| # taz.de -- Der erste Rückblick auf 2020: Us and them | |
| > Das Jahr geht langsam zu Ende. Zeit für eine entscheidende Frage: Sind | |
| > Sie im Team „Macht und Geld“ oder im Team „Kunst und Liebe“? | |
| Bild: Carola Rackete im Dannenröder Forst – im Kampf für eine bessere Welt | |
| Schon wieder ist die Vorweihnachtszeit da, auch dieses Jahr geht in die | |
| letzte Runde, ein Jahr wie keines vorher und doch auch so wie alle anderen. | |
| Im Frühjahr war die Sehnsucht spürbar, unter dem Eindruck der pandemischen | |
| Erschütterung, ich will nicht sagen: sein Leben in ganz großem Stil zu | |
| ändern, aber doch zumindest manche Dinge wirklich anders anzugehen. Nicht | |
| unter Zwang, freiwillig und selbstbestimmt. Aus dem Gefühl heraus, dass die | |
| Zeit dafür gekommen sei. | |
| Was mich betrifft, so muss ich melden: Nix war’s. The same procedure as | |
| every year. | |
| „We were all going to change our lives“, heißt es in Jay McInerneys | |
| Boomer-Roman „Bright, Precious Days“ mit Bezug auf Nine Eleven, „and in t… | |
| end we’re the same shallow, grasping hedonists we used to be.“ Selbst wenn | |
| man sich mit belastbaren Daten nicht für „grasping“, also raffgierig halten | |
| muss, so ergibt sich daraus im Einzelfall das reale Problem, wie man seinen | |
| Lebensstandard halten soll, wenn man nichts gerafft hat. | |
| McInerneys Hauptfiguren Corrine und Russell haben die Leute in zwei Gruppen | |
| eingeteilt: Auf der einen Seite Macht und Geld, auf der anderen Kunst und | |
| Liebe. Während ihre Freunde umsichtig ihr Geld vermehrten, waren sie Kunst | |
| und Liebe, genauer gesagt Bücher und Weltrettungsnische. | |
| Es ist der Kern dessen, was sie zu sein glauben und worauf sie stolz sind: | |
| Dass sie nicht Macht und nicht Geld sind. Aber nun sind sie in ihren | |
| Fünfzigern, können sich Manhattan nicht mehr leisten, und die Welt ist auch | |
| kein bisschen gerettet. | |
| Was ich sagen will: Es gibt Gründe, warum wir unser Leben nicht ohne Zwang | |
| ändern. Weil wir es nicht können. Weil der Alltag stärker ist, näher ist, | |
| bequemer ist. Und es gibt Gründe, warum wir die Welt nicht retten: weil das | |
| ein maßloses Geschwätz ist, das zeigt, dass wir es nicht ernst meinen mit | |
| Veränderung. Und es gibt Gründe, sich zu fragen, was der grundsätzliche | |
| Fehler ist im Rechtfertigungsmanifest des eigenen Lebens. Wenn es einen | |
| gibt und wenn man Lust darauf hat und bereit dafür ist. | |
| Mein Fehler war die Aufteilung der Welt in zwei Teams. Das eigene – und das | |
| gegnerische. Us and them. Der nächste Fehler war, auch noch daran zu | |
| arbeiten, dass das eigene Team aus viel weniger Leuten bestehen muss. | |
| Aber der allergrößte Fehler war das, worauf wir immer so stolz waren in | |
| unserer Selbstbezogenheit, also „Macht und Geld“ dem anderen Team | |
| zuzuteilen. Da braucht man sich nicht zu wundern, dass man nur zuschauen | |
| kann, wenn man den anderen Macht und Geld überlässt. Und vor allem: die | |
| Politik, also die Führung und Gestaltung des Gemeinsamen. | |
| Mir tun meine armen Boomer-Ohren weh, wenn ich die Klimaaktivistin Carola | |
| Rackete von einem hessischen Baum herunter [1][populistische Predigten] | |
| halten höre, in denen der „Widerstand“ zur höchsten Tugend erklärt wird … | |
| sie die Leute aufteilt in die „Vernünftigsten von allen“, die die „Syste… | |
| zum Anhalten“ bringen – und die „Irrationalen“, also die bösen Eliten … | |
| die blöden anderen. | |
| Diesen Hochsitz kann man selbstverständlich besetzen, ich saß selbst lange | |
| genug oben. Aber damit kann man weder die Mehrheitsgesellschaft gewinnen | |
| noch die Zukunft. | |
| Wer sozialökologische Zukunftspolitik voranbringen will, der muss die „Us | |
| and them“- und Entweder-oder-Lager aufgeben, den Symbolpolitikfetischismus | |
| überwinden, und er muss die Illusion aufgeben, er sei im Widerstand, | |
| während er in Wahrheit nur seine Machtlosigkeit manifestiert. Wer Change | |
| will, muss Boomer und Junge Leute zusammenbringen und dazu die drei großen | |
| Changemaker nutzen: Geld, Macht, Politik. | |
| Und er muss es lieben. | |
| 23 Nov 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Peter Unfried | |
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