen Namen als
Tour-Schlagzeugerin von M.I.A. machte. Oder die Schweizerin Priya Ragu mit
sri-lankischen Wurzeln und ihrem tamilisch gefärbten Soul. Oder die
inzwischen in Frankreich lebende Goanerin Tracy De Sá, die genau wie die
anderen beiden Künstlerinnen sehr kreativ mit Rap- und Trap-Elementen
spielt.
Während die Hindi-Musikszene durch Popsongs, Rap und vor allem
Punjabi-Sänger geprägt ist, die über die Jahre Beat-Strukturen auch vom
karibischen Reggaeton übernommen haben, gibt es anderseits eine wachsende
Zahl von indischen Indie-Künstler:Innen, die ihre Karriere mit Songs auf
Englisch begonnen haben und dann zu Hindi wechselten. Und so erreichen sie
auch ein breites Publikum, in ihrer Heimat, aber nicht nur dort.
Am bekanntesten ist der 31-jährige Prateek Kuhad mit Poprock-Songs. Einer
davon landete sogar in der Playlist von Barack Obama! Obwohl deutsche DJs
wie Oliver Huntemann und Innellea (Michael Miehting) bereits wieder durch
Indien touren, muss auch das Land und somit auch die Musikszene zunächst
die Folgen der Coronapandemie verdauen. Die Ticket-Plattform „Skillbox“
legte ihren Fokus schnell auf virtuelle Shows, doch die Einnahmen fielen
gering aus.
Jedenfalls gibt es in Indien viel Musik zu entdecken. Pop hat eine große
stilistische Spannweite, von englischen Stücken, die nicht leicht zu
kategorisieren sind, bis hin zu Songs in den Regionalsprachen Tamil,
Telugu, Marathi und Bengali. Genre- und sprachübergreifende
Klangexperimente inklusive.
11 Mar 2021
## LINKS
[1] https://www.youtube.com/watch?v=ovmv2yRar-8
[2] https://www.youtube.com/watch?v=XW2dWo0sKYY
[3] https://www.youtube.com/watch?v=yjbXTOi7lr4
[4] https://www.youtube.com/watch?v=-bNdmBeQHI4
## AUTOREN
Natalie Mayroth
## TAGS
Indien
Pop
Dialekt
Bollywood
Filmmusik
Pop-Underground
Mainstream
Bollywood
Spielfilm
Film
Schwerpunkt taz folgt dem Wasser
Kolumne Stadtgespräch
## ARTIKEL ZUM THEMA
Filmfestival von Locarno: Ehrenpreis für King Khan
Bollywood-Star Shah Rukh Khan hat auch außerhalb Indiens seine Fanbase. In
Locarno wurde der 58-Jährige nun für sein Lebenswerk ausgezeichnet.
Indischer Musikerfilm „Der Schüler“: Verehrung und Entbehrung
Tradition macht nicht unbedingt glücklich. Zumal, wenn die Gegenwart mit
den Schultern zuckt. Davon erzählt Chaitanya Tamhanes Film „Der Schüler“.
Sozialdrama „Milestone“ aus Indien: Jenseits von Bollywood
Im Netflix-Film „Milestone“ geht es um die Existenzsorgen eines alternden
Truckers. Er zeigt, was das Indie-Kino aus Indien so stark macht.
Verschmutzung des Ganges in Indien: In der Sündenfalle
Im heiligen Fluss der Göttin Ganga können sich Hindus zum Fest Maha Khumbh
reinwaschen. Dem Ansturm ist der Ganges nicht mehr gewachsen.
Agrarproteste in Indien: Zorn auf Rihanna und Greta
In Delhi zünden Menschen Bilder der Sängerin und der Klimaaktivistin an.
Diese hatten sich auf Twitter mit den Bauernprotesten solidarisiert.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.