| # taz.de -- Ausstellung über Rassismus: Eine Form des Wahnsinns | |
| > „Grief and Grievances“ heißt eine Ausstellung des verstorbenen Kurators | |
| > Okwui Enwezor. Sie thematisiert Schwarzes Leiden in den USA. | |
| Bild: Installation mit Leichenwagen vom Künstler Nari Ward | |
| „Blues“, „Blut“, „Bluterguss“. Diese drei Worte werden bis zum Jahr… | |
| an der Fassade des New Museums an der Bowery in Lower Manhattan leuchten. | |
| Ursprünglich stammen sie von einem schwarzen Teenager in New York. Daniel | |
| Hamm stammelte sie 1964, um die Misshandlungen zu beschreiben, die er von | |
| Polizisten erlitt. Er war unschuldig und blieb jahrelang hinter Gittern. | |
| Ein halbes Jahrhundert später prägte der Konzeptkünstler Glenn Ligon die | |
| drei Worte in große Neonbuchstaben. Nachdem sie weltweit zu sehen waren – | |
| darunter auf der Biennale in Venedig 2015 –, bilden sie seit vergangener | |
| Woche die äußere Verpackung einer Gruppenausstellung von 37 mehrheitlich | |
| afroamerikanischen KünstlerInnen in New York. Es sind Videos, Malerei, | |
| Fotos, Skulpturen, Installationen und musikalische Kompositionen. In einem | |
| Land, das gerade erst aus vier Jahren Trump-Alptraum weißer Vorherrschaft | |
| auftaucht, könnte ihr Thema kaum aktueller und dringender sein: das | |
| schwarze Leiden in den USA. | |
| Gleich im Eingang des Museums laufen BesucherInnen auf Wände mit | |
| schwarz-weißem Graffiti zu. „As Heavy as Sculpture“ von Adam Pendleton ist | |
| abstrakt, wie die meisten Werke der Ausstellung. Aber zwischen seinen | |
| Symbolen tauchen bekannte Silhouetten auf. [1][Darunter das Gesicht von | |
| George Floyd, dem Mann, der im vergangenen Mai nach acht Minuten und 46 | |
| Sekunden unter dem Knie eines weißen Polizisten in Minneapolis starb.] | |
| Von der Aktualität aus verzweigen sich die Szenen in Einblicke und | |
| Nachdenken über die vielen Zonen von schwarzem Leiden, Alltag und | |
| Widerstand. Manche Exponate sind wie Klagegesänge. Dazu gehört Kevin | |
| Beasleys „Strange Fruit“. Seine von der Decke herabhängenden Turnschuhe | |
| sind mit Schaum und Farbe bis zur Unkenntlichkeit entstellt. In dem Gewirr | |
| stecken Mikrofone und ein leise eingestellter Lautsprecher. Sein Rauschen | |
| und Pfeifen zieht Neugierige an. Dann kommt unweigerlich der Moment, in dem | |
| ihnen der Gedanke an Lynchmord kommt, der in der Jim-Crow-Ära Schaulustige | |
| zu den Bäumen gezogen hat, an denen Afroamerikaner aufgehängt waren. | |
| ## Geteert und gefedert | |
| Ein 17-minütiger Film zeigt eine Frau im Wartestand. „Alone“ von der | |
| Videomacherin Garrett Bradley beschreibt die Gefängnisrealität aus der | |
| Perspektive einer, die mit ihren Kindern in Freiheit lebt, aber durch ihre | |
| Liebesbeziehung mitgefangen ist. | |
| Der Künstler Nari Ward ist mit einem kompletten Leichenwagen vertreten. Er | |
| hat das Vehikel wie bei einer mittelalterlichen Foltermethode geteert und | |
| gefedert und es in einen engen Rahmen zwischen Gitter und Auspuffrohre | |
| gezwängt. | |
| Die 1943 geborene Howardena Pindell hat eine „Autobiografie“ in Form einer | |
| Collage beigesteuert. In leichten, fröhlich wirkenden Farben schlägt sie | |
| einen ganz großen historischen Bogen. Er reicht von der angedeuteten | |
| Zeichnung des Sklavenschiffs „Brookes“, das im Jahr 1786 – zehn Jahre nach | |
