# taz.de -- Krisen des 21. Jahrhunderts: Anerkennung statt Polarisierung | |
> Linksemanzipatorisch mit Drall zum Autoritarismus oder kulturkonservativ | |
> in Richtung reaktionär: Wie nimmt man 2021 den Ernst der Lage ernst? | |
Bild: Als die neue Zeit begann: Silvester 2020 | |
Ob das Coronajahr 2020 ein „verlorenes“ war, wie es gern heißt? Das wird | |
sich für viele leider so anfühlen. Für mich war 2020 nicht verloren. Ich | |
sehe es als Anfang. Die Pandemie hat spürbarer gemacht, dass es kein | |
stabiles „Normal“ mehr gibt und schon gar keine alte Politik, die das | |
wiederherstellen könnte. Wir sind jetzt in einem ultrabeschleunigten und | |
bisher politisch eher ungesteuerten Wandel. Das Ziel muss die Steuerung | |
sein. | |
Einige Freunde halten die [1][Polarisierung] in Deutschland mittlerweile | |
für unerträglich. Ich sehe das anders. Einige Figuren konturieren sich | |
gesellschaftspolitisch immer schärfer in der Reibung aneinander: | |
Kulturkonservative, die ins Reaktionäre ziehen. Linksemanzipatorische, die | |
ins Autoritäre und in den Widerstandsmodus driften. Zuvor Unauffällige, die | |
durchknallen. | |
Diese Figuren entwickeln sich entweder strategisch oder aus der Sehnsucht | |
heraus, durch eine klare „Haltung“ der Abgrenzung Sicherheit | |
zurückzugewinnen und dem Ernst der Lage gerecht zu werden. Genau das | |
vermögen sie nicht. Die linksemanzipatorisch und kulturkonservativ | |
Zugespitzten wirken wie Puppen, die im Kaschperltheater der digitalen oder | |
analogen Medien aufeinander losgehen: Peng, zoff, dong. | |
Das ist die entscheidende Frage für zukunftsinteressierte Demokraten: Wie | |
nimmt man den Ernst der Lage ernst? | |
## Nicht vom Baum der Weisheit die Wahrheit beschwören | |
Nicht, indem man vom Baum der Weisheit herunter die eigene Wahrheit als | |
absolut beschwört, auch keine wissenschaftliche. Selbst wenn es eine knappe | |
demokratische Mehrheit für deren Politikvorschläge gäbe, würde es furchtbar | |
enden. Je zugespitzter die einen ihre Werte ausrufen, desto größer wird | |
auch die Gegenbewegung. „When they go low, we go high“, ist die beste | |
Strategie für einen Bürgerkrieg. | |
Nicht nur zum Pedigree von CDU/CSU, sondern auch zu unserem gehört eine | |
dunkle Seite. Das ist die jahrzehntelange Indifferenz gegenüber den | |
eskalierenden Krisen, speziell der Klimakrise. | |
Und leider oft auch das Unvermögen, sich einzugestehen, dass die | |
Erweiterung der eigenen Freiheit, Lebenschance und Selbstmodellierung in | |
der Neuen Mitte auch Kollateralschäden verursacht hat, materiell und | |
kulturell. In der nivelliert-langweiligen Industriegesellschaft von früher | |
war deutlich weniger Aggression. Was wir deshalb brauchen, ist eine sich | |
einmischende, einbringende und zivilisiert streitende gesellschaftliche | |
Mitte auf Basis einer Kultur der Anerkennung. Eine Anerkennung, dass viele | |
maximal verschieden sind, aber alle in dieser liberaldemokratischen Mitte | |
ein gemeinsames Ziel eint: einen Zustand herbeizuführen, in dem die Krisen | |
nach der Bundestagswahl 2021 wirksam politisch bearbeitet werden können. | |
Dabei darf man aber nicht übersehen, dass die CDU-geführte Bundesregierung | |
mit dem Junior Scholz-SPD eben kein Sonderfall war, sondern Ausdruck der | |
gesellschaftlichen Realität. Im politischen Zentrum hat Angela Merkel die | |
Anerkennungsdemokratie gelebt, indem sie eben nicht polarisiert hat. Hätte | |
es klare Mehrheiten für ernsthafte Klimapolitik gegeben, hätte sie das auch | |
gemacht. Also brauchen wir eine Mehrheit. | |
Die Frage ist aber berechtigt, wie wir das Problem lösen, dass unsere | |
konsensorientierte und behutsame Maß- und-Mitte-Politik und die Tiefe der | |
Krisen des 21. Jahrhunderts bisher nicht zueinander passen. Aber wir können | |
die liberale Demokratie der Anerkennung nur durch Offenheit voranbringen. | |
Deshalb sollten wir uns 2021 mit allem, was wir an Kraft, Intelligenz und | |
Emotion haben, diesem Problem zuwenden, das uns alle betrifft. | |
20 Dec 2020 | |
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## AUTOREN | |
Peter Unfried | |
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