# taz.de -- Turboindividualismus in der Coronakrise: Der Zynismus des Pöbels | |
> Leute, die nichts mehr zu verlieren haben, setzen die Maske ab, sind auf | |
> eine gesellschaftszerstörerische Art frei. Was tun? | |
Bild: Trump-Anhänger nach dem Sturm auf das Kapitol am 6. Januar 2021 im Weiß… | |
Den Kern des Aufstands gegen die liberalen Demokratien bilden | |
[1][rechtspopulistische oder rechtsradikale] Strategen, die sie gezielt | |
zerstören wollen und andere dafür instrumentalisieren. Darum scharen sich | |
gebildete Karriere-Interessierte, für die es anderswo nicht gereicht hat | |
und die nun bei Trump, Orbán, PiS oder AfD etwas werden und sein können. | |
Hauptagitationsgruppe sind Leute, die sozial und kulturell abgestiegen sind | |
oder ihren Abstieg fürchten, weil die liberale Demokratie es aus ihrer | |
Sicht nur für andere, aber nicht für sie bringt. | |
Ein bisher meist ignorierter Typus oder Aspekt sind Leute, denen es um gar | |
nichts mehr geht, was sie auf eine destruktive Art frei macht, die sie nun | |
ausleben. Darum geht es mir im Folgenden. | |
Anfang der 1980er erschien Peter Sloterdijks „Kritik der zynischen | |
Vernunft“, die man auf den Typus des gebildeten Menschen anwenden kann, der | |
ein hohes Bewusstsein dafür artikuliert, was alles schiefläuft im | |
Kapitalismus; aber das ist es dann auch. Zynismus von oben. Man profitierte | |
in vielerlei Hinsicht vom „Schweinesystem“, wie früher ja manche Linke die | |
liberale Demokratie nannten – und wollte sich mit aufgeklärter Kritik an | |
den „Verhältnissen“ zusätzlich nobilitieren. | |
## Nicht mehr ignoriert werden | |
Der neue Zynismus kommt von Trumps, aber auch von unten. Er kommt von | |
Leuten, deren Freiheit im Sinne von Kris Kristoffersons [2][„Me And Bobby | |
McGee“] darin besteht, nichts mehr zu verlieren zu haben beziehungsweise | |
das anzunehmen. Sie haben jegliche Hoffnung aufgegeben, dass für sie in der | |
liberalen Demokratie noch etwas drin ist. Bei den gefährlichen Strategen | |
und den Gewalt- und Umsturzbereiten ist das anders, aber wenn dieser Typus | |
Richtung Reichstag, Kapitol oder sonst wohin mitläuft, dann geht es für ihn | |
nicht um alles. Sondern um nichts. | |
Es geht darum, auf die Kacke zu hauen, damit die anderen einen nicht mehr | |
ignorieren können, sondern sehen müssen. Sie können sich nur noch in der | |
Negation spüren. Das steckt auch hinter der Behauptung von Abermillionen, | |
Bidens Präsidentschaft beruhe auf Wahlbetrug. Es ist ein trotziges Nein zur | |
Realität, die auf die Realität der anderen reduziert wird. | |
„Zynismus des Pöbels“, nennt Sloterdijk das in einem hellseherischen | |
[3][Aufsatz] von 2018, wobei Pöbeltum nach Hegel aus Armut und dem Gefühl | |
der Rechtlosigkeit entsteht und für Kant aus dem Wegfall gesellschaftlicher | |
Bindungen. | |
## Beide Seiten lassen die Masken fallen | |
Im Turboindividualismus geht es heute vor allem auch um Anerkennung durch | |
die Gesellschaft. Deren Fehlen wird nun durch möglichst heftige Ablehnung | |
kompensiert, was eine negative, aber starke Form von Anerkennung ist. Wie | |
sonst auch im menschlichen Leben, besteht die Erklärung für das eigene | |
Verhalten darin, dass der andere angefangen habe (Politik, Establishment, | |
Linksliberale und sonstige Feindbilder). | |
Sloterdijk hat das als wechselseitige Aufkündigung eines „Illusionspakts“ | |
beschrieben. Die Oberen machten sich nicht mehr die Mühe, wenigstens so zu | |
tun, als gäbe es ein Gemeinwohl. Und die unten tun dann auch nicht mehr so, | |
als glaubten sie daran. | |
Beide Seiten ließen die Masken fallen, schreibt er. Was insofern ein | |
interessantes Bild ist, da sich ja pöbelnde Kritiker der Coronapolitik auch | |
weigern, Masken aufzusetzen. Das ist angesichts der Pandemie | |
gesundheitspolitisch fatal und unsolidarisch, passt aber in diese Logik der | |
„Selbstdemaskierung“, nach der man sichtbar machen will, dass für einen | |
selbst alles egal geworden ist und man den anderen aber auch gar nichts | |
mehr schuldet. | |
Mit Aufklärung, Moral und Gemeinwohl braucht man dem Typus der zynischen | |
Unvernunft nicht zu kommen, denn dagegen richtet sich ja die aus seiner | |
Sicht aufklärerische Revolte. Er denkt, was er tut, ist in seiner Lage das | |
einzig Vernünftige. Was also tun? | |
17 Jan 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Rechtsradikale-Gruppe-in-den-USA/!5741361 | |
[2] https://www.youtube.com/watch?v=ahpIirW0svY | |
[3] https://www.nzz.ch/feuilleton/35-jahre-nach-der-kritik-der-zynischen-vernun… | |
## AUTOREN | |
Peter Unfried | |
## TAGS | |
Kolumne Die eine Frage | |
Peter Sloterdijk | |
Neue Rechte | |
Krise der Demokratie | |
Schwerpunkt Bundestagswahl 2025 | |
Kolumne Die eine Frage | |
Annalena Baerbock | |
Annalena Baerbock | |
Kulturkritik | |
Kolumne Die eine Frage | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Bundestagswahlen 2021: Lieber Alexander Lambsdorff! | |
Verbotspartei, Inkompetenz, Journalistische Klima-Propaganda: Warum gehen | |
nun alle auf die Grünen los? Weil sie sie ernst nehmen. | |
Chancen der Coronapandemie: Merkel plus | |
Nicht Corona wird eines Tages vorbei sein, sondern die Welt, wie wir sie | |
kennen. Doch was tun, wenn diese Welt nicht mehr existiert? | |
Bundesdeutsche Zukunftspolitik: Merkel-Mitte ohne Merkel | |
Die Zukunft wird nicht „grün“ oder „schwarz“. Hat Sie vielleicht am | |
richtigen Ort bereits begonnen, nämlich im überparteilichen | |
Bundeskanzleramt? | |
Ausblick aufs Wahljahr: Grün-Rot-Rot oder Friedrich Merz? | |
Die Lieblingskoalition der Linkssozialdemokraten oder das | |
Lieblingsschreckgespenst von Linksliberalen: Was wäre 2021 schlimmer? | |
Krisen des 21. Jahrhunderts: Anerkennung statt Polarisierung | |
Linksemanzipatorisch mit Drall zum Autoritarismus oder kulturkonservativ in | |
Richtung reaktionär: Wie nimmt man 2021 den Ernst der Lage ernst? | |
Weihnachten und Corona: Wir brauchen ein Wunder | |
Warum wird Weihnachten nicht verschoben? Der Pandemiebekämpfung täte das | |
doch gut, würde man erst im nächsten Juni feiern. |