# taz.de -- Wiederaufbau der Bornplatzsynagoge: Moralischer Leuchtturm | |
> Was die Diskussion um den Neubau der großen Hamburger Synagoge mit der | |
> Abwehr von Antisemitismus zu tun hat. | |
Bild: Wo einst die Synagoge stand: Gedenken zur Pogromnacht am Joseph-Carlebach… | |
Seit einiger Zeit wird nicht nur in Hamburg, sondern landesweit über das | |
Vorhaben gestritten, in Hamburg die von den Nazis zerstörte Synagoge am | |
früheren Bornplatz zu rekonstruieren. Eine große Koalition von SPD, Grünen | |
und CDU hat dafür überraschend kurzfristig 65 Millionen Euro beschafft. | |
Unterstützt durch eine PR-Offensive „Nein zu Antisemitismus – JA zur | |
Bornplatzsynagoge“, eine Abstimmung, eine Plakataktion und die Bild soll | |
der Wiederaufbau durchgesetzt werden. | |
Doch inzwischen haben sich Holocaust-Überlebende wie Esther Bejarano und | |
Peggy Parnass, jüdische Wissenschaftler*innen wie Moshe Zimmerman und | |
Miriam Rürup und zahlreiche nichtjüdische Stimmen kritisch und ablehnend | |
gegen die Pläne geäußert und fordern einen offenen und öffentlichen Dialog. | |
Der aber wird zunehmend aggressiv verweigert. So lässt Bild den | |
konservativen Rabbi der Gemeinde schimpfen: „Wir lassen uns den | |
Wiederaufbau nicht verbieten!“ Und für den Hamburger CDU-Politiker Carsten | |
Ovens sind die Kritiker*innen nichts als eine Gruppe von | |
„Intellektuellen“, die „nicht ganz koscher sind“. | |
Gegen diese Klima-Vergiftung und eine fast schon populistische Kampagne | |
sollen im Folgenden sechs Gründe für einen kritischen Blick auf die | |
Initiative zur Diskussion gestellt werden. | |
## 1. Ja zum Neubau einer Synagoge und eines jüdischen Kulturzentrums und | |
dessen Mitfinanzierung durch den Staat | |
Dass die jüdische Einheitsgemeinde in Hamburg eine neue Synagoge (auch die | |
geplante Rekonstruktion wäre ein Neubau) bauen will, ist nicht nur | |
einsichtig, sondern erfreulich, zeigt es doch die Hoffnung auf eine | |
unangefochtene Zukunft in dieser Stadt. Dass dieses Vorhaben von | |
staatlicher Seite zu großen Teilen mitfinanziert wird, sollte aus zwei | |
Gründen selbstverständlich sein. Zum einen schulden die Hamburger ihren | |
jüdischen Bürger*innen nach den Zerstörungen in der Nazizeit den Neu- | |
oder Wiederaufbau ihrer religiösen und kulturellen Zentren. | |
Zum anderen ist die finanzielle Beteiligung am Erhalt kulturell und | |
architektonisch bedeutsamer Gebäude eine öffentliche Aufgabe und muss | |
staatlich abgesichert werden. So wurde und wird auch der Erhalt | |
christlicher Kirchengebäude mit erheblichen staatlichen Zuwendungen | |
unterstützt, allein für die Renovierung der Hauptkirche St. Jakobi in der | |
Hamburger Innenstadt stehen [1][40,8 Millionen Euro bereit]. Und es stehen | |
auch Entscheidungen darüber an, wie islamische Glaubensgemeinschaften, die | |
sich von finanzieller und damit auch ideologischer Abhängigkeit vom Iran | |
und von der Türkei freihalten und darum in Garagen oder Lagerhallen, also | |
weitgehender Unsichtbarkeit beheimatet sind, darin unterstützt werden | |
können, würdige Orte ihrer Religionsausübung zu erhalten. | |
Aus diesen beiden Gründen steht die Stadt Hamburg in der Mitverantwortung | |
für den Bau oder den Erhalt von jüdischen Zentren in Hamburg, und es ist zu | |
begrüßen, dass sie diese Verantwortung wahrnehmen möchte. | |
## 2. Ja zum Fortbestand und zur Weiterentwicklung des Erinnerungsortes am | |
Joseph-Carlebach-Platz | |
