# taz.de -- Femizide in Italien: Sieben Tage, sieben Frauenmorde | |
> Im Januar 2020 wurden in Italien an sieben Tagen sieben Frauen ermordet | |
> aufgefunden. Unsere Autorin hat sich auf Spurensuche begeben. | |
Bild: Am Weltfrauentag 2020 demonstrierten die Mitglieder von „Non una di men… | |
Montag, 27. Januar 2020: Dass es sich um einen gewaltsamen Mord handelt, | |
davon sind die Ermittler überzeugt, als sie die Leiche der zwei Tage vorher | |
verschwundenen Francesca Fantoni sehen. Die Würgespuren am Hals. Die | |
Blutergüsse am ganzen Körper. Die Autopsie stellt später eine | |
Vergewaltigung fest. Die Frau, die man in ihrem Heimatort Bedizzole tötete, | |
einer rund 12.000 Einwohner zählenden Gemeinde zehn Kilometer vom Gardasee | |
entfernt, wurde 39 Jahre alt. | |
Mittwoch, 29. Januar 2020: Am Abend stoßen Polizisten in einem Haus in der | |
Via Calipso in Mazara del Vallo im Osten Siziliens auf Blutspuren. In der | |
Küche, im Bad, im Wohnzimmer. Im Schlafzimmer liegt Rosalia Garofalo, die | |
wenige Monate später ihren 54. Geburtstag gefeiert hätte, reglos auf dem | |
Bett. „Der Körper war ein Mosaik aus Blutergüssen und Schwellungen. Das | |
Gesicht aufgedunsen und entstellt“, wird der leitende Ermittler später | |
sagen. Es ist der fünfte Frauenmord, zu dem er im Laufe seines Berufslebens | |
gerufen wird. Noch nie zuvor hat er etwas Vergleichbares gesehen. | |
Donnerstag, 30. Januar 2020: In Vierschach, einem Ort in Südtirol kurz vor | |
der österreichischen Grenze, finden die Ermittler am Vormittag in einem | |
Apartment im zweiten Stock eines Hauses in der Angerstraße den leblosen | |
Körper der 28 Jahre alten Fatima Zeeshan. Die Pakistanerin war im achten | |
Monat schwanger, ihr Körper weist zahlreiche blutunterlaufene Stellen auf. | |
Die Obduktion ergibt in den Tagen darauf, dass die Frau mit Füßen getreten, | |
mit Fausthieben geschlagen und schließlich erstickt wurde. | |
Donnerstag, 30. Januar 2020: Kurz vor Mitternacht hören Anwohner der Via | |
Santa Maria Annunziata in Mussomeli, einer Gemeinde im Zentrum von | |
Sizilien, fünf Schüsse. Kurz darauf weitere fünf. Wenig später einen | |
letzten. Es hätte so geklungen, als ob Fensterläden oder Türen gegen die | |
Wand schlagen würden, wird ein Nachbar am Tag darauf sagen. In Wahrheit | |
wurden gerade zwei Frauen erschossen: Rosalia Mifsud, 48, und ihre Tochter | |
Monica Diliberto, 27. | |
## Ein ganz normales Paar | |
Freitag, 31. Januar 2020: Zwischen ein und zwei Uhr morgens finden | |
Carabinieri in der Peripherie der Küstenstadt Alghero auf Sardinien unweit | |
eines Parkplatzgeländes eine weibliche Leiche. Der Verwesungsprozess ist | |
bereits fortgeschritten. Speranza Ponti, vor 50 Jahren in der knapp 3.000 | |
Einwohner zählenden Gemeinde Uri auf Sardinien geboren, wurde seit Anfang | |
Dezember 2019 vermisst. | |
Freitag, 31. Januar 2020: Am Morgen verabschiedet sich in der Via Furlani | |
in Genua, der Hauptstadt Liguriens, ein Mann von seiner Haushälterin in der | |
Annahme, sie bei seiner Rückkehr nicht mehr anzutreffen. Als er gegen 18:30 | |
