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# taz.de -- Corona und Hartz IV: Jenseits des Missbrauchs
> Hubertus Heil will mit einer Hartz-IV-Reform mehr individuelle Spielräume
> öffnen für Jobcenter und Betroffene. Das ist der richtige Weg.
Bild: Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) möchte bessere Bedingungen fü…
Es ist eine gute Gelegenheit. In einem Gesetzentwurf zur Grundsicherung für
Arbeitssuchende [1][will Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) den
erleichterten Zugang zu Hartz IV verstetigen], wie er in Zeiten der
Coronapandemie eingeführt wurde. In den nächsten Wochen soll der Entwurf
ins Kabinett. Corona als Türöffner für bessere Hartz-IV-Bedingungen? Die
Chance besteht.
Laut Gesetzentwurf soll es einen „Vertrauensvorschuss“ geben für
Hartz-IV-EmpfängerInnen. Sanktionen werden begrenzt, Wohnkosten in der
tatsächlichen Höhe erst mal erstattet. Statt der bisherigen
rechtsverbindlichen „Eingliederungsvereinbarung“ soll es einen
„Kooperationsplan“ geben mit weniger Druck auf die Langzeitarbeitslosen.
Die Union ist dagegen. Der Gesetzentwurf sei die [2][„schleichende
Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens“], rügt CDU-Sozialexperte
Peter Weiß.
Das „bedingungslose Grundeinkommen“ ist zwar noch in weiter Ferne,
betrachtet man den Gesetzentwurf. Er enthält jedoch Flexibilisierungen, die
es den SachbearbeiterInnen in Jobcentern erleichtern könnten, auf ihre
heterogene Klientel künftig individueller einzugehen, und das ist gut so.
## Zweijährige Karenzzeit
Leute, die zum ersten Mal Hartz IV beantragen, bekämen laut dem Heil’schen
Gesetzentwurf wie jetzt zu Zeiten von Corona eine zweijährige „Karenzzeit“
zugebilligt: In den ersten zwei Jahren erhalten sie Hartz IV und die
Wohnkosten erstattet, auch wenn sie über ein Vermögen bis zu 60.000 Euro
plus 30.000 Euro für jedes weitere Haushaltsmitglied verfügen und in einer
teuren Mietwohnung leben.
Durch diese Erleichterungen soll Selbstständigen der Zugang zur
Grundsicherung erleichtert werden, die vorübergehend in Not geraten und
keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld I haben. Laut Statistik bezogen im
September 2020 rund 78.000 erwerbstätige Selbstständige aufstockendes Hartz
IV. Angesichts einer Zahl von etwa 2,2 Millionen Soloselbstständigen ist
der Anteil der Hartz-IV-Empfänger unter den Selbstständigen in der Pandemie
gering geblieben.
Eine gesetzlich dauerhaft festgeschriebene zweijährige Karenzzeit bei der
Vermögensanrechnung und in der Wohnkostenerstattung könnte für eine andere
Empfängergruppe bedeutsam werden: Ältere Beschäftigte, die ihren Job
verlieren und ein, zwei Jahre Arbeitslosengeld I bekommen, könnten
anschließend noch mit zwei Jahren Hartz-IV-Bezug die Zeit bis zur Rente
überbrücken, ohne dass sie ihr Erspartes aufbrauchen oder in eine kleinere
Wohnung umziehen müssen.
Hartz IV wäre damit ein Puffer und nicht mehr der gefürchtete Absturz. Der
zweite wichtige Punkt ist die Abmilderung der Sanktionen. Dabei folgt Heil
einer Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts, das die Sanktionen auf 30
Prozent des Regelsatzes begrenzte. Wer mit dem Jobcenter nicht kooperiert,
Weiterbildung und Jobangebot dauerhaft ablehnt, dem können deswegen nur
noch maximal 30 Prozent vom Regelsatz abgezogen werden.
Der „Verzicht auf Sanktionen“ sei die Einführung des „bedingungslosen
Grundeinkommens durch die Hintertür“, monierte FDP-Sozialexperte Pascal
Kober. Da ist er wieder, der Missbrauchsverdacht, der an Hartz IV klebt wie
Dreck am Straßenschuh: Was, wenn LeistungsempfängerInnen im Jobcenter gar
nicht mehr aufkreuzen, sich auf Dauer mit dem gekürzten Regelsatz, der
Erstattung der Wohnkosten und einem einträglichen Schwarzjob ihre privaten
Kombi-Einkommen basteln?
Auf Kosten der Verkäuferin, des Bauhandwerkers, die Vollzeit ackern und
Steuern zahlen? Würde ein Gesetzentwurf, der Sanktionen dauerhaft begrenzt,
sogar mehr von jenen Missbrauchsfällen hervorbringen, die in den Medien
gerne breitgetreten werden?
## Mehrheit unter Generalverdacht
Wer mit Fallmanagern spricht, hört, dass der dauerhafte – vermutete –
Missbrauch die Ausnahme ist. Ja, es gibt LeistungsempfängerInnen, die wenig
motiviert sind, herauszukommen aus Hartz IV: Leute, die sich mit der
Leistung und einem Minijob plus Schwarzarbeit eingerichtet haben. Auch
Überschuldete, sogar Unterhaltsverpflichtete, haben manchmal zu wenig
Antrieb, um sich aus der Leistung zu lösen. Aber, so sagen die Fallmanager,
das ist eine kleine Minderheit. Eine Minderheit, wegen der die Mehrheit der
LeistungsempfängerInnen unter einen Generalverdacht gestellt wird.
Unter dem löchrigen Schirm von Hartz IV sitzen nämlich Menschen mit höchst
unterschiedlichen Schicksalen: chronisch Kranke, Depressive,
AlkoholikerInnen, Geflüchtete mit mangelnden Deutschkenntnissen,
notleidende Kleinselbstständige, ehemalige Strafgefangene, pflegende
Angehörige, Alleinerziehende mit kleinen Kindern. Zwei Drittel der
Hartz-IV-EmpfängerInnen lebt von der Leistung schon länger als zwei Jahre,
fast die Hälfte sogar schon länger als vier Jahre. Die Mehrzahl hat keine
Berufsausbildung.
Der Gesetzentwurf kippt die „Eingliederungsvereinbarung“ mit ihren starken
Sanktionsmöglichkeiten als rechtlich verbindlichen Vertrag zwischen
Jobcenter und LeistungsempfängerInnen. Der Druck durch diese Vereinbarungen
hat mehr Schaden angerichtet als Nutzen gebracht.
Der Gesetzentwurf schreibt stattdessen „Kooperationspläne“ vor. Diese
betonen ebenfalls die Eigenverantwortung, räumen aber der Weiterbildung,
möglichst der selbstgewählten Weiterbildung, einen Vorrang ein vor der
bloßen Vermittlung in irgendeine Arbeit.
Der Gesetzentwurf von Heil wird angesichts des Widerstands der Union in
dieser Legislaturperiode wohl nicht umgesetzt, also in den
Bundestagswahlkampf einfließen.
Dort könnte er eine Debatte auslösen über [3][eine neue Perspektive auf
Hartz-IV-EmpfängerInnen], mit Respekt vor deren Unterschiedlichkeit, deren
Möglichkeiten und individuellen Grenzen. Es wäre eine Bereicherung, es wäre
überfällig.
27 Jan 2021
## LINKS
[1] /Finanzhilfen-in-der-Coronapandemie/!5746116
[2] /Gruene-Garantiesicherung/!5742656
[3] /Hartz-IV-und-Corona/!5746115
## AUTOREN
Barbara Dribbusch
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