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# taz.de -- Nachkriegsmoderne zu verkaufen: Was tun mit still gelegten Kirchen?
> Vielerorts denken die Kirchen über die Verwendung jener Gotteshäuser
> nach, die in der Nachkriegszeit gebaut wurden.
Bild: Original 60er-Jahre: Zum Wohnhaus umgenutzte Kirche im Kreis Gütersloh
Deutschland ist christlich, nach wie vor. Rund 45,75 Millionen Mitglieder
christlicher Konfessionen verzeichnet die Statistik zum Jahresende 2019,
das entspricht 55 Prozent der Bevölkerung. Mit 22,6 Millionen Angehörigen
liegt die römisch-katholische Kirche vorn, gefolgt von 20,7 Millionen
evangelischen Gläubigen, der Rest verteilt sich auf sich orthodox und
freikirchlich Bekennende. Allerdings, auch das ist nicht neu, schwinden die
Mitgliederzahlen: Um die 500.000 Menschen verlassen jährlich die
christlichen Gemeinden, allein die evangelische Kirche Hannover meldete
2019 mehr als 30.000 Austritte.
Beweggründe sind nicht nur in einer individuellen Glaubensentfremdung zu
suchen oder schlicht in Finanziellem: der Kirchensteuer. Auch die Kirchen
selbst verspielen zunehmend ihre Glaubwürdigkeit. So reißen die Skandale in
der katholischen Kirche nicht ab, aktuell etwa durch [1][Kardinal Woelki],
der ein Gutachten zu Missbrauchsfällen im Erzbistum Köln zurückhält. Martin
Kaufhold, Professor für Mittelalterliche Geschichte an der Universität
Augsburg, sieht die katholische Kirche in Deutschland sogar in ihrer
Existenz bedroht: Wenn es so weitergehe, würde er ihr als Institution in
dieser Form noch etwa 20 Jahre geben, [2][sagte er kürzlich] der Augsburger
Allgemeinen.
Aber selbst wer dieses Szenario für übertrieben hält, kommt nicht an der
Frage vorbei: Was tun mit Gotteshäusern, die aktuell und zukünftig nicht
mehr benötigt werden? Sogar unter den noch solidarisch in der
Kirchenmitgliedschaft Verbliebenen gehört der sonn- und feiertägliche
Gottesdienstbesuch oft nicht mehr zum Ritual. Aber was heißt in diesem
Zusammenhang eigentlich „benötigt“? Wie viele – oder wenige – Mitglied…
sind für die Aufrechterhaltung einer Kirchengemeinde und all ihrer
Räumlichkeiten das Maß aller Dinge?
[3][Im Juni 2017 schrieb] das Hamburger Abendblatt, dass 44 evangelischen
Kirchen und 50 Gemeindehäusern in der Stadt die Schließung drohe. Pastor
Gerhard Janke, für den Artikel fotogen weitblickend vor seinen Kirchturm
postiert, hat bis heute seine [4][Cornelius-Gemeinde] im Stadtteil Fischbek
am Leben erhalten können – in einer Kirche von 1964. Bemerkenswert bleibt
die paradoxe Situation: Trotz kontinuierlicher Austritte steigen die
Einnahmen aus der Kirchensteuer fast jedes Jahr.
Wenn nun aber eine Schließung für unvermeidbar erachtet wird, die Aufgabe,
gar der Verkauf von Kirchenbau, Gemeindehaus und womöglich weiterer
Immobilien ins Auge gefasst: Was folgt dann? Vor diesem Problem steht
aktuell der Evangelisch-Lutherische Kirchenkreis Wolfsburg-Wittingen. Er
ist Eigentümer der [5][Wolfsburger Heilig-Geist-Kirche], des dazu gehörigen
Gemeinde- sowie eines kleinen Pfarrwohnhauses und schließlich eines
Kindergartens. Seit Ende letzten Jahres wird ein „Investor“ gesucht – die
milde Umschreibung für die Absicht, die Gebäude zu veräußern.
Architekt des denkmalgeschützten Ensembles ist Alvar Aalto (1898–1976): Er
erbaute es zwischen 1961 und 1962; ergänzt dann 1964 um die
Kindertagesstätte. Den Kirchenraum zeichnet eine, durch die
Dachkonstruktion markant strukturierte Dynamik aus sowie eine ungewohnte,
nordische Lichte. Architekturhistoriker sehen in dem Kirchenbau ein
Hauptwerk Aaltos. Wolfsburg verfügt mit dem [6][gleichzeitig erbauten
Kulturhaus] sowie einem zweiten Kirchenzentrum – eine Ausgründung, als der
Heilig-Geist-Gemeinde ihre Kirche Mitte der 1960er-Jahre zu klein wurde –
gleich über drei Werke Aaltos: Die Stadt ist damit das Zentrum seines
Schaffens außerhalb von Finnland.