Uhr zurückkehrt, stößt er beim Betreten seiner Wohnung auf die ermordete | |
Frau. Neben ihr liegt in einer Blutlache ein schwerverletzter Mann. Die | |
Notärzte können nur mehr den Tod der in Albanien geborenen Laureta Zyberi, | |
43, feststellen. Aber sie retten den Schwerverletzten. Unweit von ihm liegt | |
das Messer, mit dem er zehnmal auf die Frau eingestochen und sich selbst | |
schwere Stichwunden im Unterleib zugefügt hat. Eduart Zyberi, 54, von Beruf | |
Maurer, wird kurz darauf im Krankenhaus San Martino notversorgt und | |
operiert. | |
Noch im Krankenhausbett gesteht Zyberi die Tat an der Frau, mit der er 20 | |
Jahre lang verheiratet war. Es stellt sich heraus, dass er seine Frau eines | |
Verhältnisses mit einem anderen Mann, vermutlich mit ihrem Arbeitgeber, | |
verdächtigt hat. Zyberis Scooter steht wie so oft auch an jenem Tag in der | |
Straße unterhalb des Arbeitsplatzes seiner Frau. Er kennt den Weg gut, er | |
hat Laureta oft dort abgeholt. Die Nachricht von der Bluttat ist für | |
Bekannte und Verwandte, besonders für die zwei erwachsenen Söhne des seit | |
1996 in Italien lebenden Paares, ein Schock. Niemand von ihnen weiß | |
gegenüber der Polizei von Streitereien oder einer Trennung zu berichten. | |
Die Zyberis, sie waren nach außen hin ein ganz normales Paar. | |
Vergewaltigt, zu Tode getreten und geprügelt. Erwürgt, erstochen und | |
erschossen. Sieben tote Frauen in sieben Tagen, verteilt von Nord bis Süd | |
über das ganze Land. Statistisch gesehen war die letzte Januarwoche 2020 | |
besonders gravierend, durchschnittlich wird in Italien circa alle drei Tage | |
eine Frau ermordet. Und die Gewalt an Frauen, sie nimmt nicht ab, im | |
Gegenteil. | |
2018 war laut dem EURES-Report „Frauenmord und geschlechtsspezifische | |
Gewalt“ der Anteil der weiblichen Opfer an der Gesamtzahl der verübten | |
Morde in Italien so hoch wie nie zuvor: 40,3 Prozent, in Zahlen sind das: | |
142 ermordete Frauen. Im selben Jahr stiegen auch die Anzeigen wegen | |
Missbrauchs in der Familie (+ 11,7 Prozent), sexueller Gewalt (+ 5,4 | |
Prozent) und Stalkings (+ 4,4 Prozent). Von der Öffentlichkeit werden die | |
Taten kaum wahrgenommen. | |
Was bedeutet es, in Italien eine Frau zu sein? Dazu hat die Autorin dieses | |
Textes gemeinsam mit der Fotografin Franziska Gilli – beide sind im Land in | |
einer deutschen Community aufgewachsen – über mehrere Jahre hinweg | |
recherchiert. In ihrem Buch „Hure oder Heilige – Frau sein in Italien“, a… | |
dem auch dieser Text in Teilen stammt, begleiten sie feministische | |
Aktivistinnen und Nonnen der unbefleckten Empfängnis. Sie treffen Showgirls | |
aus dem Fernsehen und junge Frauen, die ihnen nacheifern. Und sie berichten | |
über Gewalt, die Frauen das Leben kostet. | |
Alghero, Sardinien: Tage bevor Speranza Pontis halb verwester Körper | |
gefunden wird, postet ihr Partner Massimiliano Farci, 53, mit dem sie eine | |
Pizzeria führte, mehrere Nachrichten auf Facebook. Er richtet sie alle an | |
seine Freundin, deren Name übersetzt „Hoffnung“ bedeutet: „Im Leben wird | |
sich alles regeln, niemand wird dich verurteilen, viele lieben dich, viele | |
