# taz.de -- Familienmodell der Frühgeschichte: Archäologisches Traumpaar | |
> Archäologische Beschreibungen frühzeitlicher Gemeinschaften sind oft nur | |
> Klischees. Die Geschlechterrollen werden zunehmend infrage gestellt. | |
Bild: Wer jagt? Jagdszene aus dem 9./8. Jahrtausend vor unserer Zeit | |
Fernsehdokumentationen und Populärliteratur über frühe Formen menschlichen | |
Zusammenlebens greifen immer wieder auf das Stereotyp des jagenden Mannes | |
und der sammelnden Frau zurück. Man sieht zum Beispiel eine Horde starker | |
Männer zusammen einem Großwild hinterherjagen. Während die Stimme im Off | |
einen der männlichen Protagonisten vorstellt, schwenkt die Kamera auf eine | |
junge Frau an einer Feuerstelle, die ein Kleinkind in ihren Armen hält. Im | |
Kommentar wird sie als seine Frau mit ihrem ersten gemeinsamen Baby | |
präsentiert. Er erscheint dabei als Haupternährer, während sie mit ein paar | |
Beeren zum Menü beiträgt. | |
Ähnlich klischeebehaftet sind oft auch archäologische Beschreibungen | |
prähistorischer Formen [1][menschlicher Gemeinschaften]. So analysierte | |
eine [2][Studie der Universität Basel aus dem Jahre 2009 (pdf-Datei),] wie | |
frühgeschichtliche Familien in archäologischen Publikationen dargestellt | |
werden: Fast immer wurden sie als biologisch verwandte Gruppe beschrieben, | |
in deren Zentrum ein heterosexuelles, monogames Paar mit seinen Kindern, | |
Eltern oder anderen Verwandten stand. | |
Auch wenn das Thema Familie in den meisten Publikationen nur am Rand | |
auftauchte, war es im Verborgenen immer präsent: in der | |
selbstverständlichen Annahme, dass das Familienmodell der Frühgeschichte | |
dem Familienideal der bürgerlichen Gesellschaft entspricht. | |
Die Schweizer Forscher nannten diese Formation die „archäologische | |
Familie“, weil die Darstellung nicht so sehr auf Forschungsergebnissen | |
basierte, sondern das Ergebnis der Rückprojektion der bürgerlichen | |
Kleinfamilie des 19. Jahrhunderts in die Vergangenheit war. Dies hat bis | |
heute zu einer Randständigkeit der Geschlechterforschung in den Curricula | |
der Altertumswissenschaften geführt. Denn wo Geschlechterverhältnisse | |
stillschweigend als bekannt vorausgesetzt werden, gibt es auch keinen | |
Forschungsbedarf. | |
Anderseits haben sich durch die Fortschritte der Prähistorischen | |
Anthropologie, insbesondere der Molekulargenetik, in den letzten 20 Jahren | |
geschlechtsspezifische Zuschreibungen aufgelöst. In manchem Kriegergrab | |
wurde eine Kriegerin gefunden, Keltenfürsten entpuppten sich als Fürstinnen | |
und auch ganz ohne DNA-Analyse hat ein geschlechterpolitisch geschärfter | |
Blick manch frühes Epos nachträglich als Werk einer Autorin enttarnt. | |
## Dürftige Quellenlage | |
Weder für das [3][Jäger-Sammlerinnen-Modell] noch für spezifische Formen | |
des Zusammenlebens lassen sich in den 2,5 Millionen Jahren Altsteinzeit und | |
der anschließenden Jungsteinzeit jedoch eindeutige archäologische Befunde | |
finden. Für die Urgeschichte ist die Quellenlage besonders dürftig. Die | |
Skelettfunde sind meistens unvollständig und lassen aufgrund des Alters | |
keine Geschlechtsbestimmung zu. | |
Auch materielle Artefakte sagen letzten Endes wenig über das Geschlecht | |
ihrer Benutzer*innen aus. Niemand kann mit Sicherheit wissen, ob ein Mann | |
oder eine Frau ein Beil oder einen Faustkeil in den Händen hielt. Frühe | |
Menschen könnten also eine Vielzahl von Tätigkeiten ausgeführt und in den | |
unterschiedlichsten Beziehungs- und Gemeinschaftsformen gelebt haben. | |
Zwar lassen sich etwa ab dem 27. Jahrhundert vor unserer Zeit in Europa und | |
Westasien biologische Kernfamilien nachweisen. Ob sie jedoch dem | |
Familienmodell der bürgerlichen Moderne entsprachen, darf mit Recht | |
bezweifelt werden. „Familien“ im Vorderen Orient hatten eher die Struktur | |
einer Haushaltsgemeinschaft, in der auch Diener und Sklaven lebten. Im | |
Athen der klassischen Antike waren für die Oberschicht zwar Heirat und | |
Familie vorgesehen, dienten aber vor allem der Besitzerhaltung und | |
familiären Reproduktion. Romantik, Sex und Leidenschaft wurden von den | |
männlichen Athenern jedoch im Einklang mit den gesellschaftlichen Normen in | |