| der Unabhängigkeitserklärung – 609 Menschen aus Afrika deportiert hat, über | |
| eine ihrer Urahninnen, die erblindete, nachdem ein Sklavenhalter sie | |
| ausgepeitscht hatte, bis hin zu einem roten Kreis, der die Künstlerin an | |
| ein Erlebnis ihrer eigenen Kindheit erinnert. Sie war mit ihrem Vater auf | |
| einem Jahrmarkt in Kentucky. Als die beiden ein Getränk bestellten, bekamen | |
| sie es in Gläsern, die mit einem roten Kreis markiert waren. Gläser für | |
| „farbige“ KundInnen. | |
| Fast alle Werke sind in den vergangenen Jahren entstanden. Bloß drei sind | |
| älter. Sie stammen von bereits verstorbenen Künstlern. Und sie dienen dem | |
| doppelten Zweck, das Ausstellungsthema als eine Konstante der US-Geschichte | |
| zu verankern und zu zeigen, wie wenig sich im Laufe der Jahrzehnte geändert | |
| hat. | |
| ## Historische Werke | |
| Eines ist „Procession“ von Jean-Michel Basquiat, der in den 1980er Jahren | |
| einen befreundeten Künstler durch Polizeischüsse in der New Yorker U-Bahn | |
| verloren hat. Die beiden anderen stammen aus dem Jahr 1964. In einem | |
| schwarzen Bild von Daniel LaRue Johnson ist der Freedom-Now-Button der | |
| BürgerrechtlerInnen der 60er Jahre zu erkennen. Der Künstler hat ihn mit | |
| einer Mausefalle und abgetrennten Puppenarmen und -beinen versehen. Das | |
| dritte historische Werk der Ausstellung ist „Birmingham“ von Jack Whitten. | |
| In der Mitte seines nur 42 mal 40 Zentimeter großen Bildes klafft wie ein | |
| Vulkankrater ein von verkohltem Aluminium umrahmtes Loch. | |
| Bei genauerem Hinschauen ist darin ein Junge zu erkennen, der von einem | |
| Polizeihund angegriffen wird. Der in Alabama geborene Whitten ist vor der | |
| Polizeigewalt gegen die BürgerrechtlerInnen nach New York geflohen. In dem | |
| Jahr, bevor er dieses Werk schuf, ermordeten weiße Männer bei einem | |
| Bombenanschlag auf eine schwarze Baptistenkirche an der 16. Straße in | |
| Birmingham vier schwarze Mädchen. | |
| Vermutlich ist es kein Zufall, dass das Konzept für die Ausstellung von | |
| einem kommt, der die USA gut kannte, aber zugleich von außen kam. Der in | |
| Nigeria geborene Kurator Okwui Enwezor – einer der internationalen Stars in | |
| seinem Gewerbe – erkannte bei seinem Studium in den 1980er Jahren in den | |
| USA, wie unterrepräsentiert afroamerikanische KünstlerInnen in Museen und | |
| Galerien waren. Und er verstand, wie hartnäckig die Ressentiments gegen | |
| Schwarze waren. | |
| Jahrzehnte später, als der Kandidat Donald Trump im Wahlkampf 2016 mit | |
| nationalistischen Slogans über die angebliche einstige Größe des Landes an | |
| rassistische Ressentiments anknüpfte, begann der Kurator sein Nachdenken | |
| über eine künstlerische Auseinandersetzung damit. Zu dem Zeitpunkt lebte | |
| Enwezor in München, wo er das Haus der Kunst leitete. | |
| ## Idealisierung des Südstaatenlebens | |
| 2018 unterbreitete er dem New Museum seine Ausstellung „Grief and | |
| Grievances“ (Trauer und Missstände). Dreh- und Angelpunkt sollte das | |
| „schwarze Trauern angesichts von politisch inszenierten weißen Klagen über | |
| Missstände“ werden. Enwezor sah die direkte Linie von der Idealisierung des | |
| Südstaatenlebens vor dem Bürgerkrieg – mit der Sklavenhaltewirtschaft im | |
| Zentrum – zum weißen Nationalismus des 20. und 21. Jahrhunderts. In den | |