Das Landeskirchenkirchenamt empfehle, in der gesamten
Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Hannovers „den Gebäudebestand zu
reduzieren“, so Werner Lemke, Baudirektor der Landeskirche, im Januar. Die
Entscheidung über eine Veräußerung liege allerdings bei der jeweiligen
Kirchengemeinde, nicht bei der Landeskirche. Mit sinkenden Mitgliederzahlen
und abnehmender Finanzkraft ließen sich die Gebäude nur noch unzureichend
unterhalten, drohten langfristig zu verfallen: „Wir wünschen uns eine
denkmalgerechte Nachnutzung, um den Erhalt dieses hochkarätigen
Baudenkmales langfristig zu sichern.“ Eine Machbarkeitsstudie soll
beauftragt werden, anschließend die Klosterkammer Hannover einen
Investorenwettbewerb ausloben.
Wie gerufen, veranstaltete Anfang dieser Woche die Volkswagen-Stiftung mit
Partnern ihr „Herrenhäuser Symposion“, diesmal online, zum Thema
[7][„Kirchenumnutzung, neue Perspektiven im europäischen Vergleich“]. Neben
dem Hinweis auf abwegige Nachnutzungen – als Supermarkt, Fitness- und
aktuell Impfcenter, für Geschosswohnen oder Erlebnisgastronomie – betonten
alle Referent:innen die Rolle eines Kirchenbaus als Wahrzeichen und
Identitätsmerkmal in einem größeren gesellschaftlichen Kontext.
Hinzu komme die spirituelle Qualität des Sakralen, die Besonderheit
kirchlicher Orte mit einem hohen Maß an substanzlosem Wertanteil. Kirchen
stellen zudem öffentliche, jedem zugängliche Räume sowie Schutzfunktionen
bereit; sie sind, zusammengefasst, „Gebilde von hoher Zwecklosigkeit“, wie
der Schweizer Kunsthistoriker Nott Caviezel, Professor für Denkmalpflege an
der TU Wien, den großen Nachkriegs-Kirchenbauer Walter Maria Förderer
zitierte. Gerade Kirchen aus jener Zeit stellen mit neuartigen Bauform- und
Raumvorstellungen ein anspruchsvolles, schwer zu entschlüsselndes – und
folglich wenig geschätztes Erbe dar. So stehen denn unter den gut 45.000
Kirchen in Deutschland derzeit fast nur solche aus der Nachkriegszeit zur
Disposition.
Einig waren sich die Referent:innen auch darüber, dass eine Umnutzung
kein Schnellschuss sei, sondern ein Prozess, ein „Recasting“ – so Paul Po…
von der Universität Tilburg –, das sehr langen Atem benötige und eine
neutrale oder externe Begleitung. Schier zahllos waren die
Präsentationsfolien mit Handlungsmustern und chronologischen Abläufen.
Glücklich ist eine Funktionskontinuität als religiöser Ort. So war
beispielsweise das Kultur- und Gemeindezentrum „Etz Chaim“ der liberalen
jüdischen Gemeinde Hannover einst Kirche, ebenso die Al-Nour-Moschee in
Hamburg-Horn. Noch glücklicher allerdings ist die Kooperation der an Bord
bleibenden Kirche mit einem weltlichen, kulturellen Partner: Im Falle der
Christuskirche Hannover nutzt der „Mädchenchor“ als zahlender Mieter die
historistische Kirche für Proben und Konzerte. Ein Verkauf des Kulturgutes
Kirche – auch darin herrschte Konsens beim Symposion – sollte die Ultima
Ratio bleiben.
Erst ganz zum Ende des Prozesses kann überhaupt ans Bauen gedacht werden:
Kirchenumnutzungen sind keine flotte Projekt-Akquise für
Architekt:innen und nur bedingt Fingerübungen für Studierende. Das
zeigen auch die Projekte, die prämierten Projekte des [8][„Wolfsburg Award
2020“] zur Heilig-Geist-Gemeinde. Dieser zweijährlich abgehaltenen
Ideenwettbewerb ruft Studierende aus ganz Europa auf, Vorstellungen für
eine moderne Weiterentwicklung der Stadt zu entwerfen. Der erste Preis ging
2020 an Marlon Hecher, TU Braunschweig, der für den Innenraum der Kirche
als „Aalto-Forum“ ein maßgeschneidertes, variables Möbel- und
Schienensystem entwarf. Weitere – nicht prämierte – Vorschläge waren aber
auch eine Nutzung als Kita oder Thermalbad. Letztere Variante dürfte
abseits bautechnischer Fragen in die Kategorie „würdelose Nachnutzung“
gehören.
26 Feb 2021
## LINKS
[1] /Kardinal-Woelki/!t5742757
[2] https://www.augsburger-allgemeine.de/bayern/Augsburger-Historiker-Kaufhold-…
[3] https://www.abendblatt.de/hamburg/article210791065/Wie-viele-Kirchen-brauch…
[4] https://cornelius-kirche.de/
[5] https://de.wikipedia.org/wiki/Heilig-Geist-Kirche_und_Gemeindezentrum
[6] /!266134/
[7] https://www.volkswagenstiftung.de/veranstaltungen/veranstaltungskalender/he…
[8] https://www.wolfsburg.de/kultur/architektur/wolfsburgaward
## AUTOREN
Bettina Maria Brosowsky
## TAGS
Glaube, Religion, Kirchenaustritte
Kirche
Architektur
Evangelische Kirche
Wolfsburg
Nachkriegszeit
Kolumne Hamburger, aber halal
Islam
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Hamburg
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