Die Argumente für den Neubau der Synagoge am Platz der alten, von den | |
Hamburger Nazis zerstörten Synagoge sind bekannt und nicht von der Hand zu | |
weisen. Es soll demonstrativ gezeigt werden, dass es wieder jüdische | |
Traditionen und jüdisches Leben in Hamburg gibt. Doch genau da wird es | |
problematisch: Die Bedeutung und Wirksamkeit des religiösen Lebens in einer | |
Synagoge (einer Kirche, einer Moschee) hängt nicht von deren Lage ab. Es | |
geht bei der Entscheidung für den Joseph-Carlebach-Platz also vor allem um | |
eine symbolische Demonstration. Doch dieses Symbol hätte einen hohen | |
erinnerungskulturellen Preis. | |
1988, zum 50. Jahrestag der Zerstörung der Bornplatzsynagoge, wurde deren | |
ehemalige Fläche mit einem Kunstwerk von Margrit Kahl als Erinnerungsort | |
gestaltet und wird seitdem auf unterschiedliche Weise auch von der | |
Jüdischen Gemeinde und anderen Initiativen dafür genutzt. Ein Jahr später | |
wurde die Fläche in Erinnerung an den letzten Rabbiner der Synagoge [2][in | |
Joseph-Carlebach-Platz umbenannt]. Zum Erinnerungsort gehört auch der von | |
den Nazis erbaute Bunker, der aber noch von der Universität genutzt wird. | |
Der Carlebach-Platz ist der einzige Ort in Hamburg, der auf sichtbare Weise | |
an die Pogromnacht und den mit ihr vorbereiteten Zivilisationsbruch des | |
Holocaust erinnert. Seine Herstellung verdankt sich – typisch für Hamburgs | |
Erinnerungskultur – nicht den oder einigen Parteien der Bürgerschaft, also | |
staatlicher Initiative, sondern dem Engagement vor allem studentischer | |
Gruppen. | |
Die Gestaltung und Bedeutung dieses Erinnerungsortes am | |
Joseph-Carlebach-Platz ist ausführlich und sorgfältig dargestellt in einem | |
Votum mehrerer Hamburger Bürger*innen, darunter Ursula Büttner, Gert Kähler | |
und Moshe Zimmermann. Die Tatsache, dass das Mahnmal im Alltag oft | |
übersehen wird, spricht nicht für dessen Verschwinden, sondern ganz im | |
Gegenteil für seine seit Langem versäumte Weiterentwicklung. | |
Zu diskutieren wäre in diesem Zusammenhang, ob nicht der Bunker zu einem | |
Dokumentationsort für die Pogromnacht 1938 gestaltet werden könnte, wobei | |
auch die verantwortlichen und beteiligten Hamburger Täter*innen nam- und | |
sichtbar gemacht werden müssten. Noch immer erscheinen die Verantwortlichen | |
für Pogrom und Holocaust als eine fremde böse Macht, die über das gute | |
Hamburg hergefallen wäre. | |
Dass dem nicht so war, sondern dass und wie sich die „gutbürgerlichen“ | |
Nachbarn am Pogrom und den späteren Deportationen im Grindelviertel und in | |
der Universität bereicherten und beteiligten, könnte eindrucksvoll im | |
Bunker dokumentiert werden. Ebenso die wenigen, aber darum wichtigen | |
Beispiele gelebter Solidarität mit den verfolgten jüdischen | |
Nachbar*innen und Kolleg*innen. Die Frage, warum sich die gute | |
Nachbarschaft mit den Menschen anderer Religionen und Kulturen als brüchig | |
erwiesen hat, verstört und ist gerade darum aktuell. | |
Die mögliche Zerstörung des Gedenkortes am Joseph-Carlebach-Platz – und | |
nichts anderes würde seine Überbauung bedeuten – wäre ein alarmierender | |
Rückschritt. Denn dann bliebe im Zentrum der Stadt als sichtbarer | |
Dokumentationsort für Judenverfolgung, Schoah und Krieg nur noch das | |
Mahnmal St. Nikolai. Das allerdings erinnert monumental und eindrücklich | |
