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# taz.de -- Schweinswal-Population der Nordsee: „Die Kurve geht Richtung Null…
> Die Schweinswal-Population der Nordsee sinkt seit Jahren dramatisch. Um
> den Trend zu stoppen, müsste ein streng überwachtes Schutzgebiet her.
Bild: Lebensfeindlicher Ort: Schweinswal, der in der Nordsee als Beifang starb
Osnabrück taz | Das Meer: Für viele ist es ein romantischer Sehnsuchtsort.
Aber nur wenige machen sich beim Blick auf die Wellen klar, dass es
zugleich eine beispiellosen Müll- und Todeszone ist, und dass die Ursachen
dafür vor allem an Land liegen. Für Rainer Borcherding ist das Sterben
Alltag. Der Biologe ist Bereichsleiter für Umweltbildung bei der
Schutzstation Wattenmeer in Husum. Wer mit dem Experten für Artenvielfalt
spricht, hört Sätze wie: „Im Naturschutz ist Frustration normal!“
Der jüngste Alarm gilt den Nordsee-Schweinswalen. Vom Aussterben bedroht,
stehen sie streng unter Schutz – eigentlich. In der Praxis allerdings
bietet ihr Schutzgebiet vor Sylt nur wenig Sicherheit. „Klar, auf dem
Papier sieht das ganz nett aus“, winkt Borcherding ab, „aber mehr als
Papier ist das eigentlich auch nicht. Selbst da ist ja Fischerei erlaubt.“
Die Bestände schwinden seit Jahren besorgniserregend. „Wenn sich nichts
ändert, dauert es nur noch wenige Jahrzehnte, und auch die letzte Walart
unserer Küste ist unwiederbringlich verloren“, sagt Borcherding.
Eine Studie der Tierärztlichen Hochschule Hannover hat jüngst örtliche
Rückgänge bis zu 60 Prozent nachgewiesen. Insgesamt sank die Population von
2002 bis 2019 pro Jahr um 1,8 Prozent. „Die Kurve geht kontinuierlich
runter Richtung Nullachse“, so Borcherding, „und wir lassen es zu, sehenden
Auges.“
Gleich der erste Satz der Hannoveraner Studie macht klar, wo das Problem
liegt: Die Nordsee sei „eine der am stärksten genutzten Schelfregionen
weltweit“, heißt es da, „mit einer Vielzahl menschlicher Auswirkungen.“
Gemeint sind etwa der Unterwasserlärm durch Offshore-Bauten, militärisches
Sonar und die Sprengung maroder Munitionsaltlasten. Da ist die Fischerei,
die den Walen ihre Nahrung raubt und in deren Stellnetzen viele von ihnen
ertrinken. Da sind die Chemikalien der Industrie und Agrarwirtschaft, die
über Flüsse ins Meer gelangen. Da sind der Plastikmüll und die Unfähigkeit
kommunaler Kläranlagen, Medikamente und Hormone zurückzuhalten. Da sind die
Teerreste, Ölfilme und Kollisionsunfälle durch Schiffe. Und da ist nicht
zuletzt der Klimawandel, der Beutefische nach Norden abwandern lässt.
„Klar, das sind dicke Bretter, die man da bohren muss“, sagt Borcherding.
„Aber wir müssen es versuchen.“
Und dann erzählt er, was die bis zu 200 Dezibel lauten
Hydraulik-Schlagrammen anrichten, mit denen die Stützpfeiler der
Windkraft-Fundamente in den Meeresboden getrieben werden: „Das ist ein
Höllenlärm. Oft führt er zu schweren Hörschäden, und das ist bei einem
Tier, das sich akustisch orientiert, natürlich fatal. Manche Wale sterben
auch einfach, durch blutende Ohren.“
40 Gigawatt Offshore-Leistung sollen bis 2040 ins Meer geklotzt werden, so
will es die Ende 2020 in Kraft getretene Änderung des
Windenergie-auf-See-Gesetzes.
Zudem raubt Überfischung den Schweinswalen die Nahrungsgrundlage. Nicht nur
Kabeljau, Makrele und Hering sind selten geworden. Auch ihr letzter Ersatz,
der Sandaal, wird inzwischen stark befischt: weniger für den menschlichen
Verzehr, sondern als Viehfutter. „Die Nordsee ist für Schweinswale ein
lebensfeindlicher Ort!“, sagt Thilo Maack, Meeresbiologe bei Greenpeace in
Hamburg. „Was wir brauchen, sind echte, strikt überwachte Schutzgebiete,
ohne Fischerei, ohne Sand- und Kiesentnahme, ohne Öl- und Gasindustrie,
ohne Windparks.“
Auf dem Papier gebe es „jede Menge toll klingender Paragrafen“, aber es
fehle an konsequenter Umsetzung, rigider Kontrolle, empfindlicher
Sanktionierung von Verstößen. Und jeder Fischer müsse ein automatisches
Identifikationssystem an Bord haben, auf GPS-Basis, „das zugleich zeigt,
wann er fischt und wann er nur auf Transit ist. Als Pflicht! Auf
freiwillige Maßnahmen zu hoffen, hat noch nie was gebracht.“
Die konventionelle Landwirtschaft müsse auf Bio umgestellt werden, ergänzt
Borcherding, und die Windpark-Industrie endlich leisere Verfahren nutzen.
Geben tue es die bereits: Sogenannte Vibrationsrammen etwa, die den Pfahl
in den Boden rütteln. Andere Varianten wären Bohr- und Saugeimer-Verfahren
oder Schwerkraftfundamente, die nur auf dem Meeresboden abgestellt werden –
oder gleich schwimmende. „Aber die sind eben ein bisschen teurer“, sagt
Borcherding bitter, „also lässt man’s.“
23.000 Schweinswale gibt es in der deutschen Nordsee noch, vielleicht.
Selbst im Sylter Schutzgebiet, wo ihre Jungen heranwachsen, sinkt ihre Zahl
– besonders stark sogar. Maack: „Absurde Situation.“
5 Feb 2021
## AUTOREN
Harff-Peter Schönherr
## TAGS
Schweinswal
Nordsee
Schwerpunkt Artenschutz
Tierschutz
Überfischung
Naturschutz
Munition
Umweltschutz
Fehmarnbelt
Meeresschutz
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