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# taz.de -- Die These: Nicht heulen, sondern kämpfen
> Die zögerliche Klimaschutzpolitik hat damit zu tun, dass nur
> Allergiker*innen die Folgen schon sehr spüren. Sie müssen auf die
> Barrikaden!
Bild: Wer unter Heuschnupfen leidet kann die schönste Zeit des Jahres im Bett …
Es wird der Tag kommen, an dem sich die graue Winterwolkendecke verzieht
und die Menschen aus ihren Isolationshöhlen kriechen. Wenn mit den ersten
Frühlingssonnenstrahlen auch eine Herdenimmunitätshoffnung auf den blassen
Nasenspitzen kitzelt. Wenn es leichter ums bedrückte Herz wird, die
Singdrosseln trällern und der zu Bilderbuchpoesie aufgelegte Frühling sein
„blaues Band“ flattern lässt.
An diesem nicht so fernen Tag werde ich mich in meiner
doppelglasversiegelten Altbauwohnung verschanzen, in meinem
frischluftfreien Allergiker-Vakuum, ausgerüstet mit dem bewährten
Antihistaminika- und Kortison-Arsenal.
Ja, ich bin Pollenallergiker, schon immer. Und viele, die dies lesen,
werden mich nun einen Mitleid heischenden Weichling nennen, der seinen
Heuschnupfen zum gesellschaftlichen Drama hochjammert. Denn Allergiker, das
sind nach weitverbreiteter Ansicht die Sensibelchen, die in ihrer Kindheit
mehr Dreck hätten fressen sollen. Die Unabgehärteten, die von überbesorgten
Propeller-Eltern aus dem keimbelasteten Sandkasten gehievt wurden. Die
Ungestillten, denen die herzlose Mutter die Brust verweigert hat und deren
hysterisches Immunsystem nun auf lächerlich harmlose Stoffe reagiert.
All das sind Mythen, die die Wissenschaft längst entkräftet hat. Ja, es
gibt zwar eine bekannte Bauernhofstudie, nach der Kinder, die auf
Bauernhöfen groß werden, seltener an Heuschnupfen erkranken als andere.
Doch das gelte nur für traditionelle Bauern, nicht für moderne
Landwirtschaftsbetriebe, erklärt die Umweltmedizinerin Claudia
Traidl-Hoffmann vom Helmholtz-Zentrum München. Viel entscheidender sei die
Diversität der mikrobiologischen Umwelt, in der wir aufwachsen. Und genau
da, beim Thema Umwelt, beginnt das Problem.
Der Grund, weshalb ich mein Leiden bisher still ertragen habe, war die
Tatsache, dass es ein temporäres Leiden war. Es gab eine Allergie-Saison,
in der ich mein Kortison-Spray inhalierte, die aufgequollenen Augen mit
Tropfen beruhigte, Antihistaminika schluckte und das mit chronischer
Müdigkeit bezahlte, in der ich nicht ich selbst war. Doch das war okay,
denn eine Saison nennt man deshalb eine Saison, weil sie irgendwann endet –
mit etwas Glück wie die Bundesliga im Mai.
Doch dann veränderte sich etwas. Die sogenannte „Natur“ begann, verrückt …
spielen. Die Pollen hielten sich immer weniger an den vom
Polleninformationsdienst herausgegebenen Pollenflugkalender. Die Hasel fing
schon im Januar an, ihren Samenstaub in die Luft zu ejakulieren. Die Birke
ging im Februar bereits zum Bombardement über. Die Gräserpollen ließen sich
von ihrem verschwörerischen Gehilfen Wind durch den Sommer pusten.
Und dann tauchte im Herbst noch ein neues Allergen auf: Ambrosia, die
„Speise der Götter“, die treffender „Kraut des Teufels“ hieße. Sie br…
mir wenig göttliche Symptome bis in den November. Und es überraschte mich
nicht, zu erfahren, dass Ambrosia-Pollen unter dem Elektronenmikroskop wie
Abrissbirnen aussehen, die tief in die Lunge eindringen können.
So wurde aus der Allergiesaison ein Allergie-Jahr. Ein immerwährendes
Vivaldi-Katastrophenkonzert mit verstimmten Violinen. Eine Horrorversion
der „vier Jahreszeiten“, wobei das muntere Allegro in ein albtraumhaftes
Allergio mutierte.
Allergiker zu sein, das bedeutete für mich nicht nur, Birken zu hassen. Es
bedeutete auch, den Blick schamvoll nach innen zu richten. Wenn ich an der
Außenwelt litt und andere nicht, dann musste es – logisch – an mir und
meinem schwächlichen Körper liegen. Deshalb musste ich mich therapieren,
mich „hyposensibilisieren“, mir Allergene injizieren lassen.
