# taz.de -- Digitalisierung an Schulen: Sorry, wir sind nicht erreichbar | |
> Im Coronalockdown sollen die Schulen ganz schnell digital werden. Geld | |
> ist da. Trotzdem hapert es landauf, landab an der Umsetzung. | |
Bild: Beim Homeschooling hoch im Kurs: Heft und Papier, ganz analog | |
BERLIN taz | Corona hat Ines Kutzner zum Youtube-Star gemacht. Seit der | |
Pandemie ist sie Erklärerin für Plusquamperfekt, Futurformen, | |
Substantivierung geworden. Mehrere Tausend Deutschlerner:innen abonnieren | |
ihren Kanal. Kutzi nennt sie sich dort. | |
Eigentlich ist Kutzner Lehrerin einer 4. Klasse im sächsischen | |
Lampertswalde. Seit Corona wütet und die Schulen keinen regulären | |
Präsenzunterricht mehr machen können, dreht sie für ihre Schüler:innen | |
Videos. Diese wirken fast schon altmodisch: Frontalunterricht, | |
Kreidebilder, laminierte Verbenschilder, die an die Tafel geheftet werden, | |
keine Freiarbeit. „Aber das brauchen die Kinder, um gerade auch im Lockdown | |
selbstständig arbeiten zu können“, sagt Kutzner. | |
Auf der sächsischen Landeslernplattform Lernsax konnte Kutzner ihre Videos | |
nicht hochladen – maximale Kapazität erreicht. Also entschied sich Kutzner | |
für Youtube. Für jede Folge schreibt sie ein Konzept, überlegt sich, welche | |
Lernmaterialien sie einbinden will. Dann wird gedreht, geschnitten, der | |
Clip ins Netz gestellt. Für rund 10 Minuten Film braucht sie etwa 2 | |
Stunden. | |
Wie ihre Kolleg:innen an der Grundschule Lampertswalde nutzt Kutzner für | |
den Unterricht im Lockdown die Plattform Lernsax. Seit die Schule wieder | |
begonnen hat, hält die Grundschullehrerin täglich zwei Videokonferenzen, | |
vergibt Aufgaben, motiviert die Schüler:innen. Ihre Videos sind Beiwerk, | |
ein Zusatz für die Angebote der Lernplattform. Landesweit gibt es auf | |
Lernsax in Hoch-Zeiten täglich bis zu 80.000 Nutzer:innen. | |
Kommunikation im Zweifelsfall per Sammelmail | |
Dass alle Schüler:innen in den Lernraum kommen, ist nicht immer | |
gewährleistet. Mal streikt die Netzverbindung, mal ist der Server | |
überlastet, sogar von einem Cyberangriff war vor Weihnachten die Rede. | |
Kutzner ist Administratorin ihrer Schule. Wenn es auf der Landesplattform | |
hakt, informiert sie auf der Schulhomepage, zur Not gibt es auch eine | |
altmodische Sammelmail an die Eltern mit neuen Aufgaben für die Kinder. | |
Wie anfällig die Lernplattformen für Störungen sind, hat sich zuletzt an | |
diesem Montag gezeigt. Zum Schulstart nach den Weihnachtsferien traf es das | |
Programm Iserv. Etwa 4.500 Schulen nutzen die Plattform, vor allem in | |
Niedersachsen, Hamburg und Nordrhein-Westfalen. Rund 1 Million | |
Schüler:innen sollten ab 8 Uhr morgens per Videokonferenz in den Unterricht | |
starten. Doch so viele Zugriffe auf einmal packte der Server von Iserv | |
einfach nicht. Dateien tauschen, Hausaufgaben machen, das hat funktioniert. | |
Aber sehen konnten sich die Schüler:innen nicht. | |
Das Problem: ein Fehler im Skript, aufgrund dessen neue Räume für die | |
Videonutzung nicht betreten werden konnten. Ein Mini-GAU für | |
Geschäftsführer Benjamin Heindl. „An der Stelle haben wir vorher, | |
ehrlicherweise, nicht geschaut“, erklärte er. Per Twitter, per Nachricht | |
