| # taz.de -- Berlin feiert Weihnachten 2020: Ganz anders, ganz normal | |
| > Eigentlich wäre ja die halbe Stadt in diesen Tagen auf Reisen. Doch | |
| > diesmal bleiben viele hier. Wie feiert Berlin Weihnachten 2020? Fünf | |
| > Antworten. | |
| Bild: Berlin mit Schnee! Das Bild mit dem Titel „24. 12. 2003“ stammt a… | |
| ## Alles wie in jedem Jahr | |
| In der Geschichte „Der Tannenbaum“ von Tove Jansson erwachen die Mumins, | |
| eine Trollfamilie, aus dem Winterschlaf – ausgerechnet an Heiligabend. Von | |
| diesem Tag haben sie noch nie zuvor gehört. Und während sie beunruhigt | |
| beobachten, wie ihre Nachbarn mit Bergen von Paketen, Tannenbäumen und | |
| Einkäufen an ihnen vorbeihasten, wird ihnen klar: Eine Katastrophe bahnt | |
| sich an, sonst wären die anderen ja nicht so panisch. | |
| „Es ist Weihnachten!“, ruft ihnen jemand zu. „Seht zu, dass ihr zu einem | |
| Baum kommt, bevor es dunkel wird!“ – „Das Gefährliche kommt also, wenn es | |
| dunkel wird. Und anscheinend braucht man einen Baum, um es zu besänftigen“, | |
| schlussfolgert die Muminmutter. Sie schmücken eine Tanne im Garten, stellen | |
| Essen und Geschenke „für Weihnachten“ dazu und verschanzen sich in | |
| ängstlicher Erwartung auf der Veranda. Erst ein fremder kleiner Troll | |
| erklärt ihnen schließlich, was es mit alldem eigentlich auf sich hat. Die | |
| Muminfamilie überlässt ihm erschöpft das mühsam Vorbereitete und sieht zu, | |
| wie er mit seiner Familie einen unvergesslichen Weihnachtsabend erlebt. | |
| Die Platte mit dieser Geschichte hören wir jedes Jahr am 24. Dezember beim | |
| Tannenbaumschmücken, mein Sohn und ich, während mein Mann den Kaffeetisch | |
| deckt. | |
| Uns geht es mit Weihnachten wie der Muminfamilie: Wir wundern uns über | |
| diejenigen, die quer durchs Land fahren, obwohl sie das schon im Vorfeld | |
| stresst. Die noch kurz vor Ladenschluss hektisch Geschenke shoppen. Und die | |
| mit vollen Einkaufswagen an der Ladenkasse stehen, als gäbe es schon bald | |
| nichts mehr zu kaufen. | |
| ## Wir tun im Prinzip: nichts | |
| „Es wird ein Weihnachten unter Coronabedingungen“, sagte Angela Merkel im | |
| November. Für uns wird es hingegen ein Weihnachten wie jedes Jahr. Es sei | |
| denn, jemand wird noch krank. Von Coronabedingungen keine Spur. Wir bleiben | |
| zu Hause und tun im Prinzip: nichts. | |
| Der 24. läuft so ab: Ich backe Mohnkuchen. Dann wird der Baum geschmückt. | |
| Bei Tee und Kuchen schauen wir „Der kleine Lord“, dann drehen wir eine | |
| Runde durch den Park. Das jüngste Familienmitglied bekommt Geschenke. Es | |
| folgt das berühmte „Hirsch-ohne-Hirsch-Essen“ – seit wir Vegetarier sind, | |
| gibt es statt Hirschmedaillons mit Beilagen einfach nur noch Rotkohl, Pilze | |
| und Kroketten. Zum Nachtisch gibt es Eis und Plätzchen. An den folgenden | |
| Tagen chillen wir so vor uns hin. | |
| Und das ist doch eigentlich auch das Schöne an Weihnachten: dass die Zeit | |
| ein bisschen stillsteht. Dass die alltägliche Hektik Pause macht. Die | |
| Familie kann man auch im Sommer besuchen. Ohne Harmonieanspruch und | |
| übergroße Erwartungen. | |
| Die Muminfamilie geht nach all der Aufregung übrigens sehr erschöpft ins | |
| Bett und schläft bis zum Frühling weiter. Ich muss zugeben: Das klingt mir | |
| aktuell nach einem besonders reizvollen Plan. Gaby Coldewey | |
| ## | |
| ## Weihnachten vorverlegt | |
| Ja, auch in der taz.berlin-Redaktion wird viel darüber diskutiert, wie man | |
| denn in Pandemiezeiten Weihnachten verbringen dürfte, könnte, wöllte. „Die | |
| Politik kann mir doch nicht vorschreiben, wen ich treffe!“, sagt Kollege S. | |
| Und ist damit ganz auf der Linie, tja, Friedrich Merzens. Nichts für mich | |
| also. „Verantwortungsvoll handeln!“, sagt Kollege A. und meint damit: Das | |
