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# taz.de -- Recherche über brasilianische Musikerin: Schwieriges zweites Leben
> Eine fantastische Musikerin, ein großartiges, gewagtes Album – dann
> nichts mehr. Was wurde aus der Sängerin und Komponistin Tuca?
Bild: Aus ihr hätte eine wirklich Große werden können: Musikerin Tuca
Den meisten Vertretern ihrer Art wird man nicht auf die Spur kommen:
künstlerische Talente, die sich in die Strukturen zu vermarktender
Kunstproduktion nicht einzufügen vermochten. Die sich am Ende nicht
äußerten oder nur in verstümmelter Form, die sich früh zurückzogen, früh
starben, die für Sensationen gut gewesen wären, wenn die Kulturindustrie
sie gelassen hätte.
Es gibt solche Fälle nicht nur im Bereich der Musik in großer Zahl – aber
es ist schon klar, dass ein Mechanismus, der größte Massenkompatibilität
entlohnt und fordert, nicht gerade geeignet ist, komplexe künstlerische
Werke hervorzubringen.
Aber es gibt ja jetzt die Wiederveröffentlichungskultur. In ihr finden
genau solche Künstlerpersönlichkeiten gerne ein zweites Leben. Ist eine
Musik nur irre genug, sind es die Lebensgeschichten der Beteiligten, die
Umstände der Produktion und die Gestaltung der Objekte, ist die globale
Cratediggers-Gemeinde gerne bereit, in die Knie zu gehen und sich von viel
Geld zu trennen.
Mitunter gehen die Narrative allerdings dermaßen durch die Decke, dass man
versucht ist, Fake News zu vermuten. Tuca und ihr Album „Drácula I Love
You“ ist so ein Fall.
Es beginnt damit, dass das jetzt kursierende Re-Release nicht etwa in den
Werkhallen bewährter Manufakturen wie [1][Light In The Attic] gefertigt
wird, sondern offensichtlich ein Bootleg ist – ein Bootleg mit Liebe, mit
einem teuren Klappcover. Was ist das für ein Album, das eine solche
Fan-Initiative auslöst? Tatsächlich eines der großartigsten,
ungewöhnlichsten und reichhaltigsten des an Qualitätsmusik satten
Brasiliens der 1970er.
## Daumenschrauben der Diktatur
Wer ist die Künstlerin? Tuca, geboren 1944 als Valeniza Zagni da Silva in
São Paulo, Sängerin, Gitarristin, Komponistin, hatte in den 1960er Jahren
ein paar Momente an der Peripherie der [2][Bossa Nova,] trat bei einigen
der so populären Songfestivals in Erscheinung, gewann auch mal, schien auf
dem Sprung. Zwei Alben, 1965 bzw. 1968 veröffentlicht, brachten jedoch
keinen Karrierefortschritt.
1968 zog die Militärdiktatur die Daumenschrauben an, machte das Leben und
die Kunstproduktion für freie Geister zunehmend schwierig, und die offen
lesbische Tuca zog es vor, in Europa ihr Glück zu suchen.
Sie reiste durch Italien und Spanien und landete schließlich in Paris, wo
sie 1970 für das Bossa-Nova-Rückschau-Album „Dez anos depois“ der ebenfal…
in Paris gestrandeten einstigen „Muse der Bossa Nova“ Nara Leão arrangierte
und Gitarre spielte. Das große Los schien sie gezogen zu haben, als
Superstar Françoise Hardy sie im [3][Quartier Latin] spielen hörte und
einlud, an ihrem nächsten Album mitzuarbeiten.
## Kompositionen für Françoise Hardy
Das resultierende Werk „La question“, das Tuca größtenteils komponiert und
arrangiert hatte, zählt heute nicht nur bei Hardy-Fans als großer Wurf und
Start in den zweiten, erwachsenen Teil ihrer Karriere. Leider verkaufte
sich dieses zarte, introspektiv-melancholische Werk in Frankreich
seinerzeit so schlecht, dass die Zusammenarbeit abgebrochen wurde.
Aber in Brasilien lief es gut, und vielleicht erwuchs daraus bei Tuca der
Mut, das Wagnis „Drácula I Love You“ einzugehen: eine durchgedrehte
Hochgeschwindigkeitsreise durch etliche Stile, Techniken und Traditionen,
kurze Stücke, deren Charakteristik sich immer wieder wandelt,
Batucada-Beats, funky Beats, kurze Orchestereinwürfe, ungewöhnliche
Harmonien, hyperaktiver Scat-Gesang, leidenschaftliche Balladen, höchste,
fiebrige Intensität, Musik, die sofort anzieht, der man aber Zeit geben
muss, um wirklich zu verstehen, was da los ist. Was war mit Tuca passiert?
Anruf in Genf bei David Hadzis, Toningenieur, Studiobetreiber – und
Tuca-Experte. Er arbeitet für eine Non-Profit-Organisation namens United
Music Foundation, die sich anspruchsvollen Archivprojekten verschrieben
hat.