hoffen auf dich, viele glauben an dich, besonders ich, was auch immer das | |
Problem ist. Wir werden darüber reden, auch wenn wir schon viel geredet | |
haben, wir werden nie aufhören, darüber zu reden. Aber ich bitte dich, lass | |
uns darüber reden. Ich habe immer an die Hoffnung geglaubt.“ | |
Die Carabinieri finden die Tote durch Hinweise von Farci nach einem | |
stundenlangen Verhör. Der in der Nähe von Cagliari geborene Mann sagt aus, | |
er habe seine Lebensgefährtin am 6. Dezember in der gemeinsamen Wohnung in | |
der Vittorio-Emanuele-Straße in Alghero tot aufgefunden. Sie habe an | |
Depressionen gelitten und sich das Leben genommen. Aus Angst, verdächtigt | |
zu werden, habe er sie an einen ihrer Lieblingsorte am Rande der Stadt | |
gebracht, von wo man das Meer sehen könne. | |
Seit 2017 befindet sich Farci in Halbfreiheit. 1999 gestand er den Mord an | |
einem Mann. Die Ermittler glauben seinen widersprüchlichen Aussagen auch | |
dieses Mal nicht und verhaften ihn wegen des Verdachts auf Mord und | |
Unterschlagung einer Leiche sowie Raub. Mit der EC-Karte seiner toten | |
Partnerin hat Farci kurz vorher mehrere Tausend Euro abgehoben. Lokalen | |
Medien zufolge verfügte Ponti nach dem Verkauf einer Wohnung und einer | |
eingelösten Versicherung über eine Geldsumme, an der Farci interessiert | |
war. | |
Sizilien: Rosalia Mifsud und Michele Noto aus Mussomeli sind ein ungleiches | |
Paar, von dem nur wenige wissen. Sie ist mehr als 20 Jahre älter als | |
Michele, älter als seine Mutter. Noto besitzt einen Waffenschein, von Zeit | |
zu Zeit arbeitet er in einem Bestattungsinstitut, er hält einen Hund der | |
Rasse Corso Italiano, trainiert im Fitnessstudio. Nachbarn beschreiben ihn | |
als „ruhigen jungen Mann“. Als Rosalia die Beziehung, mit der ihre Tochter | |
Monica nicht einverstanden ist, beendet, will Michele Noto das nicht | |
akzeptieren. | |
Vor den tödlichen Schüssen, so wird ein Anwohner in einem Video den | |
Journalisten später erzählen, erledigt Rosalia gemeinsam mit einer | |
Nachbarin in deren Wohnung Hausarbeiten. Gegen 23 Uhr kehrt sie nach Hause | |
zurück. Ihr Exfreund Michele Noto, der in derselben Straße wohnt, betritt | |
ihr Haus kurz darauf über die weiße Eingangstür, die keine Spuren von | |
Gewaltanwendung aufweist. Zuerst schießt er Rosalia in den Mund, dann | |
richtet er ihre Tochter hin. Mit einem letzten Schuss tötet er sich selbst. | |
Mutter und Tochter tragen ihr Haar lockig, auf Bildern sehen sie aus wie | |
Schwestern. Die letzte Nachricht, die von ihnen nach außen dringt, wird | |
über Whatsapp verschickt. Als Monica auf eine Nachricht ihres Freundes | |
nicht mehr antwortet, fährt er gemeinsam mit ihrem Bruder und Rosalias Sohn | |
in deren Wohnung. Dort finden sie drei Leichen. Die Mutter in ihrem | |
Schlafzimmer, die Tochter nicht weit von ihr entfernt. Und Noto. | |
Auch wenn oft angenommen wird, im Süden Italiens sei ein konservativeres | |
Rollenverständnis verbreiteter als im Norden, so ist den Zahlen zufolge | |
geschlechtsspezifische Gewalt ein gesamtstaatliches Problem. Im Norden sind | |