der Knabenliebe und im Umgang mit Hetären ausgelebt. | |
## Nur eine Fiktion | |
Es ist also keinesfalls die empirische Evidenz, die für das | |
Jäger-Sammlerinnen-Modell und das damit verbundene Familienbild spricht. | |
Dass es trotzdem als der Prototyp für die Geschlechterorganisation früher | |
Gesellschaften gilt, hat andere Gründe. Es ist nicht zuletzt deshalb so | |
beliebt, weil es angesichts immer unübersichtlicher werdender Beziehungs-, | |
Geschlechter- und Familienformen die Fiktion eines unveränderbaren Ur- und | |
Naturzustandes birgt. | |
Gegen die mit dem gesellschaftlichen Wandel einhergehenden Verunsicherungen | |
werden, wie die Basler Archäologieprofessorin Brigitte Röder feststellt, | |
Jäger und Sammlerin mit ihren gemeinsamen Kindern zu Projektionen eines | |
„Traumpaars“, das mit dem „Blick zurück in die Vergangenheit Orientierung | |
und festen Boden unter den Füßen verschafft.“ | |
Gleichzeitig werden damit auch die traditionellen Geschlechterrollen | |
legitimiert. Wie Julia Katharina Koch vom Institut für Ur- und | |
Frühgeschichte der Uni Kiel nachweist, hatte bereits die beginnende | |
archäologische Forschung im 19. Jahrhundert die Frauenbewegung mit dem | |
Verweis auf naturgegebene, immer schon bestehende Geschlechterrollen zu | |
desavouieren versucht. So hatte zum Beispiel [4][Gustaf Kossinna], der die | |
erste Professur für prähistorische Archäologie an der Universität Berlin | |
innehielt, als Antwort auf weibliche Gleichheitsbestrebungen „streng | |
getrennte Wirkungskreise für Mann und Frau in der Vorgeschichte “ | |
postuliert. | |
Kossinna war nicht nur Antifeminist, sondern auch Antisemit und | |
Propagandist völkischer Ideen. Sein Hauptforschungsinteresse galt dem | |
Germanenkult und dem Nachweis der Überlegenheit der „Weißen Rasse“. Dass | |
die Kombination von Rassismus und Antifeminismus auch heute noch | |
funktioniert, lässt sich an den Programmen rechter Parteien ablesen. Ihr | |
Geschäftsmodell ist die Bezugnahme aufs Primordiale als eines | |
unveränderbaren Urzustands, den sie gegen die Zumutungen der Moderne in | |
Anschlag bringen. Ähnlich der Vorstellung eines immer schon bestehenden | |
nationalen Kollektivs ist auch die Fiktion eines seit Urzeiten | |
existierenden und deshalb natürlichen Geschlechterantagonismus für die | |
politische Rechte konstitutiv. | |
## Konstruiertes Geschlecht | |
Durch die von den Schriften [5][Judith Butlers] ausgelöste Diskussion, die | |
nicht nur das soziale, sondern auch das biologische Geschlecht als | |
konstruiert begreift und die Zweigeschlechtlichkeit in Frage stellt, fühlen | |
sich neurechte Strömungen daher aufs Äußerste bedroht. Sie werden als | |
Angriff auf die natürliche Geschlechterordnung verstanden und als | |
„Genderwahn“ diskreditiert. | |
Zum Glück können Archäologie und Prähistorische Anthropologie zur | |
Destruktion solcher Geschlechterbilder beitragen. Obwohl im akademischen | |
Diskurs oft vergessen oder ignoriert, verfügen sie über einen Fundus an | |
Wissen, das traditionelle Geschlechtervorstellungen konterkariert. Man kann | |
– um nur ein paar Beispiele zu nennen – in der Ur- und Frühgeschichte | |
Bogenschützinnen und Kriegerinnen, Männer am Webstuhl und Frauen im | |
Bergwerk finden.Es gab neolithische Siedlungen, die | |
Verwandtschaftsverhältnisse komplett ignorierten, und Frauengemeinschaften, | |
die über großen Reichtum verfügten. Man kann Zeugnisse von Menschen | |
entdecken, die nicht in ihrem Geburtsgeschlecht lebten und homosexuelle | |
Paare, die die Zeichen ihrer Zuneigung für ewig in ihren Grabkammern | |
festhielten. | |
Dieses Wissen zu bergen und an die Öffentlichkeit zu bringen ist angesichts | |
regressiver gesellschaftlicher Diskurse auch eine politische Notwendigkeit. | |
10 Jan 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Studie-ueber-Geschichte-der-Sexualitaet/!5366164 | |
[2] https://edoc.unibas.ch/20944/1/20150203175000_54d0fc383c299.pdf | |
[3] /Archaeologischer-Fund/!5726273 | |
[4] https://de.wikipedia.org/wiki/Gustaf_Kossinna | |
[5] /30-Jahre-Judith-Butlers-Gender-Trouble/!5664165 | |
## AUTOREN | |
Dagmar Schediwy | |
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