auf die Server, hat das Unternehmen über die Störung informiert. Am frühen | |
Nachmittag war der Fehler dann behoben. | |
Probleme mit Lernplattformen gab es in den letzten Wochen bundesweit – | |
insbesondere bei landeseigenen Entwicklungen. In Baden-Württemberg | |
scheiterte die landeseigene Plattform „Ella“, gar mit einer Rüge vom | |
Landesrechnungshof. | |
Ultimatum in Bayern | |
Der vorläufige [1][Höhepunkt des bayrischen Fiaskos] auf dem Weg zum | |
Digitalunterricht war kurz vor Weihnachten erreicht, als Ministerpräsident | |
Markus Söder (CSU) seinem Kultusminister Michael Piazolo (FW) ein | |
Ultimatum setzte: Nach den Ferien müsse die bayerneigene Plattform Mebis | |
überall funktionieren. Zumindest bis 13.30 Uhr verlief der erste Schultag | |
nach den Ferien auf Mebis dann tatsächlich störungsfrei. | |
Iserv-Geschäftsführer Heindl geht trotz der Panne am Montag davon aus, dass | |
sein Produkt weniger anfällig für Störungen ist als Landesplattformen wie | |
etwa der Lernraum Berlin oder Lernsax. In der Regel laufen die Plattformen | |
der Länder über einen zentralen Kanal. Iserv hingegen ist dezentral | |
organisiert, jede Schule ist autark. In vielen Fällen steht die Hardware | |
sogar direkt im Gebäude. | |
Bricht ein Server zusammen, ist nur eine Schule betroffen. Anders sieht es | |
allerdings bei der Option für Videokonferenzen aus. Greifen 1 Million | |
Nutzer:innen gleichzeitig auf dieses Werkzeug zu, bricht auch hier der | |
Kanal zusammen. In der Regel suchen sich die Schulen ihre Lernplattform | |
aus. | |
Auf welchen Anbieter die Wahl fällt, hängt auch vom Preis ab. Vom Land | |
gesponserte Plattformen sind schlicht preiswerter, häufig sind auch | |
Förderungen direkt an bestimmte Plattformen gebunden. So zahlt eine Schule | |
in Baden-Württemberg rund 250 Euro im Jahr für die Landeslösung, bei Iserv | |
kostet die Nutzung 5 Euro pro Schüler und Jahr. „Die Schulen müssen | |
natürlich überlegen, ob sich das lohnt“, sagt Heindl. „Das Geld aus dem | |
Digitalpakt ist nur eine Investition. Aber was ist in 3 Jahren? Darüber | |
müssen sich die Schulen Gedanken machen.“ | |
Viele Anfragen zu Trainings für Online-Unterricht | |
Neben Iserv erfuhr mit Corona auch die kommerzielle Plattform Itslearning | |
einen Boom. Rund 500.000 aktive Nutzer:innen hat die Plattform, vor allem | |
im nördlichen Teil Deutschlands, in Bremen, Schleswig-Holstein, | |
Mecklenburg-Vorpommern, Berlin, neuerdings auch in Baden-Württemberg. | |
Dass die Plattform zusammenbrach oder nicht mehr alle Funktionen aufgerufen | |
werden konnten, passierte im ersten Lockdown auch bei Itslearning. „Wir | |
haben dann die Server hochskaliert“, sagt Peter Andreas Sidro, selbst | |
Pädagoge und Kundenbetreuer bei der Plattform. Wartung, Serverhosting ist | |
dabei, ebenso Hilfe bei technischen Problemen. | |
Parallel zu den Schulschließungen während des ersten Lockdowns explodierten | |
bei Sidros Firma auch die Anfragen nach Trainings für den Onlineunterricht. | |
„Es geht nicht darum, dass die Lehrkräfte die Arbeitsblätter digitalisieren | |
und als PDF hochladen, sondern darum, Aufgaben in einen neuen didaktischen | |
Kontext einzubauen und mit den Schülern in Kontakt zu treten“, sagt der | |
Pädagoge. | |
Er ist überzeugt, dass sich der Schulunterricht durch die Pandemie | |