die Zahlen der Frauenmorde am höchsten, was daran liegt, dass dort mehr | |
Menschen leben. Statistisch gesehen kam im Jahr 2018 in der Lombardei wie | |
in Sizilien eine ermordete Frau auf 500.000 Einwohner. Egal ob Mailand oder | |
Palermo, das Frauenbild in der italienischen Gesellschaft kann als äußerst | |
widersprüchlich bezeichnet werden: | |
Lasziv tanzen leicht bekleidete Showgirls seit mittlerweile 65 Jahren | |
durchs Hauptabendprogramm. Tragen freizügige Kostüme, starkes Make-up, eine | |
Ausnahme ist, wer keine schönheitsmedizinischen Eingriffe hat machen | |
lassen. Statt zu sprechen, lächeln sie bloß. Das Bild der stummen Schönen | |
wird in privaten Medien wie jenen der Familie Berlusconi rauf und runter | |
gespielt, aber auch im öffentlich-rechtlichen Fernsehen. | |
Sexistische Stereotype sind in Italien so festgefahren wie kaum irgendwo in | |
Europa, während die Figur der Mutter als Ikone verehrt wird und sich manche | |
Dogmen noch aus der Zeit des Faschismus halten. „In unserem Staat darf die | |
Frau keine Rolle spielen“, sagte Benito Mussolini einst. Fast hundert Jahre | |
später sind Frauen in Italien überdurchschnittlich gut ausgebildet, aber | |
unterdurchschnittlich oft beschäftigt. Der gesellschaftliche Druck auf sie | |
ist in vielen Bereichen enorm groß. | |
Obwohl sich in Italien mit [1][„Non una di meno“] 2016 eine der lautesten | |
feministischen Bewegungen Europas formte, verhallte die #MeToo-Debatte | |
ergebnislos, das Land der Kavaliere und Charmeure schien nicht bereit zu | |
sein für diese Auseinandersetzung. Im Gegenteil, patriarchale Strukturen | |
wurden dadurch noch verhärtet. | |
Asia Argento, die Schauspielerin, die für die Vorwürfe der sexuellen | |
Belästigung gegen Harvey Weinstein im Ausland Solidarität erhielt, erntete | |
zu Hause in Italien Beschimpfungen und Gewaltandrohungen. Immer offener | |
schüren Politiker der neuen Rechten wie der ehemalige Innenminister Matteo | |
Salvini ihren Frauenhass, etwa wenn er twittert: „Ich schäme mich übrigens | |
für diesen Sänger, der Frauen mit Huren vergleicht, die vergewaltigt, | |
gekidnappt und wie Objekte behandelt werden. Das machst du bei dir zu | |
Hause, nicht im Öffentlich-Rechtlichen und auch noch im Namen der | |
italienischen Musik.“ | |
Eine der massivsten Prägungen erfuhr das Frauenbild in Italien aber von | |
religiöser Seite: durch die katholische Kirche und den Vatikan, der sich | |
seit jeher stark in gesellschaftliche wie politische Belange einmischt. | |
Zwei zentrale Frauenrollen des katholischen Glaubens beeinflussen Italien | |
seit zwei Jahrtausenden. Sie könnten nicht unterschiedlicher sein und doch | |
bedingen sie sich: die Hure und die Heilige, Maria Magdalena und die | |
Jungfrau Maria. Zwischen der einen und der anderen können sich Frauen | |
entscheiden, so scheint es. Die Kritik daran ist nicht neu – Feministinnen | |
wehren sich schon lange dagegen –, aber sie ist noch immer aktuell. | |
Im lombardischen Bedizzole ist Francesca Fantoni mit den kurzen dunklen | |
Haaren den meisten unter ihrem Spitznamen „Kekka“ bekannt. Da sie an einer | |
