| # taz.de -- Abhängigkeit von Alkohol: Das Problem der anderen | |
| > Alkoholsucht ist etwas für Kurzgeschichten und Dokus – dachte ich lange. | |
| > Bis die negativen Folgen von Alkohol mich selbst trafen. | |
| Bild: Für viele gehört das Glas Wein zum Feierabend-Ritual dazu | |
| Neulich hörte ich bei einer Onlinediskussion zum Thema [1][Lockdown] zu. | |
| Einer der Diskutierenden, ein Journalist, kam auf Alkohol zu sprechen. Er | |
| schätze Alkohol in diesen Zeiten sehr. Schließlich könne man Alkohol gut | |
| einsetzen, um zu entspannen. Niemand widersprach. | |
| Warum auch? Alkohol ist was Feines. Negative Folgen von Alkohol? Klar, gibt | |
| es. Aber die treffen ältere Männer, die ein trauriges Leben haben, die | |
| verfallen halt dem Alkohol, die haben nichts anderes. Bedauernswert. Mit | |
| dieser Hybris bin ich durchs Leben gegangen – bis die negativen Folgen von | |
| Alkohol mich selbst trafen. Nicht, weil ich viel trank. Sondern weil der | |
| Mann, mit dem ich zusammen war, es tat. | |
| Er sah ganz normal aus, ging normal arbeiten, war sogar ziemlich | |
| erfolgreich. Wenn wir abends Wein tranken, füllte er sich ein paarmal öfter | |
| nach als ich. Wenn wir mit Freund*innen ausgingen, war er gesellig und | |
| lustig. Egal, wie viel er am Abend getrunken hatte, am nächsten Morgen | |
| stand er früh auf und ging zur Arbeit. | |
| Doch irgendwann fing die Unberechenbarkeit an. Die Willkür in der Laune. | |
| War ich heute die perfekte Freundin, machte ich am nächsten Tag alles | |
| falsch. War heute ein wunderschöner Tag, stimmte am nächsten nichts mehr. | |
| Von Tag zu Tag verstand ich weniger. Ich stellte meine Wahrnehmung in | |
| Frage. Ich stellte mich in Frage. Ich wollte, dass es ihm gut ging, aber | |
| verstand nicht, dass er vor einer inneren Wunde davonlief, die zu einem | |
| Abgrund für uns beide wurde. Ich wollte helfen, wusste nicht, wie. Ich | |
| fühlte mich schuldig. Ich verlor mich. | |
| ## Das Lügen wird einem leicht gemacht | |
| Menschen, die von Alkohol abhängig sind, bauen eine Welt aus Lügen auf, um | |
| weiterzuleben. Sie verletzen Menschen und trinken dann noch mehr, um zu | |
| vergessen, dass sie Menschen verletzt haben. Sie lügen sich selbst an, aus | |
| Angst, ihren Schmerz sehen zu müssen. Sie lügen andere an. Sie | |
| „funktionieren“. In einer Gesellschaft, in der Alkohol so akzeptiert, | |
| [2][ja, gefeiert ist], wird das Lügen leicht gemacht. | |
| Ich wusste nicht, dass er Alkoholiker war. Alkoholiker*innen waren | |
| für mich die anderen. Nicht wir, in unserer Welt der akademisch Gebildeten | |
| und Wohlhabenden, die über alles Bescheid wissen. In unserer Welt, in der | |
| wir Alkoholismus aus Kurzgeschichten kennen oder aus Dokus, die uns | |
| betroffen machen. Ein Irrtum. Ich kenne heute in meinem privaten und | |
| beruflichen Umfeld mehrere „funktionierende“ Alkoholiker*innen. Sie fallen | |
| nicht auf, sie arbeiten in guten Positionen in Zivilgesellschaft, Politik, | |
| Medien. Sie verletzen sich und andere, aber sie gestatten sich keine Hilfe | |
| – sie „funktionieren“ ja. | |
| Jede dritte Gewalttat in Deutschland wird unter Alkoholeinfluss verübt; in | |
| Beziehungen wird deutlich mehr Gewalt verübt, wenn der Mann Alkoholiker | |
| ist, als wenn er nicht trinkt. Ich kann und will mir kaum vorstellen, was | |
| es mit Kindern macht, wie es ihr Leben verändert, wenn sie mit einem | |
| Elternteil aufwachsen, das da zu sein scheint, aber nicht da ist. | |
| Wir wissen das alles. Aber wir ändern nichts. | |
| 1 Feb 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Gilda Sahebi | |
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