nachhaltig verändern wird. Zum Beispiel im fachlichen Austausch zwischen | |
Lehrkräften darüber, wie Lehre aussehen oder wie auf die Bedürfnisse der | |
Schüler:innen eingegangen werden kann. | |
Digitalisierung geht schleppend voran | |
Die Nachfrage nach digitalem Unterricht ist da, trotzdem tun sich die | |
Schulen schwer: Schätzungen zufolge waren vor Corona zwischen 5.000 und | |
7.000 Schulen mit Lernplattformen ausgestattet, nach 10 Pandemie-Monaten | |
sind es gerade 3-mal so viele. Warum? Es liege nicht am Geld, sagt Benjamin | |
Heindl von Iserv. | |
Das zeigen auch die Mittelabrufe beim Digitalpakt Schule und bei | |
Soforthilfeprogrammen. So hat etwa Sachsen das Budget aus dem | |
Sofortausstattungsprogramm in Höhe von mehr als 24 Millionen Euro bereits | |
voll abgerufen. Zusammen mit dem Anteil aus dem Digitalpakt hat das | |
Bundesland mehr als 300 Millionen Euro beantragt. Hingegen hat | |
Baden-Württemberg beim Bund derzeit bisher nur etwa 1,8 Prozent der dem | |
Bundesland zugeteilten Digitalpakt-Fördermittel in Höhe von rund 650 | |
Millionen Euro abgerufen. | |
Nordrhein-Westfalen stehen insgesamt 1 Milliarde Euro aus dem Digitalpakt | |
zur Verfügung. Laut Ministerium lagen bis Ende 2020 Förderanträge in Höhe | |
von 231 Millionen Euro vor. Niedersachsen verbessert die | |
IT-Bildungsinfrastruktur mit Geldern von Bund und Land in Höhe von 522 | |
Millionen Euro. Den Angaben nach wurden bisher Anträge in Höhe von mehr als | |
55 Millionen Euro bewilligt. | |
Unabhängig von der Ausstattung bleibt noch eine andere Herausforderung: | |
„Unter Lehrern gibt es große Berührungsängste mit der digitalen Welt“, s… | |
Heindl. „[2][Die Schüler sind den Lehrern natürlich Lichtjahre voraus] – | |
und können damit auch die digitalen Werkzeuge besser nutzen.“ Heindl sieht | |
vor allem die Länder in der Pflicht, Schulungen anzubieten und bereits in | |
der Ausbildung digitale Lerneinheiten zum Standard zu machen. | |
Ohne Breitbandausbau keine Videokonferenz | |
Beamer an der Decke und Laptops für die Lehrer machten die Schule noch | |
lange nicht digital: „Wenn Lehrer immer noch ihre Arbeitsblätter hochladen | |
und die Schüler sie dann ausdrucken sollen, haben wir nichts gewonnen“, | |
sagt Heindl. | |
Seit 1988 ist Ines Kutzner im Schuldienst, unterrichtete immer an ihrer | |
Landschule in Lampertswalde. „Man muss den Willen und die Zeit haben, sich | |
mit den neuen Lernmöglichkeiten auseinanderzusetzen“, sagt Kutzner. | |
Unterricht, Klassenleitung, Zusatzjobs in der Schule – der Arbeitstag ist | |
randvoll. | |
Aber es gibt auch ganz praktische Probleme. Der Breitbandausbau kommt nicht | |
voran, damit gibt es Netzprobleme. Kutzners Kinder fliegen regelmäßig aus | |
den Videokonferenzen, da die Verbindung zu schlecht ist. Auch | |
Ausschreibungen für technische Ausstattung findet sie zu kompliziert. | |
Seit zehn Monaten sind die Schulen im Ausnahmezustand. Sachsen gehört | |
derzeit zu den Ländern mit den höchsten Inzidenzwerten. Kutzner wird wohl | |
noch so manches Video für ihre Schüler:innen drehen. | |
Mitarbeit: Ralf Pauli | |
13 Jan 2021 | |
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## AUTOREN | |
Tanja Tricarico | |
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