leichten psychischen Störung leidet, sind die Eltern besorgt, als sie an | |
jenem Samstagabend nicht nach Hause kommt. Sie informieren die Polizei und | |
starten über die sozialen Medien eine Suchaktion. Aufnahmen einer | |
Überwachungskamera zeigen sie in einer Bar. Gegen 20:30 Uhr nähert sich ihr | |
Andrea Pavarini, 32 Jahre alt, aus Bedizzole wie sie, von Beruf Gärtner | |
und Landwirt. Sie scheint nicht erfreut darüber zu sein, verlässt aber kurz | |
darauf zusammen mit ihm das Lokal. Am selben Abend taucht Andrea Pavarini | |
zu später Stunde in einer anderen Bar von Bedizzole auf – ohne Francesca | |
Fantoni. Sein Pullover ist befleckt mit Blut und Schlamm. | |
## Problematisch und aufdringlich | |
Am Sonntag wird Francescas kaputtes Mobiltelefon auf dem Stadtplatz | |
entdeckt. Am Montagvormittag finden zwei Carabinieri im Stadtpark von | |
Bedizzole zwischen Bäumen und Büschen ihre halbnackte Leiche. Tage später | |
gesteht Pavarini den Mord. Dorfbewohner beschreiben ihn als problematisch, | |
aufdringlich und unfähig, seine Triebe zu kontrollieren. In der | |
Vergangenheit wurde er der sexuellen Belästigung beschuldigt. Gegen ihn | |
wird wegen Totschlags ermittelt. Es besteht die Gefahr der Flucht und der | |
Tatwiederholung. | |
Vierschach, Südtirol: Nachbarn sagen, sie hätten die junge Frau, die | |
gemeinsam mit ihrem 38 Jahre alten Ehemann Mustafa Zeeshan seit knapp einem | |
Jahr in der Wohnung lebte, kaum wahrgenommen und höchstens einmal auf dem | |
Balkon sitzen gesehen. Das Haus habe Fatima Zeeshan nie verlassen. Private | |
Hochzeitsbilder zeigen eine zarte junge Frau mit rot geschminkten Lippen | |
und großen Ohrringen unter ihrem Brautschleier. Keine 500 Einwohner zählt | |
die zu Innichen gehörende Ortschaft. Es gibt eine Kirche, Skilifte und ein | |
an der Hauptstraße gelegenes Restaurant mit Pizzeria, in dem Mustafa seit | |
vier Jahren arbeitet. Zuerst als Tellerwäscher, dann als Pizzabäcker. | |
Es ist Mustafa Zeeshan selbst, der die Polizei über den Tod seiner | |
hochschwangeren Frau informiert. Der zudem zuvor hektisch Arbeitskollegen | |
und Nachbarn anruft und an jenem Vormittag nicht zur Arbeit erscheint. Noch | |
am selben Tag verhören die Ermittler ihn und seine Nachbarn und | |
Arbeitskollegen mit Hilfe von Dolmetschern bis spät in den Abend hinein. | |
Deren Aussagen und sein Schweigen belasten Zeeshan schwer, er gilt als | |
dringend tatverdächtig. | |
Stunden später wird er ins Gefängnis überstellt. Seine Pflichtverteidigerin | |
sagt, ihr Mandant sei vor Schock weder imstande zu sprechen noch zu gehen. | |
Mustafa Zeeshan wird des Mehrfachmordes beschuldigt – drei Wochen später | |
hätte Fatima ihr erstes Kind zur Welt gebracht. Ihrer Schwester soll sie | |
vor dem Tod erzählt haben, dass ihr Ehemann sie manchmal schlage und es | |
Probleme mit seiner Familie in Pakistan gebe, weil er ihr seit seiner | |
Heirat nur noch halb so viel Geld schicken könne. Ehemalige Arbeitskollegen | |
sagen, Mustafa habe sich sehr auf das Baby gefreut. | |
