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# taz.de -- Familien in der Jungsteinzeit: Das Rätsel von Çatalhöyük
> In dem anatolischen Dorf prägten vor 8.000 Jahren nicht die
> verwandtschaftlichen Beziehungen den Alltag. Gab es dort eine egalitäre
> Gemeinschaft?
Bild: Ausgrabungen in der zum Unesco-Welterbe gehörende Siedlung Catalhöyük
Çatalhöyük in Südanatolien gilt als einer der ältesten dauerhaft
besiedelten Orte der Welt. Es wird auf die Zeit zwischen 7.400 und 5.600
vor Christus datiert und beherbergte bis zu 8.000 Einwohner*innen. Als die
Siedlung in den 50er Jahren von dem britischen Archäologen James Mellart
entdeckt wurde, interpretierte er die dort gefundenen Frauenfiguren als
Muttergottheiten und sah sie als Beweis für ein Matriarchat.
Heute geht man davon aus, dass [1][Çatalhöyük] weniger eine matriarchale
Gesellschaft war, sondern eine, in der eine weitgehende
Geschlechtergleichheit herrschte. Männer und Frauen aßen das Gleiche und
verrichteten ähnliche Tätigkeiten. Auch die Ausstattung der Gräber war
identisch. Gleichheit galt aber nicht nur zwischen den Geschlechtern,
sondern war generell das Leitmotiv. Es gab weder Tempel noch Paläste. Auch
andere Sondergebäude sind unbekannt. [2][Ian Hodder,] der langjährige
Ausgrabungsleiter der Siedlung, hat Çatalhöyük daher eine „radikal
egalitäre Gemeinschaft“ genannt.
Die im Pueblostil aneinandergebauten Lehmhäuser des Orts wurden über eine
Leiter auf dem Dach betreten. Es gab einen Herd, Schilfmatten auf den Böden
und mehrere Plattformen, die den Raum aufteilten. Unter diesen Plattformen
bestatteten die Bewohner*innen auch ihre Toten. Die Archäolog*innen
gingen davon aus, dass in den Häusern Familien wohnten, die dort ihre
biologisch nächsten Angehörigen begruben.
Das nachzuweisen war allerdings schwierig. Denn die sterblichen Überreste
der Bewohner*innen waren zu alt, um eine DNA-Analyse durchzuführen.
Schließlich beauftragten sie die junge [3][US-Anthropologin Marin A.
Pilloud] damit, die genetische Zusammensetzung der Bevölkerung zu
untersuchen. Ihr Spezialgebiet ist die Biodistanzanalyse, bei der mittels
eines Vergleichs der Zahnmorphologie Rückschlüsse auf biologische
Verwandtschaftsverhältnisse gezogen werden. Zähne sind deshalb für eine
solche Analyse geeignet, weil genetisch verwandte Personen Zähne ähnlicher
Form und Größe haben.
Pilloud untersuchte die Gebisse von 266 Skeletten, die aus allen
Ausgrabungsperioden und Siedlungsebenen des der Jungsteinzeit zugerechneten
Osthügels stammten. [4][2011 publizierte sie eine Zusammenfassung ihrer
Ergebnisse] gemeinsam mit ihrem Kollegen Clark Spencer Larsen in der
Zeitschrift American Journal of Physical Anthropology.
## Zwei Hypothesen
Dabei stützte sie sich auf zwei ihrer Hypothesen. Die erste Hypothese
lautete: „Personen, die zusammen in einem Haus bestattet wurden,
repräsentieren eine biologisch bestimmte Verwandtschaftsgruppe.“ Die zweite
These hieß: „Haushalte innerhalb einer Nachbarschaft bestehen aus
Großfamilien.“
Um die erste Hypothese zu testen, suchte sie nach Gemeinsamkeiten in der
morphologischen Struktur der Gebisse von Kindern und Erwachsenen, die im
selben Haus begraben waren. Zur Prüfung der zweiten Hypothese untersuchte
sie die Gebisse von Personen, die in nebeneinanderstehenden Häusern
wohnten.
Beide Hypothesen erwiesen sich als falsch. Es gab keinen wissenschaftlichen
Nachweis dafür, dass Personen, die im selben Haus beerdigt wurden, einer
biologischen Familie angehörten. Sogar in Häusern mit einer hohen Anzahl
von Bestattungen, von den Archäolog*innen „Geschichtshäuser“ genannt,
fand man keine Anzeichen von Blutsverwandtschaft. Nur in einer kleinen,
statistisch nicht signifikanten Gruppe von Gebäuden wurden Spuren einer
gemeinsamen Abstammung entdeckt.