| beiden ersten Amtsjahren von Trump beobachtete er eine „Normalisierung des | |
| weißen Nationalismus durch die Medien“. Seine Ausstellung sollte ein | |
| Gegengewicht werden. Sie sollte kurz vor den Präsidentschaftswahlen von | |
| 2020 beginnen. | |
| Bei dem Titel und den von Enwezor ausgewählten KünstlerInnen für die | |
| Ausstellung ist es geblieben. Die Rahmenbedingungen hingegen haben sich | |
| verändert. Aber damit haben sie erneut dem Kurator Recht gegeben. | |
| [2][Enwezor starb während der Ausstellungsvorbereitungen im Frühling 2019 | |
| im Alter von 55 Jahren an Krebs.] | |
| Die Pandemie, die bei AfroamerikanerInnen doppelt so häufig tödlich | |
| verläuft wie bei ihren weißen Landsleuten, und die polizeilichen | |
| Gewalttaten des vergangenen Jahres, die eine neue Bürgerrechtsbewegung | |
| ausgelöst haben, hat er nicht mehr erlebt. Ein Viererteam von Vertrauten – | |
| der afroamerikanische Künstler Glenn Ligon, der britische Kunsthistoriker | |
| Mark Nash, der aus Italien stammende Direktor des New Museums, Massimiliano | |
| Gioni, sowie die junge afroamerikanische Kuratorin Naomi Beckwith, die | |
| demnächst von dem Museum für zeitgenössische Kunst in Chicago in das | |
| Guggenheim in New York wechseln wird – vollendete seine Ausstellung. | |
| „Es war Gruppentherapie“, sagt Beckwith über die Vorbereitungsarbeiten für | |
| die Ausstellung. Sie fielen in eine chaotische und tragische Zeit in den | |
| USA, der Rassismus rückte täglich weiter in den Vordergrund und eskalierte | |
| am 6. Januar mit dem Sturm auf das Kapitol. Wenn sie die Nachrichten | |
| besprachen, fragten sich die vier VollstreckerInnen von Enwezors letzter | |
| Ausstellung: „Was würde Okwui sagen?“ | |
| ## Verhaltener Gestus | |
| Beckwith saß 2015 in der Jury der Biennale von Venedig, die Enwezor | |
| geleitet hat, und während derer er Auszüge aus Karl Marx’ „Kapital“ | |
| verlesen ließ. „Er hatte ein globales Denken über Blackness“, sagt sie: �… | |
| betrachtete Rasse als eine Form des Wahnsinns in den Amerika“. | |
| Enwezor war ein Intellektueller. Seine letzte Ausstellung bleibt dem treu. | |
| Sie vermeidet die permanente Entrüstung und die Appelle ans Gefühl, die so | |
| bestimmend in der Auseinandersetzung der letzten Monate in den Medien und | |
| auf der Straße waren. Ihr Gestus ist verhalten, langsam. Sie formuliert | |
| keine Forderungen. Aber in der Essenz bestätigt sie die Worte des | |
| gepeinigten Teenagers: „Blues, Blood, Bruise“ und den Protest von Black | |
| Lives Matter seit der Gründung 2013. | |
| Der von Enwezor geplante Eröffnungstermin der Ausstellung scheiterte an der | |
| Pandemie. Die Eröffnung von „Grief and Grievances“ wurde vom Herbst auf den | |
| 17. Februar verschoben. Inzwischen läuft der Museumsbetrieb in New York | |
| wieder, aber mit reduzierter Besucherkapazität sowie ohne Garderobe und | |
| Museumscafé. Wer „Grief and Grievances“ sehen will, muss sich online | |
| anmelden und zu der festgelegten Zeit zum Fiebermessen am Eingang kommen. | |
| Wer das bis Juni nicht schafft, kann sich mit dem Ausstellungskatalog | |
| trösten, in dem sich zahlreiche Intellektuelle mit Fragen der Blackness | |
| befassen. | |
| 24 Feb 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Dorothea Hahn | |
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