vor allem an die im Feuersturm getöteten Hamburger und Hamburgerinnen und | |
die Zerstörungen großer Teile der Stadt. | |
Hier hat man sinnvollerweise nach dem Krieg auf eine Rekonstruktion der | |
durch die britischen Bombenangriffe fast völlig zerstörten Kirche | |
verzichtet und stattdessen die Reste und vor allem den weithin sichtbaren | |
Turm als Mahnmal gestaltet mit einer inzwischen historisch aufgeklärten | |
Dokumentation. Das Mahnmal wurde übrigens auch mit Millionensummen | |
restauriert. Soll es zukünftig für die deportierten und ermordeten | |
Hamburger Juden und Jüdinnen, Sinti und Roma und anderer von den Nazis | |
verfolgter Gruppen nur noch die kleinen Stolpersteine geben? | |
## 3. Eine Rekonstruktion der Synagoge am alten Platz macht Eindruck – und | |
täuscht doch | |
Der Neuaufbau der großen Synagoge von 1906 am alten Platz würde das | |
Grindelviertel wieder im alten Glanz erstrahlen lassen, also so, als ob es | |
die Zerstörung jüdischen Lebens nicht gegeben hätte. Alles soll so schön | |
sein wie früher. Darum wird auch in den jüdischen Gemeinschaften und unter | |
den nicht religiös verorteten jüdischen Bürgerinnen und Bürgern in Hamburg | |
über die Absichten und die Wirkung einer Rekonstruktion gestritten. Auf | |
denkwürdige Weise einhellig haben sich dagegen die Regierungsparteien SPD | |
und Grüne festgelegt. | |
Unabhängig von der Debatte um die Bornplatzsynagoge gibt es schon seit | |
Längerem deutschlandweit heftige Kontroversen um die Rekonstruktionen | |
bedeutender historischer Gebäude wie des Stadtschlosses in Berlin und der | |
Garnisonskirche in Potsdam. Auch wenn sie im Hintergrund eine Rolle | |
spielen, sollten sie die Hamburger Debatte nicht belasten. Doch Daniel | |
Sheffer, Initiator und Sprecher der Hamburger Initiative für die | |
Bornplatzsynagoge, hat sich hier [3][festgelegt]: „Was die Dresdner | |
Frauenkirche für Deutschland wurde, dass kann auch die Bornplatzsynagoge | |
für dieses Land sein. Ein Ort, der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft | |
vereint.“ | |
Diese Referenz ist bedenklich. Denn die Dresdener Frauenkirche war in der | |
Nazizeit nach Vertreibung des Nazi-kritischen Pastors und Superintendenten | |
Hugo Hahn seit 1937 Ort faschistischer und antisemitischer „Verkündigung“, | |
während in der Pogromnacht 1939 die nahe gelegene Synagoge zerstört wurde. | |
Die Erinnerung an diese antijüdische Bedeutung der Kirche im Zentrum | |
Dresdens wurde mit der 2005 abgeschlossenen [4][Rekonstruktion] einfach | |
überbaut und findet sich rudimentär nur im Kellergewölbe. | |
Diese Täuschung, als habe es die Nazi-Herrschaft nicht gegeben und als | |
könne man wieder an die Zeiten davor anknüpfen, macht verständlich, dass | |
die neue alte Frauenkirche nicht nur als Ort für Friedensgebete dient, | |
sondern auch den Pegidas und anderen Nazi-affinen Gruppen als Hintergrund | |
für ihre Aufmärsche. Was also macht die Dresdner Rekonstruktion zum Vorbild | |
für die Hamburger Synagogen-Rekonstruktion? Warum orientiert sich die | |
Bornplatz-Initiative nicht eher an der Entscheidung der jüdischen Gemeinde | |
in Dresden, statt einer Rekonstruktion ihrer zerstörten Synagoge eine neue | |
zu errichten, so wie es unter anderem auch in Mainz und Konstanz | |
entschieden wurde? | |
In diesem Zusammenhang könnte auch die evangelische Kirche in Hamburg sehr | |
praktisch unterstützend tätig werden, indem sie in ihre Überlegungen über | |