| Private ist mal wieder hochpolitisch. Recht hat er, finde ich. | |
| Doch wie geht das richtig mit der Verantwortung als Ex-Single-Mom, wenn das | |
| eigene Kind gerade ausgezogen und die eigene Mutter als Single-Oma gut 500 | |
| Kilometer weit weg ist? Das sind die Alternativen: 1. Weihnachten zur | |
| Mutter fahren, damit die alte Dame nicht allein ist. 2. Nicht fahren und | |
| hier mit dem Kind und der Familie des (hö hö) künftigen Schwiegerkindes | |
| feiern. | |
| Alternative 1 bedeutet: Fahrten in Zügen, für die die Bahnwebseite schon | |
| zehn Tage vor Heiligabend eine Belegung von über der Hälfte der Sitzplätze | |
| anzeigt. Und das sind ja nur die Reisenden, die Plätze vorab gebucht haben | |
| – die anderen dürfen sich dann einfach direkt neben einen setzen. Geballte | |
| Virengefahr also für mich, vor allem aber für meine alte Mutter: Nein, das | |
| kommt nicht infrage. | |
| ## Verantwortung übernehmen! | |
| Alternative 2 also, feiern mit der (hö hö) Schwiegerfamilie? Aber auch da | |
| gibt es alte Großeltern, sogar gleich zwei, und sowieso sind das bereits | |
| zwei Haushalte. Soll ich da nun eventuell meine Viren mitbringen, quasi als | |
| Weihnachtsgeschenk? Ebenfalls: nein. Verantwortung übernehmen! | |
| Also habe ich mit meiner Mutter und einer freundlichen Kundenberaterin der | |
| Bahn Alternative 3 entwickelt: Wir haben Weihnachten einfach vorverlegt auf | |
| den 4. Advent. | |
| Was bedeutete: Mit frühen und wunderbar leeren Zügen bin ich am vergangenen | |
| Wochenende ganz ohne Gedränge auf Bahnsteigen und in den Wagen hin- und | |
| hergefahren, mit einmal fünf und einmal sieben anderen Reisenden in meinem | |
| Wagen – fast alle hatten sich dafür übrigens, wie auch ich, mit FFP2-Masken | |
| ausgestattet. Ausreichend Platz zum Abstandhalten also – wer verreist schon | |
| am 4. Advent? | |
| Fröhliche Weihnachten! Ich hatte schon, vielen Dank. Alke Wierth | |
| ## So queer wie Weihnachten selbst | |
| Verziehen sei bitte wirklich alle Regierungsangst vor Volksaufständen, weil | |
| Weihnachten nicht so kuschelig in Großfamilie gefeiert werden soll, darf | |
| oder auch müsste. Dieser süßlich drängelnde Klang, wenigstens zu | |
| Weihnachten dürfe man wie immer als Familie zusammenkommen – dass das doch | |
| tausende, ja abertausende Menschen gar nicht so beherzt wollen. | |
| Schwule Männer beispielsweise, lesbische Frauen oder Trans*Menschen: In | |
| heterosexuell scharf orientierten Familien sind wir ja nicht so erwünscht. | |
| Deutschland ist eben nicht Neuseeland und Jacina Ardern eine Politikerin | |
| von modernerem Kaliber als Angela Merkel. | |
| Die Sozialdemokratin very down under sagte, Xmas, das sei ein Fest für die | |
| engsten Angehörigen, das könnten – so verstanden das alle sehr richtig – | |
| eben auch Freund:innenkreise sein, die qua Blut nicht miteinander verwandt | |
| sind. Klaus Lederer, Berlins Klügster unter den Bürgermeister:innen, betont | |
| das auch: Familiär ist Heiligabend und an den anderen Feiertagen mehr als | |
| der scheinnatürlich heterosexuelle Clan. | |
| ## Wahrscheinlich wird es likörlustig | |
| Zu bedenken ist ja auch, dass einige und keineswegs nur exzentrische | |
| Existenzen Weihnachten gern für sich sind, einzeln, in Ruhe gelassen, dies | |
| und das tuend, auch Filme guckend. So oder so: Am Ende will und soll man | |
| sich sowieso keiner Gefahr aussetzen, und sei sie pandemischer Art nach | |
| Coronastyle. | |
| Ein queeres Fest kann so ausfallen, wie es einem Freund empfohlen wurde, | |
| der seiner Lieblingstante Anni aus dem Wendland zuprosten möchte zum 70. | |
| Geburtstag und dies nun via Zoom und mit anderen, geschätzt 40 Gästen, tun | |
| wird: Die Schwester seines Vaters, ohnehin eine Internetnerdin so schöner | |