Das Gleiche galt auch für Häuser, die in unmittelbarer Nachbarschaft
zueinander standen. Die Skelette, deren Gebisse die höchste genetische
Ähnlichkeit aufwiesen, waren über die gesamte Siedlung verteilt.
Die Untersuchungsergebnisse lassen darauf schließen, dass für die Menschen
in Çatalhöyük die genetische Abstammung für den Ort ihrer Bestattung keine
oder nur eine minimale Rolle spielte. Wenn die Skelette unter den Häusern
mit denen ihrer Bewohner*innen identisch sind – wofür eine
Übereinstimmung in der Ernährung spricht – war Çatalhöyük eine
Gemeinschaft, die nicht auf biologischen Verwandtschaftsverhältnissen
beruhte.
Pilloud und Spencer waren sehr vorsichtig damit, ihre Ergebnisse zu
generalisieren. Inzwischen ist aber eine neue Studie erschienen, die ihre
Befunde bestätigt. Dabei haben Wissenschaftler*innen die
mitochondriale DNA der Bewohner*innen untersucht. Sie ist stabiler als
die Kern-DNA, wird aber nur über die mütterliche Linie vererbt. In den
analysierten Genproben wurden jedoch keine Anzeichen der Verwandtschaft
zwischen Frauen und Kindern innerhalb eines Hauses entdeckt.
## Andere Vorstellung von Verwandtschaft
Wie lassen sich diese [5][Forschungsergebnisse interpretieren?] Pilloud und
Larsen glauben, daß die Bewohner*innen von Çatalhöyük eine Vorstellung
von Verwandtschaft hatten, die über biologische Wurzeln hinausging. Sie
nennen diese eher fluide Art der Verwandtschaft mit Bezug auf Begriffe des
französischen Soziologen [6][Pierre Bourdieu] „practical kin“ oder „kin …
action“. Eine solche soziale Verwandtschaft könnte auf gesellschaftlichen,
kulturellen oder ökonomischen Gemeinsamkeiten beruht haben.
Ganz ähnlich argumentiert Ian Hodder. Er nimmt an, dass die Zugehörigkeit
zu einem Haus auf dem Miteigentum an Ressourcen wie Ackerland oder
Wasserquellen beruhte, die gemeinsam bewirtschaftet wurden. Stand also am
Anfang die Genossenschaft?
Eine dritte Interpretation kommt von der [7][Anthropologin Barbara J. Mills
von der Universität Arizona]. Anknüpfend an ihre Forschung zu
nordamerikanischen Indianerstämmen sieht sie in der Bestattungspraxis
Çatalhöyüks religiöse Sodalitäten am Werk. In den Pueblosiedlungen des
amerikanischen Südwestens spielen solche Netzwerke eine Schlüsselrolle. So
sind zum Beispiel bei den [8][Zuñi] soziale Beziehungen wesentlich durch
die Zughörigkeit zu Medizin-, Heil oder Jagdgesellschaften definiert.
Kinder haben dort neben ihren leiblichen Eltern, „Zeremonien-Eltern“
außerhalb ihres Clans.
Solche alternativen Konzepte von Elternschaft könnten auch erklären, wie in
Çatalhöyük die Trennung der Kinder von ihren Müttern und die soziale
Einbettung in eine Hausgemeinschaft gelang. Möglicherweise wollten die
Bewohner*innen aber auch durch die Trennung von Blutsverwandten
Clanstrukturen verhindern, die ihre egalitäre Gesellschaft zerstört hätten.
Sicher ist: Es wird noch einiges an Forschung brauchen, bis das Rätsel der
Gräber von Çatalhöyük gelöst werden kann.
21 Feb 2021
## LINKS
[1] http://www.catalhoyuk.com/
[2] http://www.ian-hodder.com/
[3] https://www.unr.edu/anthropology/people/marin-pilloud
[4] https://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1002/ajpa.21520
[5] /Familienmodell-der-Fruehgeschichte/!5738409
[6] /Pierre-Bourdieus-90-Geburtstag/!5697549
[7] https://anthropology.arizona.edu/user/barbara-mills
[8] https://de.wikipedia.org/wiki/Zu%C3%B1i_(Volk)
## AUTOREN
Dagmar Schediwy
## TAGS
Archäologie
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