die Zukunft ihres eigenen Immobilienbestands die Suche nach einem | |
repräsentativen Standort für eine Synagoge verbindlich einbezieht. Eine | |
solche Umwandlung wäre zwar außergewöhnlich, aber nicht ungewöhnlich. Es | |
gibt schon beachtliche [5][Beispiele] in Speyer, Köln, Bielefeld und | |
Cottbus. | |
## 4. „Wir brauchen euch“– die Motive der Unterstützer für die | |
Bornplatzsynagoge sind fragwürdig | |
Selten war es so einfach, seine Unterstützung für jüdische Gemeinschaften | |
und jüdisches Leben zum Ausdruck zu bringen. Auf der Website der | |
[6][Kampagne] genügt ein Klick bei „Drück hier für die Bornplatzsynagoge�… | |
Einige Dutzend Politiker*innen, vor allem der Grünen und der SPD, | |
Unternehmer*innen, Repräsentant*innen von Sport, Kirchen und | |
öffentlichen Einrichtungen werben für diesen Klick. Die Begründungen sind | |
kurz und allgemein und könnten für jedes Projekt stehen, dass irgendwie mit | |
jüdischem Leben zu tun hat. | |
Zu den prominenten Unterzeichnern gehört auch der Musiker Campino, | |
Frontmann der „Toten Hosen“: „Jüdisches Leben ist ein wichtiger Bestandt… | |
unserer Gesellschaft. Ohne die jüdischen Gemeinden wäre Deutschland nicht | |
komplett. Wir brauchen euch!“ Dieses Argument offenbart ein wesentliches | |
Motiv der gut gemeinten Unterstützung der Kampagne. Wir (?) brauchen euch, | |
damit Deutschland wieder „komplett“ ist. Die jüdischen Gemeinschaften, die | |
Jüdinnen und Juden werden gebraucht und benutzt für das deutsche | |
Integrations- und Gedächtnistheater, wie es unter anderem von dem jüdischen | |
Dichter und Autor Max Czollek [7][analysiert und attackiert wird]. | |
Noch direkter als Campino begründet die grüne Bürgerschaftsabgeordnete | |
Filiz Demirel – ausgerechnet am 9. November 2020 – [8][ihr Eintreten für | |
die Bornplatzsynagoge]: „Seit Jahrhunderten gehört das jüdische Leben | |
untrennbar zu unserer Gesellschaft. Es ist wichtig, dass wir darüber nicht | |
nur im Kontext von antisemitischen Anschlägen oder Vorfällen sprechen, | |
sondern auch endlich in einem ausschließlich positiven Kontext.“ | |
Untrennbar seit Jahrhunderten? Die grüne Abgeordnete weiß natürlich um | |
Auschwitz und den Versuch, das jüdische Leben vollkommen aus der deutschen | |
Gesellschaft herauszutrennen und in ganz Europa zu vernichten. Muss sie das | |
verdrängen, um über jüdisches Leben „endlich (!) in einem ausschließlich(… | |
positiven Kontext“ sprechen zu können? Schluss mit dem Schuldkomplex, dazu | |
soll der Wiederaufbau der alten Synagoge am alten Platz den | |
versöhnungsbedürftigen Hamburgern helfen. | |
Ganz in diesem Sinn äußerte sich auch der Hamburger | |
CDU-Bundestagsabgeordnete Christoph de Vries mit einer Attacke gegen die | |
Kritikerinnen und Kritiker der Bornplatzsynagogen-Planung. Er unterstellt | |
diesen, „der Jüdischen Gemeinde öffentlich Vorgaben zu machen … und die | |
Deutungshoheit über die Wirkung eines historisierenden Bauwerks für sich in | |
Anspruch zu nehmen“, und rät laut [9][Hamburger Abendblatt] „dringend zu | |
etwas mehr Sensibilität und Zurückhaltung“. | |
De Vries, der auch als „Berichterstatter der CDU/CSU-Bundestagsfraktion für | |
jüdisches Leben“ fungiert, offenbart damit nicht nur seine Verachtung für | |
und kontroverse öffentliche Debatten, sondern auch für die jüdischen | |
Kritikerinnen des Bornplatz-Vorhabens wie Esther Bejarano, Miriam Rürup, | |