| Rezepte wegen geworden und außerdem nie verheiratet, was inzwischen keinen | |
| Anstoß mehr erregt, sondern nur respektvolles Flüstern provoziert, freut | |
| sich jetzt umso mehr: Punkt 15 Uhr ein Prösterchen auf sie, alle werden für | |
| sie singen – und alle werden ein Stück Kuchen vor sich haben. | |
| Wahrscheinlich wird es likörlustig. | |
| So verstehen wir Weihnachten eben auch: Zoom macht alle Kontakte möglich, | |
| nur für den echten Besuch, für den ist die Gefahr zu dräuend. In enger | |
| Häuslichkeit, in öffentlichen Verkehrsmitteln oder sonst wo, wo | |
| unsichtbares Aerosoles schwebt. Und das gilt für Homos und Trans* und für | |
| Menschen, die heterosexuell veranlagt sind, sowieso auch. Weihnachten ist | |
| ein Familienfest, meist ja von religiösen Fesseln entkleidet – und das | |
| geht, modern wie wir sind, natürlich auch digital im Livestream. Wenn man | |
| oder frau will! Jan Feddersen | |
| ## Heiligabend für eine Hybridvariante entschieden | |
| Wir gehen. Wir gehen nicht. Wir gehen. Wir gehen – nicht. Gerade ist sie | |
| raus, die Abmeldung von der Christmette am Heiligabend um 22 Uhr. So | |
| einfach die Anmeldung war – gleich 0.01 Uhr nach Freischalten der Seite am | |
| 7. Dezember für 50 online zu vergebende Plätze, wie sonst bei | |
| Sportwettkämpfen –, so schwer war das Abmelden. Nicht etwa rein technisch, | |
| da war bloß ein Knopf zu drücken und das Ganze noch mal zu bestätigen. Rein | |
| gefühlsmäßig aber durchaus: Der erste Heiligabend ohne Kirchgang seit …? | |
| Keine Ahnung. | |
| Aber es geht nicht anders. Dabei haben die sich in unserer katholischen | |
| Pfarrgemeinde alle Mühe gegeben, mit verpflichtender vorheriger Anmeldung | |
| und zwei statt vier Christmetten, damit sich die Leute verteilen. | |
| Mehr Menschen als sonst unter Pandemiebedingungen dürfen auch an | |
| Weihnachten nicht in die Kirche. Und die Hygienemaßnahmen sind weitgehend | |
| unverändert, seit nach dem ersten Lockdown Gottesdienste wieder erlaubt | |
| waren: Teilnahmelisten, Händedesinfektion, Maske auch am Platz, kein | |
| Gesang, Austeilen der Hostien bei der Kommunion mit einer Zange. Und im | |
| Weihwasserbecken, für das ein Zeit-Herausgeber jetzt in einer | |
| Tagesspiegel-Kolumne vorschlug, Gummihandschuhe zu verwenden, ist längst | |
| pandemiebedingt kein Wasser mehr drin. | |
| Weihnachten aber ist anders. Weihnachten, und vor allem an Heiligabend, | |
| tauchen die U-Boote auf – jene, die das ganze Jahr nicht zur Kirche gehen, | |
| aber Heiligabend durchaus schon mal einen Platz in der ersten Reihe | |
| beanspruchen. Hat die wirklich der Hinweis erreicht, dass man ohne | |
| Anmeldung nicht in den Gottesdienst reinkommt? Machen die dann nicht | |
| enttäuscht draußen vor der Tür – oder noch schlimmer: drinnen – Rabatz? … | |
| Stile von: „Ich zahl Kirchensteuer, ich darf hier rein!“ Tragen die genauso | |
| verantwortungsvoll eine Maske wie die, die jedes Wochenende mit | |
| Mund-Nase-Schutz in den Bänken sitzen? | |
| ## Das würde keinen weihnachtlichen Spaß machen | |
| Würde das Spaß machen und unserer weihnachtlichen Stimmung zuträglich sein? | |
| Zusammenzuzucken, wenn am Eingang doch nicht alle die anderthalb Meter | |
| Abstand einhalten beim Warten, bis der eigene Name auf der Teilnehmerliste | |
| abgehakt ist? Oder aufzustöhnen, falls jemand die festgelegten Plätze | |
| ignoriert und sich noch neben uns drängen will? Handgreiflich den | |
| Ordnerkollegen mithelfen zu müssen, falls jemand ausfällig würde? Sich beim | |
| Rausgehen zu ärgern, dass draußen wieder einige munter plaudernd ohne Maske | |
| zusammen stehen? | |
| Nein, das würde keinen weihnachtlichen Spaß machen. Wir haben uns für eine | |