Ich musste meine Ernährung umstellen, Intervallfasten und Verzicht lernen,
alles weglassen, was Kreuzallergien auslösen kann: Nüsse, Mandeln, Äpfel,
Birnen, Steinobst, Erdbeeren, Karotten, Sojabohnen, Erdnüsse. Mitunter auch
Bananen, Avocado, Tomaten, Paprika, Zwiebel, Knoblauch, Hopfen, Petersilie,
Basilikum. Zucker und Weizen sind für mich ohnehin tabu. Fisch, Fleisch und
Milchprodukte? Schwierig. Mir bleibt im Großen und Ganzen: Dinkel, Kohl und
Wasser.
Doch ich bin nicht allein. Mit mir leiden Millionen. Hochrechnungen zufolge
ist in Deutschland schon fast jede*r Dritte von einer Allergie betroffen.
Ihnen allen wird die schönste Zeit des Jahres versaut mit Atemnot,
tränenden Augen, triefenden Nasen, dröhnenden Kopfschmerzen.
## Allergiker*innen leiden unterm Klimawandel
Und alle diese Millionen ertragen das still. Und leise. Es scheint ja auch
niemand dafür verantwortlich. Kein Gesundheitsminister, der wegen grober
Versäumnisse den Hut nehmen müsste, keine Histaminikalobby, vor deren
Zentrale man hätte randalieren können.
Nun aber meldet sich die Wissenschaft und erklärt den Allergikern und
Allergikerinnen, dass ihr immer schlimmer werdendes Leid nicht durch
eigenes oder elterliches Versagen begründet ist, sondern durch den
Klimawandel, die Umweltverschmutzung und das Schwinden biologischer
Vielfalt.
„Wenn es wärmer wird, fliegen die Pollen auch im Winter – und es fliegen
immer mehr davon“, sagt Claudia Traidl-Hoffmann. Ökosysteme verändern sich.
Neue Pollen kommen hinzu, siehe Ambrosia. Schadstoffe machen uns
allergischer und – wie im Fall von CO2-Stickoxiden – die Pflanzen
allergener. „Allergien werden nicht nur zunehmen. Die Menschen, die an
Allergien leiden, werden auch mehr Symptome haben.“
Was also, wenn wir Allergiker*innen nicht die degenerierten Weichlinge
wären, sondern die evolutionäre Vorhut, die die Folgen der lokalen und
globalen Erhitzung eben schon etwas früher spürte, „am eigenen Leib“, wie
man sagt?
## Allergiker*innen dieses Landes, vereinigt euch!
Was würde geschehen, wenn die Allergiker*innen sich endlich dessen
bewusst würden, dass ihr Leid mutwillig in Kauf genommen wird, dass sie es
mitunter auch selbst verschulden, weil sie glauben, die Ausscheidungen
ihres SUV würden vielleicht den einen oder anderen Gletscher zum Einsturz
bringen, aber nicht etwa die unschuldige Birke vor dem eigenen Fenster zum
Aggressor machen? Würden sie dann mit Äxten durch die Städte ziehen und die
gedankenlos in sie hineingepflanzten Birken abholzen? Oder würden sie eine
Partei gründen, damit endlich jemand in ihrem Namen spräche? Die PAPD
vielleicht, die Pollen-Allergiker-Partei Deutschlands?
Es heißt oft, die deutsche Klimapolitik wäre auch deshalb eine so mutlose,
weil wir die Auswirkungen der Krise nicht spürten, nur indirekt durch
Bilder von brennenden Wäldern, ausgebleichten Korallen oder überschwemmten
Küstenstädten am anderen Ende der Welt. Das stimmt so aber nicht. Millionen
unter uns spüren die Klimakrise bereits. Sie wissen es nur noch nicht. Weil
das bisschen Niesen und Jucken, das bisschen Asthma-Anfall und
Hautausschlag bagatellisiert und individualisiert wird.
Deshalb braucht es nun ein paar Mutige, die zum Aufstand aufrufen:
„Allergiker*innen dieses Landes, vereinigt euch!“ Wir werden die Allergien
nicht abschaffen können. Aber wir werden darüber sprechen müssen, wie wir
die Städte so umgestalten können, dass Feinstaub und Stickoxide aus ihnen
verschwinden.
Vor allem aber werden wir die Klimakrise bekämpfen müssen. Und Druck auf
die Politik ausüben, weil es um unser Leben geht. Allergiker*in zu
sein, das bedeutet heute, vom Bagatellisierer zum Rebellen zu werden, der
mit jedem Niesen daran erinnert, dass alle ihr Leben grundlegend ändern
müssen. Sonst sitzen wir eines sonnigen Tages alle hinter versiegelten
Fenstern.
14 Feb 2021
## AUTOREN
Thorsten Glotzmann
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