Peggy Parnass und Moshe Zimmermann. Auf deren Argumente geht der | |
CDU-Repräsentant nicht ein, denn ihm geht es um Größeres: Er sieht in der | |
neuen alten Synagoge „so etwas wie eine moralische Elbphilharmonie … für | |
Hamburg“, also so etwas wie einen weithin sichtbaren Leuchtturm für | |
Hamburgs großartige moralische Leistung. Die sichtbare Erinnerung an | |
Pogromnacht und Hamburgs moralisches Versagen würde bei dieser | |
Selbstinszenierung nur stören. | |
Ob die Jüdische Einheitsgemeinde sich von einem solchen Politiker gut | |
unterstützt sieht, wird sie selbst entscheiden. Aber die jüdischen | |
Bürgerinnen und Bürger, und ebenso die nichtjüdischen, werden sich noch | |
daran erinnern, dass sich gegen ihren Widerspruch die CDU wortstark daran | |
beteiligte, dem Judenhasser Martin Luther und seiner Reformation mit dem | |
31. Oktober einen eigenen Feiertag zu widmen. | |
Diese und weitere Voten für die Wiederherstellung eines Zustands, als habe | |
es die Pogromnacht nicht gegeben, zeigen, dass für viele Unterstützer mit | |
dem handfesten Bau auch eine seelentröstende „Normalität“ erzeugt werden | |
soll. Das dürfte vermutlich nicht im Interesse der Bornplatz-Initiative und | |
der jüdischen Gemeinschaften liegen, die tagtäglich damit leben müssen, | |
dass es hinter dem Schutz von Zäunen und Polizei und der zunehmenden | |
Bedrohung durch antisemitische Attacken keine Normalität für jüdisches | |
Leben gibt. | |
## 5. „Findige Haushälter“? Nicht die Höhe, aber die Quelle der | |
Finanzierung sollte geändert werden | |
Noch einmal: Die staatliche Mitfinanzierung einer Synagoge und eines | |
Gemeindezentrums sollte selbstverständlich sein und aus solchen Berliner | |
oder Hamburger Etats gefördert werden, die auch für die Sanierung von | |
Kirchen und anderen kulturellen Einrichtungen vorgesehen sind. Doch eben | |
das geschieht nicht. Stattdessen werden die 65 Millionen Euro | |
Bundeszuschuss für die Bornplatzsynagoge aus einem Sonderfonds zur | |
„Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus sowie zur Stärkung des | |
interreligiösen Dialogs“ [10][bereitgestellt]. | |
Diese Lösung haben, wie das Abendblatt fast nebenbei berichtete, „findige | |
Haushälter und das parteiübergreifende Netzwerk Hamburger Politiker in | |
Berlin … gefunden und möglich gemacht“. Neben Rüdiger Kruse (CDU) war vor | |
allem Johannes Kahrs (SPD) beteiligt, der auch gleich das Ziel vorgegeben | |
hat: „Mir ist wichtig, dass, wenn die Synagoge wiederaufgebaut wird, die | |
Außenhülle originalgetreu rekonstruiert wird.“ Auch Olaf Scholz hat nach | |
Informationen des Abendblatts als Finanzminister dazu [11][beigetragen]. | |
Doch wenn von 150 Millionen Euro Sondermitteln gleich 65 Millionen für den | |
Synagogenbau festgelegt werden, fehlen diese Gelder all den Initiativen und | |
Organisationen, die zur „Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus“ | |
dringend darauf angewiesen sind. Dazu gehört ganz aktuell ein | |
Bildungsprojekt gegen Antisemitismus in Niedersachsen, dessen Förderung | |
[12][nicht verlängert wurde]. Auch viele andere Projekte in diesem Bereich | |
haben damit zu kämpfen, dass sie nur über kurze Zeiträume finanziert werden | |
– als ob alle drei Jahre geprüft werden müsste, ob die Bekämpfung von | |
Rassismus und Antisemitismus noch notwendig ist. Dass die Finanzierung zu | |