| Hybridvariante entschieden – so ähnlich wie jüngst beim SPD-Parteitag mit | |
| digitaler Diskussion und echtem Gang zur Abstimmung in der | |
| Kreisgeschäftsstelle. Unsere Kirche ist nämlich sowie den ganzen Tag auf. | |
| Wir werden zwischenzeitlich mal hingehen und ansonsten bei einem digitalen | |
| Gottesdienst mitmachen. | |
| Vielleicht haben wir in der Kirche Glück und sind einen Moment allein – | |
| dann können wir fix die Flöte auspacken und ohne andere zu gefährden auf | |
| die Schnelle ein „O du fröhliche“ singen. Stefan Alberti | |
| ## Geschenke auspacken geht auch auf Zoom | |
| Und“, sagt der Vater auf dem Spielplatz. „Und?“, fragt die Freundin auf d… | |
| Joggingrunde, und auch der Nachbar will im Treppenhaus wissen: „Und, wie | |
| macht ihr’s, fahrt ihr zu Weihnachten zu den Eltern?“ Ja, haben wir noch im | |
| November mit fester Stimme gesagt: Buchen wir die Züge eben frühzeitig, | |
| Maske auf, und dann Augen zu und durch das hoffentlich nicht so dichte | |
| Gewusel am Hauptbahnhof (hoffentlich sind die anderen vernünftiger als man | |
| selbst und reisen nicht!). Mal gucken, haben wir dann Anfang Dezember | |
| gesagt, und ungefragt sicherheitshalber hinterhergeschoben, dass die | |
| eigenen Eltern sooo alt ja noch nicht seien. | |
| Wir fahren dieses Jahr zu Weihnachten nicht zu meinen Eltern. Eigentlich | |
| hätten wir am zweiten Weihnachtstag unterm Tannenbaum im ostwestfälischen | |
| Hotspot sitzen wollen – die Inzidenz im Landkreis meiner Eltern war zuletzt | |
| mit weit über 200 wöchentlichen Neuinfektionen pro 100.000 EinwohnerInnen | |
| höher als in Berlin. | |
| Die Kinder haben es einigermaßen mit Fassung getragen, vielleicht auch, | |
| weil die andere Hälfte der Großeltern wie gewohnt Heiligabend unter unserem | |
| Baum in Berlin sitzen wird (die tatsächlich noch nicht zur Risikogruppe | |
| gehören und sowieso ständig auf die Kinder aufpassen). Kinder sind kleine, | |
| aber überzeugte Traditionalisten. | |
| Dieses Lavieren, fährt man jetzt oder fährt man nicht, das war schon ganz | |
| schön ermüdend in den letzten Wochen. Diese blöde moralische Zwickmühle, in | |
| der man da steckt und wo sich einer beim anderen beim Smalltalk Bestätigung | |
| für diese (Fahren!) oder die andere (nicht Fahren!) Position einholen | |
| wollte. | |
| ## Wie verflixt schwer … | |
| Dieses Einerseits-Andererseits: Einerseits gehören die eigenen Eltern nun | |
| mal zur Risikogruppe, das Alter, die Vorerkrankung der Mutter. Andererseits | |
| – sie würden sich doch so freuen, die Kinder zu sehen. Haben sie doch | |
| selbst gesagt, oder nicht? Und müssten nicht eigentlich die Eltern unseren | |
| Besuch canceln, fragt die Schwester, auf meine Bestätigung hoffend, am | |
| Telefon? „Wenn sie das Risiko tragen wollen, wäre es dann nicht in Ordnung | |
| …?“ | |
| Hmm, sage ich, und denke, wie verflixt schwer es ist, gerade zu Weihnachten | |
| alle zu enttäuschen und trotzdem das zu machen, von dem man glaubt, es wäre | |
| jetzt das Richtige. Meine Schwester knobelt dann noch einige Tage lang an | |
| einem Plan mit freiwilliger Selbstquarantäne und Schnelltest-Regime – die | |
| technische Herangehensweise, um sich dem moralischen Dilemma zu entziehen, | |
| die auch im Freundeskreis recht viele AnhängerInnen gefunden hat: Fahren, | |
| ja aber. | |
| Wir treffen uns jetzt mit meiner Familie am zweiten Weihnachtstag zum | |
| gemeinsamen Geschenkeauspacken auf Zoom. Ich weiß nicht, ob ich mich auf | |
| dieses Weihnachten freue, aber zumindest wird es in Erinnerung bleiben, und | |
| das ist ja schon mal etwas. Anna Klöpper | |
| 24 Dec 2020 | |
| ## AUTOREN | |
| Gaby Coldewey | |
| Alke Wierth | |
| Jan Feddersen | |
| Stefan Alberti | |
| Anna Klöpper | |
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