Laut dem EURES-Report verwendeten die meisten Täter Stichwaffen wie ein | |
Messer, gefolgt von Schusswaffen und den eigenen Händen, mit denen sie die | |
Frauen erwürgt oder zu Tode geprügelt haben. Rund ein Fünftel der Männer | |
war geständig, ein Viertel nahm sich nach dem Mord das Leben oder versuchte | |
es. In 28 Prozent der Fälle gingen dem Femizid viele gewaltvolle Jahre | |
voraus. | |
Zweimal zeigt Rosalia Garofalo 2017 ihren Ehemann, mit dem sie seit 30 | |
Jahren verheiratet ist und einen 27 Jahre alten Sohn hat, wegen | |
Misshandlung an. Eine Zeit lang lebt sie in einem Frauenhaus. Im Oktober | |
2019 erstattet sie zum dritten Mal Anzeige, zieht sie aber bald darauf | |
wieder zurück und versichert, nie wieder zu Vincenzo Frasillo | |
zurückzukehren. Als der 53 Jahre alte Sizilianer, arbeitslos und | |
vorbestraft, an jenem Abend die Notrufnummer 118 wählt, gibt er an, seine | |
Frau sei erkrankt und nun tot. Das Sanitätspersonal alarmiert die Polizei. | |
Bei der Befragung soll er lokalen Medien zufolge immer wiederholt haben: | |
„Meine Frau hat mich betrogen. Aber ich habe sie nicht getötet, ich habe | |
sie nur am Montag geschlagen.“ Vincenzo Frasillo soll seiner Frau angeboten | |
haben, sie ins Krankenhaus zu bringen oder einen Arzt zu holen, was sie | |
verneint habe. Die Untersuchungen des Gerichtsmediziners ergeben, dass | |
Rosalia Garofalo drei Tage lang zu Tode geprügelt wurde. Gegen Frasillo | |
wird Haftbefehl erhoben. | |
Die sieben Frauen wurden auf unterschiedliche Arten getötet, | |
unterschiedliche Hintergründe verbergen sich hinter ihren Geschichten. Zwei | |
von ihnen teilen den Vornamen Rosalia, und allen gemeinsam ist ein Fakt, | |
der auf einen Großteil der Frauenmorde zutrifft: Die Frauen kannten ihre | |
Mörder. In den allermeisten Fällen besaßen sie denselben Wohnungsschlüssel. | |
So wie in der letzten Januarwoche 2020 fanden auch in den Jahren zuvor in | |
Italien die meisten Verbrechen zu Hause statt, hinter verschlossenen Türen. | |
2018 wurden 78 Frauen in Italien, bei einer Gesamtzahl von 60,5 Millionen | |
Einwohnern, durch ihren Ehemann, Lebensgefährten, Expartner getötet. | |
In Deutschland waren es im gleichen Jahr [2][122 Frauen], die durch ihre | |
Partner ums Leben kamen. Im Verhältnis zur Bevölkerungsanzahl ist die Rate | |
in Deutschland damit höher als in Italien. (1:775.641 Einwohner in Italien; | |
1:680.327 Einwohner in Deutschland). Vergleicht man die Femizid-Rate mit | |
dem weiblichen Bevölkerungsanteil, liegt Italien mit seinen Zahlen unter | |
dem europäischen Mittelwert. | |
Am Ende jener Woche Ende Januar 2020 bezeichnet Giovanni Salvi, der | |
Generalstaatsanwalt des italienischen Kassationsgerichts, die Frauenmorde | |
als „nationalen Notstand“. Der in dieser Woche zurückgetretene | |
Ministerpräsident Giuseppe Conte verspricht damals, den im August 2019 in | |
Kraft getretenen „Codice Rosso“, der die Meldungen und Untersuchungen von | |
Verbrechen im Zusammenhang mit häuslicher oder geschlechtsspezifischer | |
Gewalt regelt, wirksamer zu gestalten. Auf Facebook schrieb er: „Gewalt | |