Lasten der kompetenten und schweren Arbeit antirassistischer Initiativen | |
stillschweigend akzeptiert wurde, belastet beides, den Bau einer neuen | |
Synagoge ebenso wie den davon zu unterscheidenden Kampf gegen | |
Antisemitismus. Hamburgs „findige Haushälter“ und ihr Netzwerk in Berlin | |
sollten baldmöglichst andere und dafür geeignete Etats für den | |
Synagogen-Neubau finden. | |
## 6. Antisemitismus bleibt eine eigene Herausforderung | |
Eine ebenso bittere wie nüchterne Feststellung: Der Neubau einer Synagoge, | |
wo und wie auch immer, wird den Antisemitismus nicht reduzieren. Trotz des | |
seit 1990 durch die Einbürgerung von zahlreichen jüdischen Menschen aus der | |
ehemaligen Sowjetunion erstarkenden jüdischen Lebens haben die | |
antisemitischen Einstellungen auch in Hamburg nicht abgenommen. So denken, | |
wie die Zeit berichtete, 56 Prozent der Hamburger, in der Stadt werde | |
bereits genug für Juden getan. | |
Und war es nicht schon einmal so? Gerade im Grindelviertel existierte eine | |
große und (scheinbar?) anerkannte jüdische Gemeinschaft mit vielen | |
Geschäften, Arztpraxen, Bildungseinrichtungen und der Synagoge als Zentrum. | |
Die Nachbarschaft war freundlich bis freundschaftlich – und wurde doch | |
innerhalb kürzester Zeit aufgekündigt. | |
Viele Nachbarn duldeten oder unterstützten die Ausgrenzung der jüdischen | |
Bürger, schwiegen zu den Zerstörungen in der Pogromnacht und bereicherten | |
sich dann direkt nach deren Deportation am Eigentum der Menschen, mit denen | |
sie kurz zuvor noch Kaffee getrunken hatten. Diese Bereicherung, von der | |
auch die Kinder und Enkel profitierten, hält bis heute an: Die aus der | |
Synagoge geraubte Thorakrone, die kürzlich von Daniel Sheffer der Gemeinde | |
zurückgegeben wurde, musste offenbar käuflich erworben werden. | |
Es ist eine Illusion zu glauben, „dass mit konkreten Bauvorhaben dem | |
Antisemitismus und der politischen Geschichtsvergessenheit getrotzt wird“, | |
wie Till Briegleb in der Süddeutschen Zeitung [13][schrieb]. Antisemiten | |
lassen sich weder durch konkrete Anschauung, Nachbarschaft oder gar Fakten | |
von ihrer Obsession abbringen. Auch nicht dadurch, dass die Jüdische | |
Gemeinde zeigt, „wie Juden heute leben, durch Gespräche, oder auch durch | |
Tage der offenen Tür in den Gemeinden“, wie ihr Vorsitzender in der Zeit | |
sagte. | |
Die Bekämpfung von Antisemitismus ist eine Aufgabe weniger der jüdischen | |
Gemeinden als vor allem der Gesamtgesellschaft. Denn antijüdische | |
Ressentiments sind fest verankert in der sogenannten Mitte der Gesellschaft | |
und werden zunehmend aggressiver ins öffentliche Leben eingebracht. | |
In der AfD und ihrem publizistischen Umfeld wird der Holocaust nicht | |
geleugnet, aber zu einer historischen Bagatelle verharmlost. Gedenkstätten | |
berichten von Provokationen jüngerer und älterer Besucher, die den | |
Holocaust leugnen. Dem Staat Israel wird seine Legitimation abgesprochen, | |
„Israel-Kritik“ wird zum Anliegen breiter Kreise im kulturellen und | |
intellektuellen Milieu. Walser, Sarrazin, Höcke finden breite Zustimmung. | |
Der aktuell prosperierende Verschwörungsglaube: „Hinter allem stecken | |
fremde, uns knechtende Mächte“ entspricht der mächtigsten antisemitischen | |
Wahnvorstellung. | |
Wie aber kann man dem Ganzen begegnen? Für Hamburg und seine Politik wäre | |
dazu einiges zu sagen. Denn es sieht derzeit nicht so aus, dass die | |