## Ein vergessenes Tonband
„Ich war in Rio de Janeiro mit einer Plattenladenbetreiberin über Tucas
Musik ins Gespräch gekommen und sie erzählte mir, dass es ein Album von ihr
gibt, das ‚Drácula I Love You‘ heißt. Kurz darauf arbeiteten wir mit einem
Musikverlag in Paris zusammen und ich bekam Zugang zu dessen Archiv. Dort
stolperte ich über ein Band mit der Aufschrift ‚Mario & Tuca‘ und ahnte
sofort, worum es sich handelte.“
Hadzis nahm das Tape mit, und der Foundation gefiel es so gut, dass man
sich entschloss, daraus ein Projekt zu machen. „Bevor wir das jedoch
ernsthaft beginnen konnten, erschien dieser Bootleg und wir legten das
Projekt erst mal auf Eis“, erzählt Hadzis genervt. „Das ist insofern so
schade, weil auf dem Tape, das ich gefunden habe, ein komplett anderer Mix
des Albums ist. Ich fand heraus, dass dies der Originalmix war.
Er ist viel, viel besser, viel kraftvoller und viel weniger MPB, Schlagzeug
und Percussions sind weiter im Vordergrund, und es gibt eine ganze Reihe
gewagter psychedelischer Effekte. Auch die Reihenfolge ist eine andere. Das
Ganze ist ja ein Konzeptalbum und der Titelsong sollte das große Finale
sein. Auf der brasilianischen Veröffentlichung ist er stattdessen der erste
Song auf der B-Seite. Dieses Konzept hatte sich Tucas Freundin, die
Künstlerin Jeanette Priolli ausgedacht, die auch vier Songtexte beisteuerte
und das Originalcover gestaltete.“
## Das zensierte Cover
Dieses Cover wurde jedoch von der brasilianischen Zensur kassiert und fand
beim Bootleg-Re-Release zum ersten Mal Verwendung. „Besonders schade ist,
dass die wichtige Rolle Mário de Castros völlig übersehen wurde. Er war ein
brasilianischer Musiker, der ebenfalls in Paris lebte. Tuca hatte seinen
Song ‚Verde‘ für ihr 1968er-Album aufgenommen. Eine Weile performten sie in
brasilianischen Clubs im Quartier Latin und wohnten sogar zusammen.
Sie realisierten dann unter anderem im legendären
Château-d’Hérouville-Studio, wo schon die Rolling Stones aufgenommen haben,
zusammen das ‚Dracula‘-Projekt, aber das brasilianische Label fand, dass er
nicht bekannt genug sei. Tuca hatte ja immerhin schon Alben veröffentlicht
und war bei den Songfestivals der 1960er dabei gewesen.
Also wurde es zu einem Tuca-Album ‚featuring Mário de Castro‘, was ihm
natürlich nicht gefiel und seitdem redeten er und Tuca nicht mehr
miteinander. Aber auf dem Album singen beide und beide haben komponiert und
arrangiert. Mários musikalische Begabung war außerordentlich. Tucas war
auch außerordentlich. Beide zusammen – unfasslich.“
## Künstlerische Tragödien
Mário de Castro hinterließ abseits seiner Zusammenarbeit mit Tuca kaum
Spuren. Ein Künstler mit dieser Kreativität, diesen Fähigkeiten – und keine
weiteren Veröffentlichungen? Eine weitere künstlerische Tragödie? „Ich
verrate Ihnen das Geheimnis“, sagt Hadzis. „Mário war später ziemlich
erfolgreich in Brasilien, aber unter einem anderen Namen. Er nannte sich
Rex Taylor und sang auf Englisch. 1975 hatte er einen Riesenhit mit dem
Song ‚Valerie‘. Ich habe ihn vor vier Jahren getroffen, noch bevor er
schwer erkrankte, und er gab mir seine Tapes, die wir jetzt mit der
Foundation digitalisieren.“
Tuca zog zur Albumveröffentlichung zurück nach Brasilien, wo sie 1978 an
einem Herzanfall starb, als sie eine neuartige Diät ausprobierte. Nach
„Dracula“ veröffentlichte sie nur noch einen Song (für einen
Telenovela-Soundtrack). „Sie lebte in Rio mit ihrer Mutter und Jeanette
Priolli“, erzählt Hadzis. „Ich hörte, dass sie an einem Musical arbeitete,
aber ich weiß nichts Genaues. Sie war in Brasilien nicht unbekannt, wenn
auch nie ein Star, aber sie trat wahrscheinlich hin und wieder auf.“
## Die Familie will nicht reden
Für sein geplantes Tuca-Projekt hatte David Hadzis ausführlich
recherchiert: „Ich kontaktierte den Rechteinhaber, einen Franzosen, den ich
nicht nennen möchte, ich kontaktierte die Labels, die die Verlagsrechte
besitzen, ich kontaktierte Marios Familie und ich kontaktierte Tucas
Familie. Und hier wird es seltsam: Sie wollten nicht über Tuca sprechen.
Man möchte sie doch in Frieden ruhen lassen.“
Hadzis würde gerne noch mal an „Dracula I Love You“ rangehen, „beide Mixe
von den Mastertapes mastern mit dem bestmöglichen Sound. Ich kenne sogar
den Toningenieur, der die Songs damals aufgenommen hat. Wir haben uns
zufällig kennengelernt. Und ich weiß, wer an dem Album mitgearbeitet hat.
Es ist ein extrem überraschendes Line-up, das ich jetzt nicht verraten
kann, aber das endlich seine Credits bekommen soll, wenn ich das Projekt
mit der United Music Foundation finalisieren kann.“
1 Jan 2021
## LINKS
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## AUTOREN
Detlef Diederichsen
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