gegen Frauen ist auch ein kulturelles Problem, und deshalb werden wir in | |
den Schulen ansetzen, zwischen Jungen und Mädchen, denn dort muss der | |
Wandel beginnen.“ | |
Vor einem Jahr werden die ermordeten Frauen nach und nach verabschiedet. | |
Bei der Beerdigung von Francesca Fantoni, die vergewaltigt, erstickt und im | |
Park ihrer Heimatstadt entsorgt wurde, fragt der Priester die Trauernden: | |
„Warum nimmt die Gewalt überhand? Warum ist es so leicht zu töten? Man kann | |
nicht sagen, dass diejenigen, die solche Taten begehen, alle geistig | |
gestört wären.“ Der Bürgermeister verordnet eine eintägige Stadttrauer. | |
Unzählige Menschen sind anwesend, als die beiden Mordopfer Rosalia Mifsud | |
und ihre Tochter Monica Diliberto zu Grabe getragen werden. Die Kirche San | |
Giovanni in Mussomeli ist voll, als der Priester sagt: „In diesen Momenten | |
der Ohnmacht kann nur der Glaube Antworten und Trost geben.“ Er vertraut | |
die beiden der Schutzpatronin der Stadt an, der Madonna dei Miracoli, der | |
Muttergottes der Wunder. Am Tag darauf wird der Täter in derselben Kirche | |
beerdigt. | |
## Symbol für die Tränen der Frauen | |
In der zweieinhalb Stunden entfernten Kathedrale von Mazara del Vallo wird | |
die tagelang zu Tode geprügelte Rosalia Garofalo beigesetzt. Ihr Sohn wird | |
während der Trauerfeier von Sanitätern der Notfallmedizin betreut. | |
In Genua wird Laureta Zyberi verabschiedet. | |
Die pakistanische Gemeinschaft in Südtirol will die Leiche von Fatima | |
Zeeshan in die Heimat überführen, aber sie wird zunächst nicht freigegeben. | |
Die Katholische Frauenbewegung von Innichen gedenkt Fatimas und ihres | |
ungeborenen Kindes mit einer Schweigeminute. Zum Gottesdienst am | |
Weltfrauentag stellen die Frauen eine Schale mit Glasperlen auf den Altar, | |
als Symbol für die Tränen von Frauen, die Opfer häuslicher Gewalt sind. Im | |
Mai wird die Leiche schließlich von Mailand nach Pakistan überführt. Die | |
pakistanische Gemeinschaft in Südtirol kommt für die fast 4.000 Euro auf. | |
Die Familie von Speranza Ponti aus Sardinien hat nach Informationen lokaler | |
Medien das von den Franziskanerinnen verfasste Gebet gegen Frauenmord bei | |
der Beerdigung verlesen. Eine Stelle dort lautet: „Du bist sanftmütig, | |
Herr, du bist Schutz: Gib den Frauen die Kraft und den Mut, ihre Sklaverei | |
anzuerkennen und der Unterdrückung zu entkommen. Gib uns den Mut, empört zu | |
sein und uns nicht hinter Gleichgültigkeit zu verstecken, sondern immer und | |
unter allen Umständen zu ihrer Verteidigung, ihrem Schutz und ihrer | |
Unterstützung zu handeln.“ | |
Hinweis: Dieser Text stammt in Teilen aus dem kürzlich bei Edition Raetia | |
erschienenen Buch von Barbara Bachmann und Franziska Gilli: Hure | |
oderHeilige – Frau sein in Italien, 224 Seiten, 24,90 Euro. | |
2 Feb 2021 | |
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[2] https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/aktuelles/presse/pressemitteilungen/gewalt-geg… | |
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Barbara Bachmann | |
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