Bekämpfung des Antisemitismus und die dafür notwendige historische | |
Aufklärung auf der Agenda der Bürgerschaft stünde. Schon im Oktober 2019 | |
hatte Anjes Tjarks, der damalige Vorsitzende der grünen Fraktion, in einer | |
Bürgerschaftsdebatte vorgeschlagen, „an prominenter Stelle in der Stadt | |
eine neue Synagoge zu errichten“, so berichtete das Abendblatt. „Das wäre | |
ein Zeichen, das viel stärker ist als der Kampf gegen Antisemitismus“, | |
fügte Tjarks unter starkem Beifall hinzu. | |
So wird nachvollziehbar, warum es ganz still geworden ist um das | |
Versprechen der rot-grünen Koalition, noch vor der Bürgerschaftswahl am 23. | |
Februar 2020 die Stelle eines Beauftragten zur Bekämpfung von | |
Antisemitismus und zum Schutz jüdischen Lebens [14][einzurichten]. Das ist | |
fast ein Jahr her. Seitdem gibt es Gerüchte, aber keine Informationen. So | |
wichtig scheint der Regierungskoalition dieser praktische Beitrag zum Kampf | |
gegen Antisemitismus offenkundig nicht mehr zu sein. | |
Schwerwiegender ist aber eine andere Hamburger Leerstelle im Kampf gegen | |
Antisemitismus: Die historische Aufklärung über die Verantwortlichen und | |
Beteiligten an der Verfolgung der jüdischen Bürger findet kaum einen | |
sichtbaren Ort. Weder in der Innenstadt noch im Grindelviertel finden sich | |
Hinweistafeln auf Geschäfte und Unternehmen, die den jüdischen Bürgern | |
geraubt oder nach 1938 geplündert wurden. Im Stadthaus, der Hamburger | |
Polizei- und Gestapo-Zentrale für Gewalt, Folter und Mord, begnügt man sich | |
mit einer kioskgroßen Ausstellung. In welchen kleinen und großen Hamburger | |
Unternehmen, die schon vor 1945 bestanden, findet Aufklärung über deren | |
Nazifizierung statt? | |
Es ist an der Zeit, dass die sorgfältige und eindrucksvolle Dokumentation | |
der Landeszentrale für politische Bildung über „Die Dabeigewesenen“ nicht | |
nur [15][virtuell], sondern auch im öffentlichen Raum präsentiert wird. Bei | |
diesen und anderen Projekten hätten Hamburgs findige Haushalter in der | |
Bürgerschaft die Möglichkeit, ihr „Nein zu Antisemitismus“ durch konkrete | |
Förderungen praktisch werden zu lassen. | |
6 Feb 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://www.kirche-hamburg.de/nachrichten/details/40-millionen-euro-fuer-st… | |
[2] https://www.hamburg.de/oeffentliche-plaetze/4258336/joseph-carlebach-platz/ | |
[3] https://www.mopo.de/hamburg/synagoge-in-hamburg-finanzhilfe-vom-bund--so-ge… | |
[4] https://www.frauenkirche-dresden.de/geschichte/ | |
[5] https://www.kirchenzeitung.de/content/kirche-wird-zur-synagoge | |
[6] https://www.bornplatzsynagoge.org/ | |
[7] https://www.deutschlandfunkkultur.de/max-czollek-desintegriert-euch-die-uto… | |
[8] https://www.gruene-hamburg.de/presse/initiative-fuer-die-bornplatzsynagoge-… | |
[9] https://www.abendblatt.de/hamburg/article231296952/Bornplatzsynagoge-Wieder… | |
[10] https://www.juedische-allgemeine.de/politik/wiederaufbau-der-bornplatzsyna… | |
[11] https://www.abendblatt.de/hamburg/article231014608/Bornplatz-Synagoge-Hamb… | |
[12] /Bildungsprojekt-gegen-Antisemitismus/!5728666 | |
[13] https://www.sueddeutsche.de/kultur/synagoge-hamburg-buergerschaft-neubau-1… | |
[14] https://www.abendblatt.de/hamburg/kommunales/article227474739/Hamburg-soll… | |
[15] https://www.hamburg.de/ns-dabeigewesene/ | |
## AUTOREN | |
Ulrich Hentschel | |
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