# taz.de -- Premiere in der Berliner Staatsoper: Eiseskälte, Liebe und Vergebu… | |
> Die Staatsoper beging die Premiere von Leoš Janáčeks „Jenůfa“ im Stre… | |
> Musikalisch-dramatischer Hochgenuss unter der Leitung von Simon Rattle. | |
In Zeiten wie diesen muss mensch die Premieren nehmen, wie sie kommen. | |
Diese war groß angekündigt: Schon im Vorfeld wurde medial eingestimmt auf | |
die neue „Jenůfa“-Inszenierung der Staatsoper, die natürlich wie alles | |
andere nicht vor echtem Publikum stattfinden durfte, aber quasi live, das | |
heißt am selben Abend leicht zeitversetzt in Fernsehen, Radio und online | |
gestreamt wurde. Eine gute Sache, doch immerhin besser als nichts, oder? | |
Natürlich: ja und nein. [1][Leoš Janáčeks „Jenůfa“] jedenfalls ist ein | |
Werk, dem die Verbannung ins Fernsehformat vergleichsweise wenig von seiner | |
intrikaten dramatischen Wirkung nimmt. Die Handlung an sich wäre schon | |
packend genug: Jenůfa, ein junges Mädchen auf dem Lande, ist nach dem Tod | |
des Vaters von ihrer Stiefmutter aufgezogen worden, die ihre Tochter sehr | |
liebt, aber mindestens ebenso große Stücke hält auf gesellschaftlichen | |
Anstand und Ansehen. | |
Nachdem Jenůfa schwanger geworden ist und der nichtsnutzige Vater des | |
Kindes sie nicht heiraten will, beschließt die verzweifelte Stiefmutter, | |
das Neugeborene zu töten, um der Tochter wenigstens die Heirat mit einem | |
anderen zu ermöglichen. Aber ausgerechnet am Tag der geplanten Hochzeit mit | |
dem treuen Laca kommt es zum großen Showdown … | |
Janáček vertonte mit „Jenůfa“ ein Theaterstück der Autorin Gabriela | |
Preissová und übernahm die Dialoge in gekürzter Form in sein Libretto. Das | |
machte damals praktisch niemand; Anfang des 19. Jahrhunderts mussten | |
Opernlibretti sich noch reimen. Doch Janáček hatte etwas ganz anderes mit | |
dem Text vor, war er doch ein Komponist, der es sich, besessen von der | |
melodischen Qualität sprachlicher Äußerungen, zur Aufgabe gemacht hatte, | |
die tschechische Sprache in Musik zu verwandeln. | |
## Die musikalische Leitung übernimmt Simon Rattle | |
Seine Opern sind durchkomponierte musikalische Dramen, deren Dialoge | |
dadurch an psychologischer Eindringlichkeit gewinnen, dass sie nicht | |
gesprochen, sondern unter Anverwandlung der ursprünglichen Sprachmelodie | |
gesungen werden. Vor allem verselbstständigen sich aus den Dialogen heraus | |
unablässig melodische, aus der Sprache gewonnene Motive, die im | |
Orchesterpart aufgenommen und wiederholt sequenziert werden, wodurch die | |
große Bedeutung mancher Worte regelrecht physisch erfahrbar wird. | |
Alldem kann ein Bildschirmstream nichts anhaben, wenn die Ausführenden | |
wissen, was sie tun. Und wenn einer es weiß, dann ist es [2][Simon Rattle, | |
unter dessen Leitung] die Staatskapelle Janáčeks Partitur so fein | |
artikuliert, dass ihre Schichten mitunter dreidimensional den Raum | |
(verflucht sei das ewige Wohnzimmer; wie schön wäre das in der Oper | |
gewesen!) zu durchziehen scheinen. | |
Besonders effektvoll ist das, wenn noch nachklingende melodische | |
Sprachmotive durchwirkt werden von Anklängen an mährische Volksmusik – | |
ständig wiederkehrende Evokationen einer pastoralen Idylle, die vielleicht | |
nur als Sehnsuchtsvorstellung der Menschen existiert. Die Wirklichkeit, in | |
der sie leben müssen, sieht ganz anders aus. | |
Die SängerInnen wissen das auch und wirken zudem, angefangen bei | |
[3][Camilla Nylund] mit ihrem zugleich weichen und starken (allerdings | |
nicht wirklich mädchenhaften) Sopran als Jenůfa, stimmlich ausgesprochen | |
gut disponiert. Zweifellos ist es für die sängerische Physis nicht nur von | |
Nachteil, mal eine Weile kürzerzutreten. | |
Und es ist nicht die Schuld der Ausführenden, dass die [4][Regie von | |
Damiano Michieletto] unter Pandemiebedingungen nur eingeschränkte | |
Möglichkeiten der Personenführung hat. Ja, kann sein, dass es für diese | |
Oper ganz gut passt, wenn sich die Menschen auf der Bühne nie nahekommen | |
(mal Armlänge zwischen Jenůfa und Laca ist das höchste der Gefühle); aber | |
ohne Ausnahmen von dieser Regel wird sie vom akzeptablen Regieeinfall zum | |
Pandemiekorsett. | |
## Bühneninszenierung ohne Aerosole | |
Überhaupt ist eine Bühneninszenierung in der Fernsehübertragung schwer zu | |
bewerten, wenn die Kamera gern von einem Close-up zum nächsten geht, man | |
nicht weiß, was die anderen Personen gerade tun, und nur zwischendurch mal | |
die ganze Bühne zu sehen ist. Möglicherweise würde es einem aber auch | |
richtig auf die Nerven gehen, permanent den riesigen Eisklotz sehen zu | |
müssen, der vom Bühnenhimmel hängt. | |
Als Symbolik wirkt die allgegenwärtige Vereisung eher aufdringlich und | |
trifft im Grunde auch weder Libretto noch Musik so richtig, die, deutlich | |
differenzierter, keineswegs nur von menschlicher Kälte, sondern auch von | |
Liebe und Vergebung handeln. Kann aber auch sein, dass dieses Bühnenbild im | |
Saal sehr eindrucksvoll wäre; es ist schwer zu sagen. | |
Am Schluss applaudieren sich die Ausführenden gegenseitig. Der Chor hatte | |
verteilt im Parkett sitzen müssen, daher gibt es immerhin zwei Seiten mit | |
Menschen. Dabei erlaubt die Kamera ganz kurz einen etwas weiteren Blick in | |
den Saal, dessen extra hoher Nachhallraum oben vor Leere gähnt. Bestimmt | |
hätten doch in den oberen Rängen noch ein paar Dutzend ZuschauerInnen Platz | |
finden können, ohne mit ihren Aerosolen jemandem zu nahe zu kommen. | |
15 Feb 2021 | |
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## AUTOREN | |
Katharina Granzin | |
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